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LATEINAMERIKA/1432: Chile hat die Wahl (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Chile hat die Wahl

von Reiner Radermacher
September 2013



• Am 17.11.2013 werden in Chile Präsidentschaftswahlen stattfinden. Nach einer Wahlrechtsänderung gab es Ende Juni erstmals Vorwahlen, als deren Ergebnis die chilenischen Wähler_innen die Alternative zwischen zwei Frauen haben, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

• Wie erwartet gewann Michelle Bachelet mit überwältigender Mehrheit die Vorwahlen des Mitte-Links-Bündnisses. Die ehemalige Präsidentin ist äußerst populär in der Bevölkerung und geht als Favoritin in den Wahlkampf. Für das regierende Mitte-Rechts-Bündnis wird die bisherige Arbeitsministerin Evelyn Matthei antreten.

• Mit Marco Enríque-Ominami, der 2009 mit der Mitte-Links-Allianz gebrochen und seine eigene Partei gegründet hatte, kämpft ein weiterer Kandidat um die Stimmen der Linken. Im Fall einer Stichwahl zwischen Bachelet und Matthei wird die Kandidatin des Mitte-Links-Bündnisses auf seine Stimmen angewiesen sein.

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Die chilenische Gesellschaft befindet sich 25 Jahre nach dem Plebiszit gegen die Diktatur und dem Beginn der Redemokratisierung an einem kritischen Punkt ihrer politischen Entwicklung: Weite Teile der Bevölkerung verlangen immer stärker nach grundlegenden Reformen auf vielen Politikfeldern (Bildung, Alterssicherung, Gesundheitswesen, Konsumentenschutz, Arbeitsgesetzgebung, Steuersystem, Geschlechtergleichstellung, Medienpolitik, Wahlrecht). Da fast alle diese Reformvorhaben nur durch eine Verfassungsänderung realisierbar sind, ist diese gleichfalls zum Gegenstand der öffentlichen Debatte geworden. Immer mehr Chilen_innen ist dabei bewusst geworden, dass die neue Demokratie an einem Geburtsfehler leidet: Im Zuge des paktierten Übergangs wurde die 1980 von der Diktatur erlassene Verfassung zunächst weitgehend übernommen und 2005 lediglich von ihren offenkundig antidemokratischen Elementen befreit. Wie jedoch jetzt deutlich wird, ist sie in ihrer Gesamtheit der Ausdruck einer spezifischen, nämlich vordemokratischen Vorstellung von Staat und Gesellschaft und zudem so konstruiert, dass an entscheidenden Punkten der Status quo praktisch nicht verändert werden kann.

Die gesellschaftspolitische Diskussion speist sich zudem aus der Kritik am überkommenen Wirtschaftsmodell, die ein ständig wachsender Teil der Bevölkerung immer deutlicher vorbringt. Ursache dafür ist die verbreitete Erfahrung als ohnmächtige Konsument_innen gegenüber der Marktmacht von Oligopolen, die faktisch alle Bereiche der chilenischen Wirtschaft kontrollieren. Dies ist wiederum Folge der extrem deregulierten, quasi »reinen« Marktwirtschaft, in der der Staat auf eine subsidiäre Instanz reduziert wurde, die dafür zu sorgen hat, möglichst günstige Rahmenbedingungen für die Unternehmen zu schaffen. In den letzten Jahren ist außerdem das Bewusstsein gewachsen, dass die Perspektiven für die chilenische Ökonomie - eine modifizierte Extraktionswirtschaft - recht düster sind: Das bestehende Entwicklungsmodell ist extrem abhängig von sehr wenigen exogenen (Nachfrage der Schwellenländer, v. a. Chinas) und endogenen Faktoren (Verfügbarkeit von Wasser und billiger Energie), und so kann der aktuelle Kupferboom ebenso abrupt enden wie Ende des 19. Jahrhunderts der Salpeterboom.

Die politische Klasse des Landes - organisiert in den opponierenden Polen eines Mitte-Rechts-Blocks und eines Mitte-Links-Lagers - war entweder nicht willens oder nicht in der Lage, das Verlangen der Bürger_innen nach Strukturreformen aufzugreifen und wenigstens ansatzweise in die politische Praxis umzusetzen. Die geforderte umfassende Neugestaltung der Verfassung wurde und wird weiterhin von einer breiten Koalition fast aller politischen Kräfte zurückgewiesen. So ist allmählich eine Kluft zwischen Politik und Gesellschaft entstanden, die sich in den letzten Jahren dramatisch vertieft hat. Deutlicher Ausdruck davon sind die sinkende Wahlbeteiligung und die katastrophal niedrige Bewertung aller Institutionen des politischen Systems (Regierung, Opposition, Parteien, beide Kammern des Kongresses, Abgeordnete bzw. Senator_innen) in Meinungsumfragen. Ein weiteres Symptom ist die beständig wachsende Sozialbewegung, die ihre Anliegen über öffentliche Proteste artikuliert und seit 2011 den Charakter einer außerparlamentarischen Opposition angenommen hat.

Dieser zivilgesellschaftlichen Artikulation des Unbehagens (malestar) ist es zu verdanken, dass im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen Ende 2013 erste Änderungen am Wahlrecht vorgenommen wurden. Dazu gehört die Abschaffung der Wahlpflicht und die automatische Registrierung aller Wahlberechtigten sowie die gesetzliche Regelung von Vorwahlen, über die alle Bürger_innen die Bestimmung der Präsidentschaftskandidat_innen direkt beeinflussen können. Die Beteiligung der Parteien an diesen primarias - die nicht von ihnen selbst, sondern von der Wahlbehörde organisiert werden - ist indessen freiwillig, das Ergebnis dann aber verbindlich. Das halbe Dutzend der sogenannten unabhängigen Kandidat_innen beharrte zunächst darauf, dass der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 17. November die »wirkliche« Vorwahl sei. Die Allianz des Mitte-Rechts-Blocks und die Parteienkoalition des Mitte-Links-Lagers, die seit der Wiederbegründung der Demokratie die Politik Chiles bestimmen, beugten sich jedoch dem öffentlichen Druck: Sie ersetzten die bis dahin übliche Entscheidungsfindung hinter verschlossenen Türen durch das für Chile neue Prozedere öffentlicher Vorwahlen. Diese fanden am 30.6.2013 in Form eines Wahlgangs statt, der für beide Parteienbündnisse parallel durchgeführt wurde und an dem sich eingeschriebene Parteimitglieder wie auch Unabhängige beteiligen konnten.



Überraschende Wendungen im Mitte-Rechts-Block

Der seit 2010 regierende Mitte-Rechts-Block aus dem politischen Duopol der liberal-konservativen Renovación Nacional (RN) und der rechts-konservativen Unión Demócrata Independiente (UDI) entschloss sich, einen realen Ausscheidungswettbewerb durchzuführen und schickte dafür bereits im November 2012 zwei Kandidaten ins Rennen, die bis dahin Ministerämter in der Regierung von Präsident Piñera bekleideten: Für die RN trat Andrés Allamand an (Verteidigungsminister) und für die UDI Laurence Golborne (zuletzt Minister für Öffentliche Arbeiten).

Im April 2013 wurde Golborne jedoch von der eigenen Partei handstreichartig zum Rücktritt gedrängt und durch Pablo Longueira ersetzt. Diesem gelang in der kurzen Zeit bis zu den Vorwahlen Ende Juni eine beeindruckende Aufholjagd, und so konnte sich Longueira schließlich mit rund 51 Prozent der Stimmen gegen Allamand durchsetzen. Die Karriere Longueiras, zuletzt Finanzminister in der Regierung Piñera, begann unter Pinochet. Er war Vorsitzender der von der Diktatur installierten und kontrollierten Studentenvereinigung (1981-1982), Mitarbeiter im Wohnungsbauministerium des Regimes sowie einer der Organisator_innen von gewaltsamen Störaktionen während des Aufenthalts von Ted Kennedy, der Chile 1986 auf Einladung von Menschenrechtsaktivist_innen besuchte. Während Allamand beim Referendum 1988 mit »Nein« stimmte und damit gegen Pinochet, votierte Longueira damals mit »Ja«. Longueira gehört zu jenem harten Kern der UDI, der in dieser Partei den Erbverwalter des Pinochet-Regimes sieht, dessen »Errungenschaften« auf wirtschaftlichem wie politischem Gebiet unter allen Umständen bewahrt werden sollen.

Zwei Wochen nach Longueiras Triumph bei den Vorwahlen gaben seine Söhne auf einer Pressekonferenz »im Namen der Familie« bekannt, dass bei ihrem Vater eine schwere Depression ausgebrochen sei, weshalb er seinen Verpflichtungen als Präsidentschaftskandidat der Allianz aus UDI und RN nicht weiter nachkommen könne. Am 20.7.2013 nominierte der UDI-Vorstand die bisherige Arbeitsministerin Evelyn Matthei zur neuen Kandidatin. Die RN schloss sich dieser Personalwahl zähneknirschend an, da ihr eigener Kandidat, Allamand, nicht bereit war, an einer erneuten Vorwahl teilzunehmen. So wird Matthei als gemeinsame Präsidentschaftskandidatin des Mitte-Rechts-Blocks in den Wahlkampf ziehen. Der komplexe Prozess der Nominierung hat allerdings die Widersprüche in der rechts-konservativen Allianz dramatisch zugespitzt, so dass bei einer Wahlniederlage mit dem Ausbruch eines offenen Konflikts zu rechnen ist.


Das Mitte-Links-Bündnis auf dem Weg zum Wahlsieg?

In der Endphase der Diktatur schlossen sich Ende der 1980er Jahre die Parteien Partido Demócrata Cristiano (DC), Partido Socialista (PS), Partido por la Democracia (PPD) und Partido Radical Social Demócrata (PRSD) zum Wahlbündnis Concertación de Partidos por la Democracia zusammen. Diese Parteienkoalition - kurz Concertación genannt - konnte die ersten vier Präsidentschaftswahlen seit 1989 gewinnen, stellte somit 20 Jahre lang die Regierung und prägte nachhaltig die Politik Chiles nach der Wiederbegründung der Demokratie. Die unerwartete Wahlniederlage 2009 und der Sturz in die Opposition lösten eine heftige Debatte über die Ursachen des Machtverlustes und die künftige Strategie aus - was zur Spaltung und zum faktischen Ende der Concertación führte:

• Die DC sowie der größte Teil der PS beharrten auf der Fortführung der Concertación, da die Allianz aus Christdemokrat_innen und Sozialist_innen Voraussetzung für die Regierungsfähigkeit des Mitte-Links-Lagers sei - wie das tragische Scheitern der Allende-Regierung belege.

• Für die Mehrheit der Führung sowie der Mitglieder von PPD und PRSD war jedoch gerade die Einbindung der DC in das Parteienbündnis die Ursache dafür, dass eine progressivere Politik in den zwei Dekaden der Regierungsverantwortung der Concertación blockiert wurde. Notwendig sei deshalb eine neue Mehrheit links von der Mitte unter Einbindung möglichst aller Kräfte der politischen Linken.

Nach langwierigen und komplexen Verhandlungen - die am Ende auf alle Kräfte der Opposition ausgeweitet wurden - einigten sich beide Fraktionen der ehemaligen Concertación auf einen Kompromiss: Das bisherige Bündnis aus DC, PS, PPD und PRSD wurde nach links geöffnet und erweitert um Partido Comunista (PC), Izquierda Ciudadana (IC) und Movimiento Amplio Social (MAS). Diese neue Wahlkoalition - die unter dem Titel Nueva Mayoría (Neue Mehrheit) firmiert - bot zu den Vorwahlen vier Kandidat_innen auf: Michelle Bachelet (PS), José Antonio Gómez (Senator und Vorsitzender der PRSD), Claudio Orrego (DC, ehemaliger Bürgermeister von Peñalolén) und Andrés Velasco (unabhängig, vorher Finanzminister in der Regierung Bachelet). Allerdings war dies ein Wettkampf unter Ungleichen, zeigten doch alle Meinungsumfragen, dass die frühere Kinderärztin und ehemalige Präsidentin Chiles (2006-2010), Michelle Bachelet, ihre Mitbewerber weit hinter sich ließ.

Führende Persönlichkeiten der eigenen Partei PS wie auch der PPD haben Bachelet bereits Ende 2011 die Kandidatur angetragen und sie gedrängt, sich zu erklären. Bachelet weigerte sich jedoch beharrlich, Stellung zu beziehen - mit der Begründung, dass es ihre Funktion als Direktorin der UN-Frauenorganisation UN Women (2010-2013) nicht erlaube, sich in die Innenpolitik ihres Heimatlandes einzumischen. Es ist wohl davon auszugehen, dass diese stereotyp wiederholte Antwort anfangs ein diplomatisch verpacktes »Nein« bedeutete. Denn aus der Sicht Bachelets war das Angebot ihrer Parteifreund_innen keineswegs attraktiv: Zum einen verfügt die Ex-Präsidentin bei der Mehrheit der Bevölkerung über ein außerordentlich positives Image, das in der Realität einer neuen Amtszeit leicht Schaden nehmen könnte; zum anderen übte Bachelet eine interessante und prestigeträchtige Tätigkeit auf der internationalen Bühne aus, deren Mandat zwar im März 2013 auslief, aber problemlos verlängert werden konnte. Ihre politischen Freund_innen haben der Parteisoldatin Bachelet aber nachdrücklich erläutert, dass das Mitte-Links-Lager keine personelle Alternative hat, die in der Lage wäre, den/die Vertreter_in des Mitte-Rechts-Blocks bei den Wahlen zu schlagen.

Spätestens mit den Kommunalwahlen im Oktober 2012 wurde der Zeitraum abgeschlossen, in dem Bachelet sich noch gegen eine Kandidatur hätte entscheiden können. Die weiterhin vorgetragene Erklärung, dass sie sich aus Rücksicht auf ihr internationales Amt erst im März 2013 definitiv äußern werde, diente somit einem anderen Zweck als am Anfang: Die klammheimliche Kandidatin wollte möglichst lange von ihrem Amtsbonus aus der Vergangenheit profitieren und sich möglichst spät in die Niederungen des Wahlkampfes begeben. Bachelet führte aber auch als »große Abwesende« eine ganz spezielle Art von Wahlkampf, gingen doch alle - die Medien, ihre Mitbewerber_innen, die Bevölkerung - davon aus, dass sie antreten werde, und nahmen daher ständig Bezug auf die (noch) Nichtkandidatin. Indessen war mit der Taktik des beredten Schweigens auch ein Risiko verbunden: Da offen blieb, für welches Programm die vermutliche Kandidatin stehen werde, projizierten die Wahlbürger_innen ihre je eigenen Vorstellungen auf die Person der ehemaligen Präsidentin - was die außerordentlich hohen Umfragewerte erklärt, die Bachelet im Verlauf des Jahres 2012 erzielte.

Die Befürchtung, dass viele dieser Erwartungen enttäuscht werden würden, verflüchtigte sich rasch: Bachelet verwandelte sich in eine veritable Bewerberin um das Präsidentenamt, verkündete am 27.3.2013 ihre Bereitschaft zu kandidieren, und am 13. April vollzogen PS und PPD in einem öffentlichen Akt die offizielle Proklamation. In den Wochen danach setzte Bachelet auf sorgsam vorbereiteten Veranstaltungen erste programmatische Eckpunkte ihrer Kampagne, sprach sich dabei für kostenlose Bildung, eine Verfassungsreform und ein neues Steuersystem aus und übernahm somit zentrale Forderungen der Sozialbewegung. Es gibt jedoch einen eigentümlichen Widerspruch zwischen der klaren Positionierung der Kandidatin (von den Medien als »Linksruck« charakterisiert) und der personellen Besetzung ihres Wahlkampfteams sowie diverser Arbeitsgruppen für ein Aktionsprogramm der zukünftigen Regierung: Praktisch alle Schlüsselpositionen wurden Vertreter_innen jener parteifernen Gruppierungen der technokratisch-ökonomistischen Intelligenz anvertraut, die für die neoliberale Ausrichtung der ersten Regierung Bachelets verantwortlich waren. Dieser aufscheinende Gegensatz zwischen Wahlkampfankündigung und zukünftiger Regierungspolitik irritierte offenbar nur die professionellen Analyst_innen, beschädigte jedoch nicht die Popularität der Kandidatin.

Mit über 70 Prozent konnte Michelle Bachelet erwartungsgemäß ihre Favoritenrolle bestätigen - sogar für den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen. Doch es gab auch Überraschungen: Selbst Optimist_innen hatten nicht damit gerechnet, dass sich gut drei Millionen Wähler_innen - und damit rund 20 Prozent der Wahlberechtigten - an den für Chile neuen, staatlich organisierten Vorwahlen der beiden wichtigsten Parteiengruppierungen des Landes beteiligen würden. Dies kann als Zeichen dafür gewertet werden, dass die Bürger_innen das politische System weiterhin mittragen - sofern es ihnen Raum für die tatsächliche Partizipation an der Entscheidungsfindung gibt. Eine weitere Überraschung war, dass nicht der Kandidat der DC, sondern der unabhängige Velasco als »zweiter Sieger« aus den Vorwahlen hervorging. Immerhin stand hinter Orrego der Apparat einer seit langem etablierten Partei, während der Newcomer Velasco allein seine (allerdings reichlich vorhandenen) Finanzmittel zum Einsatz bringen konnte.


Der dritte Kandidat im Bunde: Konkurrenz von links

Michelle Bachelet trifft jedoch nicht nur auf die Kandidatin des Mitte-Rechts-Blocks, Evelyn Matthei, sondern auf einen weiteren Mitbewerber um das Präsidentenamt: Marco Enríquez-Ominami von der Partido Progresista (PRO), der dem linken Lager entstammt.

Die PRO wurde 2011 von dem PS-Dissidenten Marco Enríquez-Ominami als Sammlungsbewegung jener Kräfte des Mitte-Links-Lagers gegründet, die sich durch die Parteien der Concertación nicht mehr vertreten sahen. MEO - wie Marco Enríquez-Ominami allgemein genannt wird - war ursprünglich einer der jungen Hoffnungsträger_innen der PS, für die er bei den Wahlen 2005 ein Abgeordnetenmandat errang. Als 2009 die Führungen von DC und PS Eduardo Frei Ruiz-Tagle gegen heftigen Widerstand in den eigenen Reihen als Präsidentschaftskandidaten der Concertación durchdrückten, brach MEO mit seiner Partei und lancierte - von einer Welle der Sympathie frustrierter Anhänger_innen der Linken getragen - eine Kampagne als unabhängiger Kandidat. MEO gelang es aus dem Stand heraus, den größten Teil der Protestwähler_innen für sich zu gewinnen, er erzielte so im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 2009 gut 20 Prozent der Stimmen und löste damit ein politisches Erdbeben aus.

Die PRO hat sich mittlerweile als parteipolitische Alternative links von dem Vierergespann der historischen Concertación konsolidiert. Von dieser sozialen Basis getragen, verfolgt MEO bei den Präsidentschaftswahlen 2013 das offenkundige Ziel, genug Stimmen auf sich zu vereinen, um einen zweiten Wahlgang zu erzwingen, bei dem Bachelet die politische Unterstützung der PRO benötigt, um gegen die Kandidatin des Mitte-Rechts-Blocks zu gewinnen. Über diesen (Um-)Weg soll die künftige Regierung der Nueva Mayoría darauf verpflichtet werden, einige der politischen Reformen anzugehen, die die außerparlamentarische Opposition fordert und MEO im Wahlkampf kompromisslos vertritt. Ob dieser Plan aufgeht, ist naturgemäß ungewiss, doch das dahinterstehende Kalkül wirkt bereits: Die Existenz einer politischen Alternative links der Nueva Mayoría hilft Michelle Bachelet, dem starken Druck zu widerstehen, ihre ursprünglichen programmatischen Aussagen abzuschwächen - jeder Schritt in Richtung Mitte würde links den Raum für die PRO freigeben und den Stimmanteil von MEO erhöhen.


Zukunftsentscheidung im Schatten der Vergangenheit

Die Chilen_innen haben bei ihrem Urnengang die Wahl zwischen zwei Frauen, die in jeglicher Hinsicht für ein anderes Chile stehen. Evelyn Matthei ist die Tochter des Luftwaffengenerals Fernando Matthei, der zwar nicht unmittelbar am Putsch der Militärs 1973 beteiligt war (Matthei war damals Militärattaché in London), 1978 jedoch Mitglied der Militärjunta wurde, der er bis zum Ende der Diktatur angehörte. Michelle Bachelet ist die Tochter des Luftwaffengenerals Alberto Bachelet, der verfassungstreu blieb und sich dem Putsch verweigerte, deshalb von seinen »Kameraden« inhaftiert und gefoltert wurde und im März 1974 an den Folgen der Folter starb. Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte, dass gerade im Jahr 2013, in dem zahlreiche Veranstaltungen an den 40. Jahrestag des Militärputsches erinnern, zwei Präsidentschaftskandidatinnen zur Wahl stehen, deren Biografien die »zwei Chiles« der jüngeren Geschichte repräsentieren. Am Wahltag haben die Bürger_innen über die politische Zukunft Chiles zu entscheiden - doch die Vergangenheit bleibt präsent.



Über den Autor

Reiner Radermacher ist Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Chile.



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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. September 2013