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LATEINAMERIKA/1344: Brasilien - Protest gegen ehemalige Putschisten (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 30. März 2012

Brasilien: Eier für Gäste des Rio-Militärclubs - Protest gegen ehemalige Putschisten

Von Fabiana Frayssinet


Die Opfer auf den Leib geschrieben - Maria de Aquino Silveira - Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Die Opfer auf den Leib geschrieben - Maria de Aquino Silveira
Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Rio de Janeiro, 30. März (IPS) - Die angerückten Journalisten waren zunächst irritiert. Nur ein einziger Brasilianer hatte sich an dem online verabredeten Ort vor dem Militärclub in Rio de Janeiro eingefunden, um gegen eine Veranstaltung zu Ehren des Putsches von 1964‍ ‍zu protestieren. Tapfer hielt er sein kleines Transparent in die Höhe, auf dem zu lesen war: "Ein Putsch ist keine Revolution".

Doch dann kam Verstärkung: Hunderte Demonstranten, vor allem junge Menschen, fanden sich ein, um gegen die Straffreiheit ehemaliger Putschisten zu protestieren. Der Putsch von 1964 markierte den Beginn einer 21 Jahre langen Diktatur, die mindestens 475 Menschen das Leben kostete. Weitere 50.000 Menschen wurden ins Gefängnis gesperrt und mehr als 20.000 gefoltert.

"Die Diktatur ist vorbei, und nun müssen die Folterer zur Verantwortung gezogen werden", forderten Demonstranten. Mit "Parasit" und "Feigling" wurde ein greiser Militär begrüßt, nachdem ihn die Menge als ehemaligen Folterer identifiziert hatte. Andere Gäste, die Einlass in den Militärclub begehrten, wurden ausgebuht oder mit Eiern beworfen.

"Wir sind hier, weil wir Gerechtigkeit verlangen. Wir wollen, dass die Straffreiheit für diese Foltermilitärs und Mörder ein Ende hat", sagte Tânia Rocha, selbst ein Opfer von Militärgewalt und Witwe eines ermordeten Kommunisten. Ein Amnestiegesetz von 1979 verhindert bis heute die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen der Jahre 1964 bis 1985.


Folteropfer Rousseff

Dem 16-jährigen Nando de Oliveira ging es nach eigenen Angaben darum, mit seiner Anwesenheit an der Protestkundgebung ein Zeichen zu setzen, "dass die Folter für immer gestorben sein sollte". Prominentestes Folteropfer der Generäle war Dilma Rousseff, die amtierende brasilianische Staatspräsidentin. Sie hatte den Militärs in diesem Jahr verboten, den Jahrestag des Putsches am 31. März zu begehen, die daraufhin die Feierlichkeiten um zwei Tage vorverlegten.

"Vater, lass diesen Kelch an mir vorübergehen", war auf einem Transparent zu lesen, das ein als Militär verkleideter Demonstrant in Anspielung auf einen Protestsong des brasilianischen Musikers Chico Buarque hochhielt. Die Jugendbewegung war auch in anderen Bundesstaaten aktiv. In São Paulo im Süden fanden sich Menschen vor den Häusern mutmaßlicher Menschenrechtsverletzer zu Mahnwachen ein.

"Brasilien war das erste Land Lateinamerikas mit einer Diktatur", meinte Ana Mirandade vom Kollektiv Erinnerung und Wahrheit in Rio de Janeiro. Umso schlimmer sei das lang anhaltende Schweigen. "Nach so vielen Jahren haben wir die Angst verinnerlicht, ganz so als ob die Streitkräfte noch immer die absolute Macht innehätten." Auch die Wahrheitskommission, die in diesem Jahr ihre Arbeit aufnimmt, sei ein Produkt dieser Angst, betonte die Aktivistin. Sie sei bedauerlicherweise nicht mit dem Mandat ausgestattet worden, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen.

Im Militärclub zeigte sich Heeresgeneral Gilberto Serra zu einem Gespräch mit IPS bereit. Die Menschen hätten das Recht, ihre Meinung zu äußern, erklärte er. "Allerdings scheint es mir, als hätten sie in der gleichen Situation junge Menschen der Guerilla ausgeliefert. Nicht wir, die wir gegen die Gefahr eines kommunistischen Staates gekämpft haben, sondern die Rebellen waren die Bösen."


Putsch war 'Revolution'

Zu den Teilnehmern der Feierlichkeiten zu Ehren des Putsches, den die Streitkräfte selbst als "Revolution" bezeichnen, zählte auch General Luiz Eduardo Rocha Paiva. Seiner Meinung nach sollte die Wahrheitskommission auch die Aktivitäten der ehemaligen Guerillera Rousseff untersuchen. Den Putsch selbst bezeichnete er als "zivil-militärische Bewegung".

Die Wahrheitskommission sei an sich nichts Schlechtes, ließ der General a.D. Jonas Correia, seine Zuhörer wissen. Sie könnte allerdings missbraucht werden, "um Unruhe in einem relativ ruhigen Land zu stiften".

Vor dem Militärclub fand sich Bolivar Meirelles, ein Oberst im Ruhestand, ein. Der heute 73-jährige gehörte zu den Militärs, die den damaligen Putsch verurteilten und deshalb vom Dienst suspendiert wurden. "Ich musste gehen, weil ich gegen den Staatstreich, gegen Folter und gegen die Militärs war, die ihre Macht missbrauchten", sagte er.

Die 19-jährige Demonstrantin Maria de Aquino Silveira hatte sich die Namen ihrer Angehörigen, die während der Diktatur ermordet wurden, auf den Körper geschrieben. Sie sei mit den Geschichten über den Tod ihrer Onkel, Großeltern und einer Schwester aufgewachsen, sagte sie. "Ich bin nicht mehr das kleine Mädchen, das durch die Augen anderer blickt. Ich kann mir jetzt selbst ein Bild machen." (Ende/IPS/kb/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. April 2012