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LATEINAMERIKA/1457: Venezuela - Waffengewalt überschattet politische Unruhen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 7. März 2014

Venezuela: Waffengewalt überschattet politische Unruhen

von Humberto Márquez


Bild: Mit freundlicher Genehmigung eines Twitter-Nutzers, dessen Name aus Sicherheitsgründen nicht genannt wird

Mitglieder motorisierter Kollektive folgen Polizeieinheiten im Zentrum der venezolanischen Hauptstadt Caracas
Bild: Mit freundlicher Genehmigung eines Twitter-Nutzers, dessen Name aus Sicherheitsgründen nicht genannt wird

Caracas, 7. März (IPS) - Seit dem Ausbruch der politischen Unruhen in der zweiten Februarwoche in Venezuela wurden sieben der bisher 20 Gewaltopfer mit Kopfschüssen getötet. Die Fälle zeigen, wie sehr Waffengewalt zu einem festen Bestandteil der derzeitigen Krise geworden ist.

In dem südamerikanischen Land sind lediglich Armee, Polizei und einige tausend Personen berechtigt, Waffen mit sich zu führen. 'Amnesty International' zufolge sind in dem südamerikanischen Land jedoch hunderttausende, wenn nicht gar Millionen Waffen in Umlauf. "Dabei verbietet die Verfassung von 1999 explizit de Einsatz von Feuerwaffen und gefährlichen Substanzen zur Eindämmung friedlicher Proteste", betont Marino Alvarado von der Menschenrechtsorganisation 'Provea'.


Unruhen dauern an

In der Hauptstadt Caracas ziehen allabendlich Wolken aus Tränengas am Himmel auf, die sich mit dem schwarzen Qualm der brennenden Barrikaden vermischen. Aus der Ferne sind Schüsse zu hören, die aus Fahrzeugen und vornehmlich von Motorrädern aus abgefeuert werden.

Erstes Opfer nach Ausbruch der Unruhen war Bassil Dacosta. Der Schreiner wurde am 12. Februar während eines Protestmarsches der Opposition im Zentrum von Caracas erschossen. Vor Ort befanden sich Mitglieder sogenannter 'Kollektive' und Agenten des Geheimdienstes 'Sebin', die sich nach Aussagen von Staatspräsident Nicolás Maduro geweigert hatten, in ihre Kasernen zurückzukehren.

Bei den Kollektiven handelt es sich mehrheitlich um friedlich agierende Nachbarschaftsverbände, die mit der Regierung sympathisieren und soziale Aufgaben übernehmen. Der Anführer eines solchen Kollektivs, Juan Montoya, wurde ebenfalls am 12. Februar erschossen.

Weitere Todesschüsse trafen in den zentralen Bundesstaaten Carabobo und Aragua eine junge Demonstrantin, einen Mann, den Motorradfahrer ins Visier genommen hatten, und einen Hauptmann der Nationalgarde, als er dabei war, eine Barrikade abzubauen. Eine Studentin erlag einem Anschlag mit einem aus nächster Nähe abgegebenen Gummigeschoss. Dutzende weitere Menschen wurden durch Kugeln und Gummigeschosse verletzt.

Für die Niederschlagung der Proteste in mehr als 50 Städten ist in erster Linie die Bolivarische Nationalgarde zuständig, eine für die innere Sicherheit des 28 Millionen Einwohner zählenden Landes abgestellte Sondereinheit, die sich mit Chiles Carabinieri oder der spanischen Guardia Civil vergleichen lässt. Sie untersteht wie Heer, Marine und Luftwaffe den venezolanischen Streitkräften, die insgesamt 135.000 aktive Mitglieder zählen.

Innerhalb der Nationalgarde hat sich im Zusammenhang mit den politischen Unruhen die Volksgarde hervorgetan, die 2011 von dem damaligen Präsidenten Hugo Chávez (1954-2013) zur Bekämpfung der Kriminalität ins Leben gerufen worden war. Ebenfalls bei Demonstrationen eingesetzt wird die 2009 geschaffene Nationale Bolivarische Polizei. Dazu sind die regionalen und kommunalen Polizeieinheiten nicht befugt, die zum Teil oppositionellen Bürgermeistern unterstehen.

Neu in Caracas und einer Handvoll Städte im Landesinnern ist der Anblick motorisierter und bewaffneter Mitglieder regierungsnaher Kollektive, die gegen Demonstranten vorgehen und in regierungsfeindlichen Stadtvierteln Geschäfte, Wohnungen und Fahrzeuge demolieren.

"Das Verhaltensmuster dieser Gruppen lässt vermuten, dass sie von der Volksgarde koordiniert werden. Mit der Zurschaustellung und dem Einsatz von Kriegswaffen agieren sie am Rande der Verfassungsmäßigkeit", kritisiert die Leiterin der Nichtregierungsorganisation Bürgerliche Kontrolle für Sicherheit, Verteidigung und Streitkräfte, Rocío San Miguel.

Einige dieser Gruppen hatten sich bereits vor dem Antritt der Chávez-Regierung 1999 im Stadtteil '23. Januar' im Westen von Caracas gebildet. "Dabei handelt es sich um parapolizeiliche Banden, die am Rande jeder Rechtstaatlichkeit agieren. Sie haben die Kontrolle über viele Bereiche übernommen, angefangen von der Sicherheit bis zum Kleinhandel mit Drogen, und geben sich regierungsnah", berichtet Luis Cedeño von der Nichtregierungsorganisation Aktiver Frieden.


Droh- und Machtgebärden

Nach der Ermordung von Juan Montoya haben Mitglieder seines Kollektivs 'Leonardo Pirela' im Viertel 23. Januar in Tarnkleidung und Sturmmützen eine Totenwache abgehalten. Als dann der Leichenzug das 'Territorium' von 'La Piedrita', einem weiteren Kollektiv, erreichte, wurden eine Minute lang Schüsse zu Ehren von Montoya abgefeuert.

"Derzeit haben wir keine Waffen", meinte der Kollektiv-Aktivist Alberto Carías. "Doch sollte die Demokratie ähnlich wie 2002 von einem Putsch bedroht werden, werden wir uns unsere Waffen und Sturmmützen wiederholen. Sie befinden sich derzeit in den Händen anderer revolutionärer Gruppen", fügte er hinzu.

Carías ist Vorsitzender der Revolutionären Bewegung Túpac Amaru (MRTA), die sich von der Revolutionären Tupamaro-Bewegung abgespalten hat, die sich vom Stadtviertel 23. Januar aus in andere Landesteile verbreitet und als legale Linkspartei zur Unterstützung von Chávez und Maduro etabliert hat.

Die Opposition schert die zivilen Gruppen, die sich ihnen entgegenstellen und ihre Barrikaden räumen, als 'Tupamaros' oder 'Kollektive' über einen Kamm - ungeachtet der Tatsache, dass es sich bei der Mehrheit um friedliche Nachbarschaftsvereinigungen handelt.

Zu Beginn der Proteste hatte Präsident Maduro vor einer "Dämonisierung der Kollektive" gewarnt. Doch am 5. März forderte er sie in einer Rede anlässlich des ersten Todesjahres von Chávez explizit um Unterstützung in der derzeitigen politischen Krise auf. Alvarado zufolge hat er damit gegen die Landesverfassung verstoßen, der zufolge die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung ausschließlich Sache der uniformierten Polizei ist.

Am 6. Februar starben bei einem Schusswechsel im Osten Venezuelas im Umfeld von Barrikaden ein Motorradfahrer und ein Mitglied der Nationalgarde.

Aus oppositionellen Kreisen ist zu hören, dass Maduro die Gruppen vor allem deshalb um Unterstützung gebeten hat, weil er bei den konventionellen Sicherheitskräften - vor allem innerhalb der Marine, der Armee und der Luftwaffe - an Rückhalt verliert. Einem Bericht der Tageszeitung 'El Nacional' zufolge wurden zwei Oberste festgenommen, weil sie gegen die exzessive Repression protestiert hatten. (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnoticias.net/2014/03/armas-hacen-sombra-la-agitacion-politica-en-venezuela/

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IPS-Tagesdienst vom 7. März 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. März 2014