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LATEINAMERIKA/1163: Friedensnobelpreisträger Pérez Esquivel im Interview (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. Oktober 2010

Lateinamerika: "Welt braucht neuen Sozialpakt" - Friedensnobelpreisträger Pérez Esquivel im Interview

Von Clarinha Glock

Adolfo Pérez Esquivel - Bild: © Clarinha Glock/IPS

Adolfo Pérez Esquivel
Bild: © Clarinha Glock/IPS
Barcelona, 12. Oktober (IPS) - Für den Argentinier Adolfo Pérez Esquivel, Friedensnobelpreisträger von 1980, ist die Zeit für einen tiefgreifenden Wandel gekommen. Die Menschen in Lateinamerika müssten sich unbedingt Gedanken über einen neuen Sozialpakt machen, der die kulturelle Vielfalt respektiert, sagte der 78-Jährige, der für die Menschenrechte und eine Kultur des Friedens eintritt.

Pérez Esquivel engagiert sich zudem für einen Internationalen Umweltstrafgerichtshof. Dahinter steht die Ansicht, dass Umweltkatastrophen ein Verbrechen an der Menschheit darstellen. Seiner Meinung nach muss das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshof aus dem Jahre 1998 modifiziert. Das Tribunal zur Ahndung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit selbst nahm 2002 seine Arbeit auf.

Bei einem seiner häufigen Barcelona-Besuche hatte IPS Gelegenheit, mit Pérez Esquivel über die politische Lage in Lateinamerika und die Fortschritte auf dem Weg zu einer weltweiten Friedenskultur zu sprechen. Es folgen Auszüge aus dem Interview.


IPS: Wie hat sich Lateinamerika seit dem Ende der Militärdiktaturen entwickelt?

Adolfo Pérez Esquivel: Nach den Diktaturen, die wir der US-Politik zu verdanken hatten, kam es zu bedeutenden Vorgängen, die dazu führten, dass Lateinamerika den Wandel zu abhängigen oder eingeschränkten Demokratien vollzog. Der Prozess verlief schnell und muss vor dem Hintergrund des Malwinen-Krieges (oder Falklandkrieg zwischen Argentinien und Großbritannien im Jahr 1982) betrachtet werden.

Einst gab es die Ost-West-Konfrontation zwischen USA und Sowjetunion. Mit dem Malwinen-Krieg kam der Nord-Süd-Konfliktdimension hinzu. Den USA wurde schnell klar, dass die Förderung der Demokratien wichtig ist. Doch die neoliberale Politik und Privatisierungen sowie die Aneignung der natürlichen und nichtnatürlichen Rohstoffe gingen unvermindert weiter.

IPS: Ist Lateinamerika für Washington weiterhin bedeutsam?

Pérez Esquivel: Obwohl sich die USA auf die Kriege in Afghanistan und den Irak konzentrieren mussten, haben sie nie aufgehört, Lateinamerika anzugreifen. Sobald sich auch nur ein Land ihrer Hegemonie entzieht, fangen die Konflikte an, wie sie Venezuela, Bolivien, Ecuador oder Argentinien erleben durften.

Als (der in Honduras abgesetzte Präsident) Manuel Zelaya mit anderen Vorstellungen über die Zukunft seines Landes ankam, fiel er einem Staatsstreich zum Opfer, der vom Parlament und der Justiz in Honduras legitimiert wurde. Wir haben es hier mit einer Piloterfahrung zu tun, die sich leicht in anderen Ländern wiederholen könnte.

IPS: Positionieren sich die USA neu in der Region?

Pérez Esquivel: Sie versehen den Kontinent mit militärischen Klemmen. Da haben wir den zentralamerikanisch-karibischen Puebla-Panamá-Plan und den Kolumbienplan, der den USA sieben Militärstützpunkte verschafft, angeblich um den Drogenhandel und Terrorismus zu bekämpfen. Darüber hinaus gibt es 'Triple Frontera' mit Argentinien, Brasilien und Paraguay. (...)

Diesen Entwicklungen zum Trotz bilden sich in der Region dennoch starke soziale, kulturelle und politische Kräfte heraus. Bolivien ist dazu übergegangen, Unternehmen zu verstaatlichen und sich den Zugang zu den natürlichen Ressourcen zu sichern. Das sind wichtige Schritte für die Entstehung eines plurinationalen Staates, in dem Ureinwohner anerkannt oder Maßnahmen ergriffen werden, um Analphabetismus und Gesundheitsprobleme wirksam zu bekämpfen. Das Gleiche geschieht in Venezuela.

IPS: Dennoch werden diese Staaten kritisiert. Welche Meinung vertreten Sie?

Pérez Esquivel: Es gibt keine perfekten Demokratien. Es gibt lediglich Demokratien, die noch verbessert werden müssen und können. In Venezuela zum Beispiel gibt es eine Demokratie, die sich deutlich von der Demokratie in Kolumbien unterscheidet, wo wir es mit Repression, paramilitärischen Gruppen, Intervention der Streitkräfte, vier Millionen Vertriebenen und fünf Millionen Exilkolumbianern zu tun haben.

Die Kolumbianer gehen wählen, doch sind es nicht die Stimmen, die eine Demokratie garantieren können. Entscheidend ist die Partizipation des Volkes. Trotz der vielen Schwierigkeiten und Irrtümer haben lateinamerikanische Länder qualitative Schritte nach vorn getan, um partizipative Demokratien zu schaffen.

IPS: Haben sich mit US-Präsident Barack Obama Verbesserungen eingestellt?

Pérez Esquivel: Nein. Obama ist an die Regierung gelangt, nicht aber an die Macht. Er hat sich dazu verpflichtet, den Krieg im Irak zu beenden, ihn aber in Wirklichkeit verschärft. Das Gleiche lässt sich über Afghanistan sagen. Obama verfügt nicht über die Möglichkeiten eines bolivianischen oder venezolanischen Präsidenten. Diese sind zudem in Foren wie dem MERCOSUR, der Union Südamerikanischer Staaten oder der Bank des Südens zusammengeschlossen, um den großen internationalen Kräften gemeinsam zu trotzen.

IPS: Sie haben angedeutet, dass es in Lateinamerika aufstrebende soziale Kräfte gibt. Welche sind das?

Pérez Esquivel: Da haben wir zum einen die Frauenbewegung. Die Frauen sind in der gesamten Region wichtige Protagonistinnen, ob sie nun indigener Herkunft sind oder aus den wissenschaftlichen, technologischen und philosophischen Kreisen kommen.

Wichtig ist ferner die indigene Bewegung, die den Ureinwohnern ihre Identität und Kultur zurückbringt und die Ethnien organisiert. Die dritte wichtige Kraft sind die sozialen Bewegungen, die eine neue Politik ausprobieren, um eine partizipative Demokratie zu schaffen.

Wir müssen uns unbedingt Gedanken über einen neuen Sozialpakt machen - sowohl mit Blick auf unseren Planeten als auch innerhalb jedes einzelnen Landes. (...) Da wir keine monolingualen Länder sind, müssen wir lernen, Respekt vor der Vielfalt zu haben. Auch dies verstehe ich unter einem neuen Sozialpakt. Die Dominanz zeigt sich nicht allein in wirtschaftlichem, sondern auch in kulturellem Gewand.

IPS: Wie kommen Sie mit ihrer Kampagne für einen Internationalen Umweltstrafgerichtshof voran?

Pérez Esquivel: Ich sitze der Akademie der Umweltwissenschaften in Venedig vor, die sich aus 120 Wissenschaftlern zusammensetzt, die sich mit den großen Umweltproblemen der Welt befassen. Was die Menschenrechte angeht, so sieht man Menschen die Verletzungen an, nicht jedoch ganzen Völkern.

1976 hatte die Internationale Liga für die Rechte und Befreiung der Völker die Universelle Erklärung der Rechte der Völker proklamiert. Ich bin der Meinung, dass man auch die Schäden studieren sollten, die indigene Völker - ganze Bevölkerungsgruppen - durch die Verseuchung von Wasser und Umwelt erlitten haben.

Wir wollen die Rom-Statuten reformieren. Gleichzeitig wollen wir eine internationale Kampagne für die indigenen Völker auf den Weg bringen, um Druck zu machen. Der Widerstand, der Regierungen zu Veränderungen veranlasst, muss von unten kommen. (Ende/IPS/kb/2010)


Links:
http://www.adolfoperezesquivel.com.ar/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=96062

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 12. Oktober 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Oktober 2010