Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

LATEINAMERIKA/1422: Brasilien - Vereinnahmung von Protestbewegung durch linke Parteien befürchtet (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. Juli 2013

Brasilien: Vereinnahmung von Protestbewegung durch linke Parteien befürchtet

von Fabiana Frayssinet


Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Junge Demonstranten in Brasilien
Bild: © Fabiana Frayssinet/IPS

Rio de Janeiro, 8. Juli (IPS) - Vertreter sozialer Gruppen in Brasilien befürchten eine Einflussnahme linker Parteien auf die derzeitigen Proteste, zu denen junge Leute in den Netzwerken im Internet aufgerufen haben. Diese Aktivisten sind zwar nicht unpolitisch, aber nicht zentral organisiert und keinem bestimmten politischen Lager zuzuordnen.

Wie Augusto de Franco, Gründer der Forschungsgruppe 'Escola de Redes', erklärt, ist die Protestbewegung in großen Städten wie São Paulo und Rio de Janeiro entstanden und von einem "Bienenschwarm" vorangetrieben worden. Solche Interaktionen seien nur in Gesellschaften möglich, deren Mitglieder eng miteinander vernetzt seien, meint de Franco.

Unmittelbarer Auslöser der Demonstrationen in Brasilien war die Erhöhung der Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel. Inzwischen haben sich die Kundgebungen zu den größten Protesten im Land seit 1992 entwickelt, als der damalige Staatschef Fernando Collor de Mello zum Rücktritt gezwungen wurde.

Dieses Mal gingen anfangs rund 5.000 Menschen auf die Straße, und nach zehn Tagen waren es bereits 1,5 Millionen. Laut Franco hat diese Bewegung einen völlig neuen Charakter. "Es handelt sich nicht um Massen, die von zentral gesteuerten Organisationen zusammengebracht wurden, sondern um eine Vielfalt an Leuten, die bestimmte Konstellationen bilden", so de Franco.


Schwarm ohne Bienenkönigin

Der Schwarm ohne Bienenkönigin befinde sich nun im Zentrum eines "ideologischen Tauziehens", sagt auch João Pedro Stédile, der Anführer der Landlosen-Bewegung MST, die sich jetzt den Aktionen anschließt. "Da die jungen Demonstranten keine Mitglieder von Massenorganisationen sind, haben die gesellschaftlichen Klassen mit einer ideologischen Debatte begonnen. Sie diskutieren über die Ideen der jungen Leute, um sie zu beeinflussen", meint Stédile im Gespräch mit IPS.

"Auf der einen Seite steht die Bourgeoisie, die den größten brasilianischen Rundfunksender 'Globo' und andere Medien dazu benutzt hat, um den jungen Leuten Forderungen nach mehr Rechten in den Mund zu legen. Andererseits gibt es die Linke und die Arbeiterklasse, die ihre eigenen Ziele verfolgen."

Nach Ansicht von Stédile sind die Proteste das Ergebnis einer "urbanen Krise", die durch den "finanziellen Kapitalismus" ausgelöst wird. Als Beispiele dafür nannte er Immobilienspekulationen, die im Laufe der vergangenen drei Jahre dafür gesorgt haben, dass Mieten und Grundstückspreise um 150 Prozent angezogen sind. Zu der Entwicklung habe außerdem die Stimulierung des Automobilhandels beigetragen, die zu "chaotischen" Verkehrsverhältnissen geführt habe, ohne dass gleichzeitig effizient in den öffentlichen Nahverkehr investiert worden sei.

"Die jungen Leute sind nicht unpolitisch", meint Stédile. "Sie praktizieren Politik auf dem bestmöglichen Weg, nämlich in den Straßen. Allerdings sind sie nicht mit politischen Parteien verbunden. Sie lehnen nicht deren Ideologien ab, sondern die Methoden."

Der Soziologe Emir Sader meint, dass die Protestierenden "utopische Ideale" verfolgen. Sie seien rebellisch und zeigten eine "gesunde Respektlosigkeit für Obrigkeiten". "Wir sind jung und wollen uns Gehör verschaffen", meint der Protestteilnehmer Rafael Farias. Und ihre Stimmen wurden bereits von Regierung, Parlament und Justiz gehört, die bereits kurzfristige Lösungen angeboten haben. So sollen die Fahrkartenpreise gesenkt und Maßnahmen gegen Korruption ergriffen werden. Außerdem sind höhere Zuschüsse für den Gesundheits- und Bildungssektor sowie eine Debatte über längst fällige politische Reformen geplant.

Auch die sozialen Organisationen und das breite Spektrum der linken Parteien, einschließlich der regierenden Arbeiterpartei PT von Präsidentin Dilma Rousseff nehmen die Forderungen der Demonstranten ernst. Der ebenfalls der PT angehörende ehemalige Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2011) rief seine Partei dazu auf, sich den Protesten anzuschließen.


Breites Spektrum an Forderungen

Bei den jüngsten Kundgebungen war das Spektrum der Teilnehmer und ihrer Forderungen bereits deutlich breiter. Auch Vertreter von Gewerkschaften und Bewegungen für Frauen-, Schwulen- und Ureinwohnerrechte waren dabei. Die Demonstranten fordern mehr staatliche Gesundheitsausgaben, eine 40-Stunden-Arbeitswoche und höhere Steuern für Reiche, während die Belastungen für Arme sinken sollen. Hinzu kommen Forderungen nach einer Demarkation der indigenen Territorien, einer Landreform sowie der Aussetzung von Schürfkonzessionen für Bergbaufirmen und von Ölförderlizenzen.

"Meiner Ansicht nach hat der Aufstand eine soziale und wirtschaftliche Basis", sagt Stédile. "Anstatt den jungen Leute eine bestimmte politische Richtung vorzugeben, wäre es besser, die Arbeiterklasse in Bewegung zu setzen, also die Armen und die Arbeiter auf die Straßen zu bringen. Darin liegt die Herausforderung." (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://escoladeredes.net/
http://www.mst.org.br/
http://www.ipsnoticias.net/2013/07/la-izquierda-quiere-orientar-enjambre-de-redes-sociales-brasilenas/
http://www.ipsnews.net/2013/07/brazils-left-is-eager-to-lead-the-swarm/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 8. Juli 2013
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2013