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LATEINAMERIKA/1148: Chile - Bilanz nach 200 Jahren Unabhängigkeit (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. September 2010

Chile: Armut geht zurück, Ungleichheit bleibt - Bilanz nach 200 Jahren Unabhängigkeit

Von Daniela Estrada


Santiago de Chile, 21. September (IPS) - Chile, das derzeit seine 200-jährige Unabhängigkeit von Spanien feiert, weist im lateinamerikanischen Vergleich eine der niedrigsten Armutsquoten auf. Der guten Nachricht folgt die schlechte jedoch gleich auf den Fuß: Wenn es um die Ungleichheit in der Gesellschaft geht, nimmt das Land einen regionalen Spitzenplatz ein.

Wie der Wirtschaftswissenschaftler Raúl González von der privaten 'Universidad Academia de Humanismo Cristiano' in Santiago de Chile betont, ist diese Dualität von Wirtschaftswachstum und Ungleichheit bereits seit längerem für Chile charakteristisch. Die neoliberalen Weichen habe die Pinochet-Diktatur (1973-1990) gestellt.

1990, im Jahr des demokratischen Neubeginns, lebten 40 Prozent der Chilenen in Armut, 2006 waren es nur noch 13,7 Prozent. Die Weltwirtschaftskrise verursachte der Statistik für 2009 einen leichten Anstieg auf 15,1 Prozent. Während allerdings die Armut tendenziell stark zurückging, entwickelte sich die Einkommensverteilung nicht entsprechend.

Nach aktuellen Angaben des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) befinden sich zehn der 15 Länder mit der weltweit größten sozialen Ungleichheit in Lateinamerika. An der Spitze liegt Bolivien, gefolgt von Haiti, Brasilien und Ecuador. Platz fünf belegt Chile, gemeinsam mit fünf anderen Ländern.

Eine offizielle Umfrage in Chile aus dem Jahr 2009 ergab, dass auf die ärmsten zehn Prozent der Haushalte nur 1,5 Prozent des Gesamteinkommens entfällt. Auf der anderen Seite der Skala vereinigen die reichsten zehn Prozent des Haushalte 39,2 Prozent des Gesamteinkommens.


Verschiedene Ungleichheiten

Die staatlichen Transfers, die von der chilenischen Sozialpolitik in den vergangenen 20 Jahren eingeführt wurden, wirken sich zwar etwas lindernd aus. Experten halten die Lage aber nach wie vor für inakzeptabel - zumal in einem Land, das vor dem Jahr 2020 einen entwickelten Status erreicht haben will. Dabei ist die Ungleichheit der Einkommensverteilung nur ein Aspekt. Die Kluft tut sich auch in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Kultur sowie zwischen den Geschlechtern. Auch sind Indigene im Vergleich zur nicht-indigenen Bevölkerung deutlich benachteiligt.

Zudem gewährleistet das chilenische Sozialsystem noch nicht, dass Familien, die sich aus der Armut befreit haben, nicht wieder in diese zurückfallen können, vor allem im Fall von Arbeitslosigkeit oder mit hohen Kosten verbundener Krankheit. Was die Bildung betrifft, so wird die soziale Mobilität eingeschränkt durch die unterschiedliche Qualität der Bildungseinrichtungen. Lassen die staatlichen Institutionen oft zu wünschen übrig, so erzielen die privaten die besten akademischen Ergebnisse.

Eine OECD-Studie - Chile trat der Organisation in diesem Jahr als erstes südamerikanisches Land bei - ergab kürzlich, dass chilenische Familien 83,9 Prozent der Kosten für eine höhere Bildung für ihre Kinder aus der eigenen Tasche bestreiten. Dies war der höchste Wert unter den 36 untersuchten Ländern. Finnische Familien zahlen gerade einmal 4,5 Prozent für die Bildung ihrer Kinder. Eine Verfestigung der chilenischen Sozialstruktur ist die Konsequenz aus dem geringen Beitrag, den der Staat zur Bildung leistet. Ökonom González weist auf die Kosten hin, die aus einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft entstehen: für mehr Polizei, mehr Alarmanlagen, mehr gesicherte Wohngebiete der Wohlhabenden.


Mehr Demokratie gefordert

Zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Chiles hat sich nun eine Initiative für mehr Demokratie gebildet. Angestoßen vom Verband der Nichtregierungsorganisationen 'Acción' soll sie vor allem dafür sorgen, dass die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts wie Arbeitsrechte und faire Löhne nicht marktwirtschaftlichen Interessen geopfert werden. "Die Ungleichheit hat viele Gesichter, aber immer geht sie von der Arbeit aus", erläutert der Acción-Vorsitzende Martín Pascual. Kapital und Arbeit würden höchst unterschiedlich bezahlt. Täglich müsse für gerechte Arbeitsbedingungen gekämpft werden.

Experten zufolge ist die Ungleichheit eine Gefahr für die innere Sicherheit. Bei vielen Chilenen staue sich innerlich immer mehr Wut auf, warnt der Wirtschaftswissenschaftler González. Es sei schwierig vorauszusagen, wie sich die daraus resultierenden Konflikte künftig entwickelten. (Ende/IPS/bs/2010)


Links:
http://www.chilebicentenario.cl/
http://www.accionag.cl/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=96459

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 21. September 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2010