Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

EUROPA/771: Die Situation der Landwirtschaft in Martinique (Archipel)


Archipel Nr. 176 - Zeitung des Europäischen BürgerInnenforums - November 2009

MARTINIQUE
Das Fest der Bauern in Prêcheur

Von Sylvie Seguin (EBF - Frankreich)


Auf der Insel der kleinen Antillen fand Ende Mai im Rahmen eines Festes für die Landwirtschaft ein Forum mit dem Thema "Biodiversität und Alternativen zur intensiven Landwirtschaft" statt. Die Europäische Kooperative Longo Mai und der Verein Kokopelli waren dazu eingeladen. Der Bürgermeister und seine Unterstützer bemühen sich seit ihrer Wahl 2008, die Situation der Landwirtschaft in ihrer Gemeinde zu verbessern.


Die kleine Stadt Prêcheur mit ihren 2000 Einwohnern liegt im Norden der Insel am karibischen Meer, 30 km von der regionalen Hauptstadt und dem Sitz des Departements Fort-de-France entfernt. Sie lebt vorwiegend von Kleinfischerei und Landwirtschaft die Hauptstrasse der Insel endet kurz nach Prêcheur in einer Sackgasse.

Um die Bedeutung dieser Veranstaltung zu verstehen, muss man über die Situation der Landwirtschaft auf dieser Insel reden, aber auch über den sozialen und historischen Hintergrund. Dieses kleine Stück Frankreich (mit der anderen französischen Insel, Guadeloupe) liegt mitten im Archipel der Karibik(1). Da es sich um ein französisches Überseedepartement handelt, verfügt es, was Verwaltung und Politik betrifft, über alle politischen und administrativen Vorrechte: Gemeinde-, Departements-, Regional-, National- und Europawahlen. Hier gibt es die französische Post, französische Supermärkte, Polizei und Armee usf., also alle französischen 'Strukturen. Aber die Geschichte hat Spuren hinterlassen, die auch heute noch sichtbar sind...


Kurzer geschichtlicher Abriss

Die von karibischen Indianern bewohnte Insel wurde 1635 vom ehemaligen Freibeuter Esnambuc im Auftrag der französischen Ostindienkompanie kolonisiert. Einer ihrer Hauptaktionäre war der Kardinal Richelieu. Die ersten französischen Kolonisten bauten mit Hilfe einiger afrikanischen Sklaven Tabak an. 1645 landeten holländisch-jüdische Ansiedler, die von Portugiesen aus der brasilianischen Region Nordeste vertrieben worden waren, in Martinique. Sie brachten das Geheimnis des Zuckerrohranbaus mit. 1658 brach mit den karibischen Bewohnern, die ursprünglich aus dem Norden Venezuelas stammten, ein blutiger Krieg aus. Er endete mit der völligen Ausrottung der einheimischen Bevölkerung. Eine weit verbreitete Legende erzählt, dass diese nie in den Pflanzungen arbeiten wollte und sich ins Meer warf, um der Sklaverei zu entgehen. Ein Monument im Norden der Insel erinnert an dieses Ereignis.

Der Zuckerrohranbau ersetzte die Tabakproduktion in den Antillen und machte im 17. Jahrhundert den Reichtum der Insel aus. Mit den ersten Destillationsmethoden von Rohrzuckersaft begann die Ära des Alkohols. In Martinique entstanden die ersten Zuckerfabriken, finanziert von Händlern der verschiedenen französischen Häfen. Sehr schnell stellten sie fest, dass zu wenige Arbeitskräfte vorhanden waren, um die Zuckerherstellung auszubauen. Geschäftsleute und Kapitäne von Handelsschiffen setzten sich also für die Einführung von Sklaven ein. Der Sklavenhandel wurde zuerst von den Holländern betrieben. Anschließend übernahmen die Franzosen mit der Kompanie von Senegal das Geschäft. Für jeden auf die Insel gebrachten Sklaven erhielt sie Prämien vom französischen König Ludwig XIV. Die Insel Gorée in der Nähe von Dakar diente als Stützpunkt für die Verschiffung der Sklaven, der von Le Havre und La Rochelle ausging. Sklavenhändler entlang der Küste von Senegal und Nigeria wurden als Entgelt für Sklaven mit Ramsch abgefertigt. 1685 veröffentlichte Colbert, Minister unter Ludwig XIV., den sogenannten "Code Noir"(2), ein Dekret mit Instruktionen für den Umgang mit Sklaven in den Kolonien. Von 1685 bis 1715 entstand eine Vielzahl von Zuckerfabriken. Man benötigte zwei bis drei Sklaven für einen Hektar Zuckerrohr. Auf Martinique lebten mehr Sklaven als Siedler. Dieses System stieß auf viele Probleme: Widerstand der Sklaven und Ausbruch von Revolten, Vergiftungen, Selbstmorde und auch die Tatsache, dass anfangs nur wenig Frauen eingeschleppt wurden, und so eine natürliche Bevölkerungsentwicklung nicht gewährleistet war. So brachten die Händler in der Folge vermehrt Frauen und Kinder auf die Insel.

Von 1787-1788 diente Martinique als Stützpunkt für die Versorgung mit Waffen der amerikanischen Aufständischen gegen die Engländer. 1789-1790 versuchten die Engländer, die Insel zu besetzen. Rochambeau, der während der französischen Revolution zum Gouverneur ernannt wurde, mobilisierte Milizen mit Sklaven, denen er die Freiheit versprach. Zu diesem Zeitpunkt war es unmöglich, Zucker ins revolutionäre Frankreich zu transportieren, noch andere Lebensmittel zu importieren. Die Sklaven mussten sich selbst um ihre Nahrung kümmern. Der Einfluss der Sklavenhalter verringerte sich (3). Dank dem Druck der Gesellschaft der Freunde der Schwarzen und Humanisten wie Abbé Gregoire, proklamierte die Konvention 1793 die Abschaffung der Sklaverei (4). Im Gegensatz zu Guadeloupe erkannte Martinique die Abschaffung nicht an. Die Insel wurde im März 1794 den Engländern vermacht, die Republikaner wurden deportiert.(5)

1814 entschied die Mehrheit der Weißen, dass nur ein sozial ungleiches System, das die Gewaltentrennung missachtet und die Demokratie abschafft, ein Überleben der Kolonie ermöglichte. Sie erreichten die provisorische Wiederherstellung des "Ancien Régime". Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation im Zusammenhang mit der Besteuerung des Zuckers beim Export nach Frankreich im Jahre 1823 schürte die Unzufriedenheit der Bevölkerung. Überall brachen Revolten aus. Brutale Repression und Massendeportationen waren die Antwort. Ab 1830 hatten die "Freien" Zugang zu allen Arbeitsstellen und erhielten das aktive und passive Wahlrecht. Die Gleichheit blieb trotzdem beschränkt. Die Verbesserung der Situation der Sklaven war verbunden mit einem Bevölkerungszuwachs, der den Stopp des Sklavenhandels von 1815 aufwog. 1845 entstand die erste wirkliche Fabrik. Dies führte zu neuen Kräfteverhältnissen. Die Anwohner wurden zu Zuckerrohrlieferanten degradiert. Im Gegenzug brauchten sie keine Nachtarbeit mehr zu leisten, und ihr Einkommen vergrößerte sich. Das Bedürfnis nach Arbeitskräften, die die Fabriken nur finden konnten, wenn jeder freiwillig seine Arbeitskraft anbot, beschleunigte den Übergang vom Sklaven zum Lohnarbeiter.

Im Februar 1848 wurde die Revolution mit Erleichterung begrüßt. Das Dekret zur Emanzipation wurde am 27. April in Paris unterzeichnet. Es wurde allerdings erst am 3. Juni bekannt gemacht. Betriebe streikten und verlangten Haus, Garten und Lohn als Attribute der Freiheit. Am 22. Mai weiteten sich die Unruhen aus: Die sofortige Emanzipation wurde gefordert. Am 23. Mai fiel in Martinique die Entscheidung, die Sklaverei abzuschaffen. Die Einwohner verkündeten stolz, dass sie nun ihre eigenen Herren seien. Die "Neger sprengten ihre Ketten" - "Nèg pété chenn". Die großen Zuckerrohrplantagen waren mit einem Schlag menschenleer. Die wenigen "Freigewordenen", die blieben, arbeiteten nun für einen Lohn. Für die Kolonisten war die Situation verheerend. Nach sechzig Jahren Unruhen (Revolution, Krieg gegen England, ökonomische Blockade) war die Insel Martinique ruiniert. Und ein neuer, lange verachteter Feind machte erbarmungslos Konkurrenz: die Zuckerrübe. Anfang des Jahrhunderts entwickelte sich die Herstellung von Zucker mit Zuckerrüben. Die industrielle Verarbeitung breitete sich sehr schnell aus. 1848 war sie dem Rohrzucker in der produzierten Menge bereits ebenbürtig. Die Zuckerrohrbauern ruhten sich zu sehr auf ihren steuerlichen Privilegien und den riesigen Gewinnen aus, die sie durch überhöhte Preise einheimsen konnten. Jetzt sahen sie sich plötzlich gezwungen, billiger zu produzieren, um der Konkurrenz mit der Zuckerrübe stand zu halten. Sie änderten weder ihre Produktionsmethoden, noch wollten sie in die Mechanisierung investieren, sondern sie suchten noch billigere Arbeitskräfte als die ehemaligen Sklaven. Nach intensiver Lobbyarbeit mit dem Staat organisierten sie neue Einwanderungsströme, diesmal freie Menschen, die sie für fünf Jahre verpflichteten, vorwiegend aus afrikanischen Küstenländern und Indien. Nach ersten Versuchen, Afrikaner dafür zu gewinnen und den daraus provozierten Skandalen, wandten sich die Kolonisten an das französische Indochina und englische Indien. Verhandlungen mit den englisch-indischen Behörden ermöglichten die ersten Schiffstransporte von Arbeitskräften unter Vertrag aus den armen Regionen Indiens. Sie wurden viermal schlechter bezahlt als die ehemaligen Sklaven und ertrugen die schwere landwirtschaftliche Arbeit. 25.000 Inder landeten so in Martinique (40.000 in Guadeloupe). Die früheren Sklaven waren der von den Kolonisten geplanten Konkurrenz mit den "Kulis" ausgesetzt. Diese machten 1884 etwa 15 Prozent der Bevölkerung aus. Die Inder kamen ungewollt zwischen Hammer und Amboss in der Auseinandersetzung zwischen Zuckerrohrbauern und den Freigelassenen, die einen korrekten Lohn und bessere Arbeitsbedingungen forderten. Diese Situation erschwerte die Integration der Inder ungemein. Die ehemaligen Sklaven, die nun in den politischen Instanzen vertreten waren, erreichten 1884, dass die Einwanderung der Inder gestoppt wurde. Noch während Jahren schwelten Konflikte zwischen diesen beiden Bevölkerungsgruppen. Lange mussten die Inder mit den mühseligsten und härtesten Arbeiten in der Landwirtschaft vorlieb nehmen und blieben auf der untersten Sprosse der sozialen Stufenleiter. Ihre Integration kam nur äußerst langsam voran. 1920 erhielten sie ihrerseits die französische Staatsbürgerschaft; und es brauchte noch weitere dreißig Jahre, bis es zu Mischehen kam.


Gegenwärtige Probleme

Man könnte jetzt denken, dass all diese sozialen archaischen Strukturen der Vergangenheit angehören. Aber wie stellt man sich zu den folgenden Informationen: Weniger als ein Prozent der Gesamtbevölkerung (400.000 Einwohner in Martinique), d.h. ungefähr 3.000 Personen, die zu den 100 Familien der Békés (weiße Pflanzer) gehören, sind die direkten oder indirekten Besitzer (als Teilhaber von Gesellschaften) von 42 Prozent der Supermärkte, 90 Prozent der Fabriken und Nahrungsmittelindustrie und auch 65 Prozent des Landwirtschaftsbodens...

Die großen Pflanzungen stellten sich progressiv auf die Fabrizierung von Rum um, und seit 1930 (und ganz massiv nach dem zweiten Weltkrieg) auf Bananenplantagen. Die Békés bewiesen einmal mehr ihre Fähigkeit, bei den französischen Behörden und später auch bei den Eurokraten Lobbyarbeit zu betreiben: Sie erreichten durch verschiedene Dekrete, wie z.B. das Dekret über Größe und den Umfang der Bananen, die in Europa kommerzialisiert werden, dass die Banane aus den Antillen privilegiert und geschützt wurde. Nur die ehemalige französische Kolonie Elfenbeinküste vermochte für ihre Bananen die gleichen Vorteile zu erkämpfen. Seit Jahren werden diese speziellen Handelskonventionen von den nordeuropäischen Ländern denunziert. Die Békés konnten sich jedoch bis heute bei Politikern und den Entscheidungsträgern durchsetzen. Vielleicht nicht mehr für lange...

Die Affäre um das berüchtigte Chlordecon, eine Organochlorverbindung, die als Insektizid beim Bananenanbau eingesetzt wurde, zeigt wie stark der Einfluss der Békés immer noch ist: Dieses Molekül wurde in den USA bereits in den 1970er Jahren verboten, in Martinique und Guadeloupe auf Druck der Békés dank alljährlichen Ausnahmebewilligungen jedoch bis 2003 massiv genutzt. (Obwohl Chlordecon in Frankreich seit 1990 und in Martinique seit 1993 offiziell verboten war.) Ein Sechstel des Bodens ist auf lange Zeit verseucht. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Entgiftungsmaßnahmen scheinen nicht zu greifen, Flüsse und Meeresstrände sind ebenfalls verschmutzt. Fische, Krebstiere und Mollusken dürfen nicht mehr verzehrt werden.

"Aber macht Euch keine Sorgen, liebe Leute, der Staat ist wachsam, und er ergreift die notwendigen Maßnahmen." Es gibt angeblich auch keinen Zusammenhang zwischen dieser starken Verseuchung und der weltweit größten Quote von Prostatakrebs in den Antillen. Für die Experten "liegt noch kein epidemiologischer Beweis vor", trotz des Berichts des Krebsspezialisten Professor Belpomme, der die Behörden immerhin veranlasste, alle verseuchten Nahrungsmittel für den Verkauf zu verbieten. Seitdem wurden Millionen von Euros zur Verfügung gestellt (aber nicht von den verantwortlichen Plantagenbesitzern!), um Studien über das Chlordecon zu finanzieren. Ein Beispiel aus der Zeitung des FREDON (Regionalbund zur Verteidigung gegen schädliche Organismen) von Martinique:

"Das Gesundheitsprogramm JAFA (jardins familiaux, Familiengärten) erhielt 4 Millionen Euro für Studien, Untersuchungen, Forschungen und Unterstützung für die Familien. Worum handelte es sich? Nachdem die Kartographie der verseuchten Zonen erstellt war, wurden in den betroffenen Gemeinden Versammlungen organisiert, um die Familien über das Risiko zu informieren, zuviel Gemüse aus ihrem eigenen Garten zu essen, in erster Linie Wurzelgemüse wie Igname, Süßkartoffel, Karotten, usf." Die Bevölkerung war also gewarnt und selbst dafür verantwortlich, falls sie krank würde... Am besten ist wohl, sie versorgten sich im Supermarkt!


Die Situation der Landwirtschaft

Von den 110.000 Hektar, die Martinique umfasst, werden noch 25.300 bebaut, 19.000 Hektar liegen brach, und seit 1970 sind mindestens 7.000 Hektar neu bewaldet. Die Waldfläche beträgt 46.600 Hektar, was 42 Prozent der Gesamtfläche der Insel entspricht. Zwischen 1980 und dem Jahr 2000 verringerte sich die Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe um 46 Prozent. Heute haben 90 Prozent der Betriebe weniger als 10 Hektar, was aber bloß 35 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche ausmacht. Martinique ist eine gebirgige Insel, der Großteil der Plantagen der Békés befindet sich auf den fruchtbarsten Böden in der Ebene; dort werden vor allem Bananen und Zuckerrohr für Rum produziert. Diese Kulturen sind nach wie vor stark subventioniert; die direkten Hilfen machen die Hälfte des Werts ihrer Produktion aus. 11.000 Menschen finden in diesen Betrieben Arbeit, ungefähr 10 Prozent der aktiven Bevölkerung.

Und noch eine andere Zahl: 90 Prozent der auf der Insel konsumierten Nahrungsmittel für die 400.000 Einwohner sind importiert, vor allem aus Frankreich... Kehren wir zur Stadt Prêcheur zurück. Die dort ansässigen 60 Landwirte produzieren vor allem Gemüse, aber auf industrielle Weise, obwohl sie am Hang und auf kleinen Flächen arbeiten müssen. Die gleiche Methode wie in Europa, nur ist das Klima heiß und feucht: "Der Druck der Krankheitserreger und Unkräuter", so sagen es die Landwirtschaftstechniker, die in den gleichen französischen Schulen ausgebildet wurden, sei viel stärker. Was ist die Konsequenz davon, und was ist das beliebteste Werkzeug der Gemüsebauern? Der Spritzapparat und die dazugehörige Palette von chemischen Produkten! Und trotzdem beklagen sie sich, dass die Böden arm sind (also massiver Einsatz von chemischem Dünger) und die Krankheiten von Jahr zu Jahr zunehmen.

In diesem Zusammenhang schien die Einladung der Gemeindevertreter, die sich dafür einsetzen, andere umweltschonendere Produktionsmethoden zu finden, wichtig genug zu sein, um eine Reise zu rechtfertigen. An der Diskussionsrunde mit dem Thema "Andere Formen von Landwirtschaft", beteiligten sich alle offiziellen landwirtschaftlichen Organisationen. Wir lernten die beiden anderen eingeladenen Organisationen kennen: Orga péyi, eine Kleinbauernvereinigung für biologische Landwirtschaft, die versuchen, lokale Biomärkte zu schaffen, Ital Farm de Sainte Lucie(6), die sich mit Agrarforstwirtschaft beschäftigen und Serge, ein Bauer, der sein eigenes Saatgut produziert und Pate für eine Gemüsesaatgutkollektion von Kokopelli ist. Er praktiziert eine innovative Landwirtschaft, mit einer permanenten pflanzlichen Bodenbedeckung, um die Auswaschung des Bodens zu verhindern. Er arbeitet mit Sorten, die für dieses feuchte tropische Klima geeignet sind oder sich anpassen können.

Am Treffen war ein zahlreiches und sehr interessiertes Publikum, das alte Sorten entdeckte. Viele Bauern, die sich an der Diskussion vom Vortag beteiligten, suchten Ratschläge, obwohl jene, die industrielle Landwirtschaft praktizieren, anfangs eher skeptisch waren, und ein gewisser Fatalismus nicht zu übersehen war: "Die Tomaten, das funktioniert nicht mehr, sie sind voller Viren", aber wie verhindert ihr Krankheiten?" Serge erklärte die Problematik der Böden, die Bedeutung der Bodenbedeckung, die Mischung von verschiedenen Sorten und Arten, usf.

Gegen Ende des Tages keimte eine Idee für die Schaffung eines tropischen Zentrums für Agrarökologie, dem Kauf von Landwirtschaftsboden durch die Gemeinde, im Rahmen von Bodenreserven. Einige Hektar davon sollen den Initianten und Experimentieren dieses zukünftigen Zentrums zur Verfügung gestellt werden. Der Bürgermeister engagierte sich öffentlich für diese Aktion.

In der Folge beteiligten wir uns am Fest der Bauen, das in dieser Gemeinde seit langem jedes Jahr gefeiert wird. Eine große Messe, Paraden, Umzüge und offizielle Reden, Tanz des wilden Bélé(7), der alle Volksvertreter zum Mitmachen verleitete, Bankett und Tanzabend. Die nächsten Tage konnten wir andere Bauen besuchen, Aktive im lokalen Leben, Militante wie der Bürgermeister der Gemeinde St. Anne im Süden Martiniques, der in den Bewegungen vom Februar 2009, die die Insel erschütterten, sehr engagiert war und vor allem die MIR(8) (Internationale Bewegung für Schadenersatz und Reparationen). Sie organisiert zum fünften Male das "Konvwa pou réparasyon" (Kampf gegen Entfremdungen) mit Veranstaltungen in verschiedenen Gemeinden und dem diesjährigen Thema: Wie kann man sich die Mittel für eine Nahrungsmittelautonomie schaffen? Ihr Slogan, den wir vollkommen teilen, lautet: "Planté sa nou ka mangé, mangé sa nou ka planté" (Pflanzen, was wir essen können. Essen was wir pflanzen können).


Anmerkungen:

(1) Hunderte von Inseln ehemaliger spanischer, englischer, holländischer und französischer Kolonien, die heute unabhängig sind.

(2) Paradoxerweise ist dieser "code noir" die erste Schrift, die den Sklavenhandel regelt. Einerseits legalisiert sie diesen, andererseits werden Regeln festgelegt. Eine Form von Beschränkung, die diesem einen grossen Auftrieb verleiht.

(3) 1791 Erklärung der "Gleichheit der politischen Rechte der farbigen Menschen. Dieser Fortschritt bedeutete jedoch nicht die Abschaffung der Sklaverei.

(4) Der von der Revolution ausgeübte Druck veranlasste die Aristokraten zu einem überraschenden militärischen Pakt mit dem traditionellen Erzfeind: Während der Revolution besetzten die Engländer mit ihrer Flotte Guadeloupe und Martinique. Sobald die Situation sich normalisierte, sollten sie diese wieder zurückerstatten. Beide Seiten respektierten diesen Handel.

(5) In Guadeloupe wurden sie nach wenigen Monaten verjagt. Das erste Dekret zur Abschaffung der Sklaverei von 1794 wurde also in Martinique nicht respektiert. 1802 wurde die Insel wieder französisch, nach dem Staatsstreich vom 18. Brumaire von Napoleon und der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Amiens mit den Engländern.

(6) Unabhängige Nachbarinsel im Süden von Martinique

(7) Ursprünglicher Sklaventanz

(8) Die MIR wurde 1992 gegründet, als Reaktion auf die Zelebrierung der sogenannten Entdeckung Amerikas vor 500 Jahren. Sie versucht, die Idee durchzusetzen, dass Reparationen an die indigenen Völker und Sklaven in allen ehemaligen europäischen Kolonien geleistet werden müssen. Und zwar Schadenersatz, sowohl in ökonomischer, historischer als auch in ethnographischer Hinsicht.


*


Quelle:
Archipel - Monatszeitung des Europäischen Bürgerforums
Nr. 176, November 2009, S. 1-3
Verleger, Herausgeber, Hersteller, Redaktion: Europäisches Bürgerforum,
Europäisches BürgerInnenforum Schweiz:
Postfach, CH-4004 Basel
Tel.: 0041-61/262 01 11, Fax: 0041-61/262 02 46
E-Mail: eurocoop@swissonline.ch
Europäisches BürgerInnenforum Österreich:
Lobnik 16, A-9135 Eisenkappel/Zelezna, Kapla
Tel.: 0043-42 38/87 05, Fax: 0043-42 38/87 054
E-Mail: austria@civic-forum.org
Europäisches BürgerInnenforum Deutschland:
Hof Ulenkrug, OT Stubbendorf
D-17159 Dargun
Tel: 0049-39 959/23 881, Fax: 0049-39 959/20 399
E-Mail: ulenkrug@t-online.de
Europäisches BürgerInnenforum Frankreich:
F-04300 Forcalquier
Tel.: 0033-04 92/73 05 98, Fax: 0033-04 92/73 18 18
E-Mail: archipel_fce@orange.fr
Europäisches BürgerInnenforum Ukraine:
vul. Peremogi 70
UKR - 90440 Nijne Selischtche
Tel.: 00380-31/425 12 20
E-Mail: atdl@atdl.khust.net
Internet: www.forumcivique.org

Archipel erscheint elf Mal im Jahr,
Das Jahresabonnement kostet sFr 60.-; 32 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2010