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FRAGEN/067: Mónica Gonzáles, Chile - "Die Reichen haben große Angst" (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Chile

"Die Reichen haben große Angst": Interview mit Mónica Gonzáles


Mónica Gonzáles - Bild: © nómada

Mónica Gonzáles
Bild: © nómada

(Guatemala-Stadt, 29. Oktober 2019, nómada) - Mit Journalisten kann man die Krise eines Landes besser verstehen. Vor zehn Tagen sorgte Chile, das Musterland Lateinamerikas, für Überraschung auf dem Kontinent und steht seither auf dem Kopf. Die Fata Morgana seines Entwicklungsmodells zerbarst. Über Pinochets Revolution, die mögliche Zukunft dieser chilenischen Rebellion und um zu verstehen, was diesen Knall verursacht hat, wer dafür verantwortlich ist, was als Lösung in Frage käme, sprechen wir mit Mónica Gonzáles.

Mónica Gonzáles ist chilenische Geschichtsjournalistin. Seit 1978 betrieb sie Recherchen über den Diktator Augusto Pinochet, seit Beginn der Demokratie im Jahr 1989 hat sie praktisch zu allen Mächtigen des Landes recherchiert. 2007 gründete sie das Zentrum für investigativen Journalismus und Information CIPER, das sie 12 Jahre lang leitete und dem sie bis heute vorsitzt. Sie ist Mitglied des Verwaltungsrats der Gabo-Stiftung, Trägerin des María-Moors-Cabot-Preises für Journalismus und verantwortlich für den Dialog mit den Leser*innen der Online-Zeitung El Faro in El Salvador. Eine halbe Stunde widmete sie einem Gespräch mit Nómada.

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Wie kam es dazu, dass sich eine Protestaktion gegen Fahrpreiserhöhungen der U-Bahn zu einem gesellschaftlichen Aufstand gegen Ungleichheit und gegen das gesamte System entwickelt hat?

Was in Chile geschieht, erleben auch andere Länder: Proteste, die Rebellion von Millionen von Menschen in allen möglichen Städten, die genug haben von einem System systematischer Korruption, einem Land mit zwei Gerichtsbarkeiten, einer für die Reichen und einer Justiz für die Armen.

In den letzten zehn Jahren erlebten wir eine Reihe schwerer Korruptionsdelikte, die von mächtigen chilenischen Geschäftsleuten begangen wurden. Keiner von ihnen wurde bestraft.

Da kommt alles zusammen: Während Korruption straffrei bleibt, werden Wasser und Strom privatisiert, und die Lebenshaltungskosten steigen. Um Zugang zu vernünftiger Bildung zu haben, musst du dich hoch verschulden, weil Bildung ein Geschäft geworden ist. Zwischen den großen Unternehmen werden Absprachen getroffen, um die Medikamente, die Windeln, das Toilettenpapier teurer zu machen. Und mehr noch, 2014 kommt es zum Skandal: Dieselben mächtigen Geschäftsleute finanzierten Rechte und die Linke, und was am Ende dabei herauskommt, ist Straflosigkeit für alle als Kompromiss.

Das hört sich an als würdest du Guatemala beschreiben, aber du redest von Sebastián Piñeras Chile.

Piñera war schon immer ein großer Steuerflüchtling: Jetzt ist es in Mode, systematisch und mit Hilfe des Steuerrechts Geld in Steueroasen umzuleiten - und es passiert nichts. Aber als sie die Fahrpreise der Metro um 30 Pesos erhöhen und die Jugendlichen aus Protest über die Kontrollschranken springen, behandelt man sie wie Kriminelle.

Und diese unverhältnismäßige Reaktion hat die soziale Explosion provoziert.

Diese Fahrpreiserhöhung und die rebellischen Studenten, die mit ihrem Sprung über die Metro-Schranken einen massiven, aber friedlichen Protest organisieren wollten, wurde von der Regierung mit Gewalt und Kriminalisierung beantwortet. Sie haben keine Ahnung, wie die Menschen leben und antworteten damit, dass diejenigen, die gegen den Fahrpreisanstieg protestierten, alle faul seien. Sie sollten doch einfach früher aufstehen, weil früher am Morgen das Ticket billiger ist. Piñeras Regierung hatte ihre Anstrengung komplett auf eine Steuerreform gerichtet, deren einziges Ziel es war, den Großunternehmen Steuerersparnisse zu ermöglichen. Ein massiver Widerspruch, aber auch eine Lehre für den Journalismus: Die Macht liegt nicht in den Händen des Kongresses, sondern bei den großen Wirtschaftsgruppen, jenen, die über die kleinsten Dinge entscheiden, wie z.B. wie viel wir für Strom und Wasser bezahlen, wie viel wir für Medikamente bezahlen, denn sie sprechen sich untereinander ab. Es gibt keinen freien Markt.

Piñera trat nicht zurück, sondern wechselte einfach das gesamte Kabinett aus.

Er nahm einen Kabinettswechsel vor, aber das ist ein Witz, das ist gar nichts, die Steuerreformen, die nur den Reichsten zugutekommen, hat er nicht zurückgenommen. Diese Maskerade muss ein Ende haben. Mit der Privatisierung des Wassers war der Fluss Aconcagua ausgetrocknet. Und offensichtlich macht diese Rebellion dem Präsidenten und den Wirtschaftseliten so viel Angst, dass am dritten Tag des Protests, das Wasser des Aconcagua wieder floss. Das ist ein Beispiel, das uns zeigt, was für eine Riesenangst die Reichen heutzutage haben.

Während der Proteste wurden auch Gebäude und Supermärkte niedergebrannt.

Man muss es beim Namen nennen. Wenn man die friedliche Demonstration von 1,5 Millionen Menschen am vergangenen Freitag mit der Gewalt einer kleinen Gruppe von Kriminellen vergleicht, dann steht das in keinem Verhältnis. Wir glauben, es gibt immer Gruppen, ob nun extrem links oder extrem rechts, die sich in der Masse verstecken und die Inhalte einer Protestaktion verzerren, die Gerechtigkeit und radikale Veränderungen im System fordert.

Was wollen die friedlichen Protestierenden?

Einen Wasserkodex, ein neues Gesetz, das die obligatorische Abgabe von 10 Prozent der Gewinne für internationale Elektrokonzerne einführt, ein Gesetz, das die Verwaltung der Pensionsfonds (AFPs) verändert, und eines, das die Steuern der Reichsten erhöht, die nichts zahlen, weil die Armen schon alle täglich Mehrwertsteuer auf die Lebensmittel und Konsumgüter zahlen.

Da ist schon offensichtlich, dass Teile der extremen Linken einfach nur kaputtschlagen wollen; niemals hat einer die Metro beschädigt, denn am stärksten betroffen davon sind die Menschen, die damit zur Arbeit fahren. Anständige Leute bringen ihre Arbeit nicht in Gefahr.

Was wir brauchen, sind Ermittlungen darüber, wer Banken und Supermärkte zerstört und niedergebrannt hat. Und ich sage euch etwas, das man in Guatemala und in ganz Lateinamerika schon kennt.

Was denn?

Jedes Mal, wenn eine Bank oder ein Supermarkt durch eine gewalttätige Aktion in Brand gesetzt wird, setzt keine Bank und kein Geschäft mehr eine neue Filiale dort hin. Der Staat zieht sich zurück. Und dieses Vakuum wird durch das organisierte Verbrechen gefüllt, durch Gangs und Drogenbanden. Deshalb ist es so wichtig zu ermitteln, wer die Gruppen sind, die diese kriminellen Gewalttaten begangen haben. Zudem sollte dringend ermittelt werden, wie es zu den Todesfällen kam.

Morde, Vergewaltigungen, Folter und das Verschwinden von Demonstrant*innen durch staatliche Sicherheitskräfte.

Es ist sehr wichtig, dass genau über die Toten der letzten 10 Tage ermittelt wird, denn nach 17 Jahren Diktatur, in der es ständig Tote gab, darf es keine 1.100 Schussverletzungen und mehr als 500 Gefolterte geben. Für das chilenische Volk ist das inakzeptabel, dass Menschen in einem demokratischen System gefoltert werden. Und wir Journalisten, Staatsanwälte und Richter müssen uns mit aller Macht dagegen einsetzen, denn so etwas darf nicht passieren. Wenn wir das zulassen, werden wir zu einer Diktatur, wie es schon andere in Lateinamerika gibt, in der Eigentum wichtiger als das Leben ist.

Wie kann es sein, dass Piñera nach diesen Todesfällen noch weitermacht?

Es ist offensichtlich, dass Präsident Piñera die Kontrolle verloren hat. Er hätte niemals den Ausnahmezustand ausrufen dürfen. Seit 1990, seitdem wir die Demokratie wiedererlangt haben, hatten wir das Land nicht mehr in der Verantwortung des Militärs. Weil wir da eine ziemlich schreckliche Erinnerung und ein großes Trauma ins uns tragen. Wenn das Militär die Kontrolle übernimmt, dann gibt es Tod, Folter und Gewalt. Und genau das ist passiert.

Jetzt steckt Piñera in einer sehr tiefen Krise.

Piñera wurde mit 27 Prozent der Stimmen gewählt, weil 53 Prozent der Bürger nicht zur Wahl gingen. Das ist die höchste Enthaltung in unserer Geschichte seit der Wiederherstellung der Demokratie. Tausende junge Menschen, die man jetzt unterdrückt, haben noch nie gewählt. Wenn ein Präsident nur von 27 Prozent der Wähler gewählt wird, selbst wenn er mit Abstand gewinnt, steckt das Land in einer ernsten politischen Repräsentationskrise.

Was wird jetzt passieren?

Wir wissen nicht, was passieren wird. Chile hat sich auf sehr beeindruckende Weise verändert. Ich will nicht lyrisch klingen, denn ich habe mit Ihnen über die Datenlage zur Kooptation und Straffreiheit gesprochen. Aber seit dem Putsch 1973 hatte ich das Wort Würde nie mehr so oft gehört wie jetzt. Es war verloren gegangen, als hätte man es begraben, aber es hatte sich wohl nur schlafen gelegt. Die Tatsache, dass die Menschen ihre Würde zurückerlangen wollen und dafür bereit sind zu kämpfen, erschüttert mich. Es ist ein Kampf, der den Sinn des Lebens verändert hat. Es geht nicht mehr nur darum einzukaufen, ein Auto zu haben, nachts zu feiern oder den Urlaub zu bezahlen. Die jungen Leute verstehen heute, dass das Leben einen Sinn braucht, dass Hoffnung und Träume nicht daraus bestehen, ein Ziel zu erreichen, sondern dafür zu kämpfen. Für das Recht auf Liebe zu kämpfen, auch das ist Würde. Das ist es, was in Chile passiert. Die Menschen reichen einander die Hand, es werden Gedichte verfasst, die Lieder von Victor Jara werden gesungen.

Aber möglich ist auch, dass nichts passiert.

Ich bin mir darüber im klaren, dass irgendwo wieder etwas Neues ausgeheckt wird, eine neue Maskerade wird entworfen, um uns glauben zu machen, dass sie ganz furchtbar viel verändern, auf dass sich am Ende nichts ändert. Und wir Journalisten müssen uns bemühen zu zeigen, wer diese Mächtigen sind, die auf Straflosigkeit setzen, in deinem Land, in Kolumbien, in Brasilien, in Ecuador. Das sind die großen Konzerne.

Wenn auf der einen Seite an der Maskerade gearbeitet wird, arbeitet die andere denn an der Rebellion, der Revolution? Oder ist es zu früh, um das zu sagen?

Ja, das ist zu früh. Ich würde es nicht eine Revolution nennen. Ich weiß, was eine Revolution ist. Die einzige Revolution, die wir in Chile hatten, und das ist sehr schmerzhalt für viele Menschen, war die von Pinochet: Seine Kultur hat uns verändert. Sie machte uns egoistischer, zerstörte die sozialen Netzwerke, die Gewerkschaften, die Nachbarschaftsräte. Wir mussten wieder lernen, einander die Hand zu reichen, um in Frieden leben zu können. So sagt es auch die Hymne dieser Rebellion, eine Rebellion ohne politische Führung.

Und wer redet dann?

Gascardo, der Staatsanwalt, der die illegale Parteienfinanzierung aufdeckte und sah, dass es dabei um Straflosigkeit ging, sagte heute in einem Interview: "Die Politiker sollten verstehen, dass sie keinen Bonus haben, auf dem sie sich ausruhen können. Wir werden sie im Auge behalten, jeden Schritt, den sie tun. Sie sollen Gesetze gegen den Universitätsprofit machen, gegen die Privatisierung des Wassers, das Profit-Gesetz für die Elektrizitätskonzerne ändern, die intelligente Marktforschung unterbinden, die versucht, unsere Vorlieben, unsere Hobbys und Schwächen zu kontrollieren. Die Maskerade muss ein Ende haben. Es darf nicht sein, dass die Parlamentarier nicht wissen, wie es ist, unter den normalen Leuten zu leben. Es darf keine Polizei geben, die einmal im Jahr ihre Spitze auswechselt."

Warum?

In CIPER entdeckten wir, dass Carabinieros die Handys der Mapuche-Sprecher manipulieren, um ihnen Beweise unterzuschieben und sie dann unter Mithilfe von Staatsanwälten und Richtern ins Gefängnis zu schicken. Und dann gab es den Mord an einem Mapuche-Führer. Sie sagten, das sei bei einem gewalttätigen Zusammenstoß passiert, was gelogen war. Darauf mussten sie wieder die gesamte Polizeispitze auswechseln.

Es überrascht, diese Rebellion zu sehen. Aber man versteht sie besser, wenn man diese ganzen Geschichten von Kooptierung und Gewalt hört, die man eher im tropischen Lateinamerika vermutet als im Cono Sur, wo die Dinge doch insgesamt gesitteter zugehen.

Nun, nicht wirklich. Und ich bin froh darüber, dass das so ist und dass wir uns gegenseitig gerade ins Gesicht sehen können. Wir sind aus der gleichen Gegend, wir haben die gleichen Probleme. Die Demokratien sind in ernsthafter Gefahr. Denn Macht braucht keine Staatsstreiche. Das Militär blieb in Chile nicht stehen. Venezuela wäre, wie in der Vergangenheit bereits geschehen, von den Vereinigten Staaten überfallen worden. Oder sie hätten den Ölimport unterbinden können. Oder Nicaragua. Aber da Macht eben keine Staatsstreiche benötigt, geht das Morden in Venezuela und Nicaragua ungestraft weiter. Unseren Demokratien sind die Hände gebunden, und wir Journalisten müssen versuchen, ihr zur Macht zurückzuverhelfen und nicht müde werden, davon zu berichten, denn unsere Völker sind in der Lage, aufzustehen und voranzuschreiten. Noch nie war der Journalismus so wichtig wie heute. Wir Journalisten haben dafür die Gabo-Stiftung, wo wir uns vernetzen können und gemeinsam über die organisierte Kriminalität recherchieren können. Dazu gehören heute beispielsweise auch Pharmalabors und Bergbauunternehmen.

Was erträumst du dir für Chile?

Ich träume von einem gerechteren Chile. Ich kann nicht glauben, dass wir in den 17 Jahren Diktatur (1973-1989) so viel gelitten haben, so viele wunderbare Menschen getötet wurden, so viele Frauen vergewaltigt, und ihre Lieben hat man weggeschafft, damit sie dann nach 28 Jahren Demokratie kooptieren und das Land einer Ungerechtigkeit ausliefern, die uns schlägt, verletzt und tötet.

Weil Korruption und Straflosigkeit Träume töten. Jetzt, da ich Victor Jara nachts in den Städten höre ... das ist mein Volk, mein Land. Und ich träume, dass wir in einem gerechten Land leben können, denn dazu sind wir geboren. Und ich erträume das gleiche auch für dein Land, für Guatemala, und für ganz Lateinamerika. Es reicht.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2019

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