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LATEINAMERIKA/1533: Brasilien - Favelas zwischen Herrschaft und Widerstand (FUE Rundbrief)


Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2015

Gute Stadt - Böse Stadt
Landromantik vs. Stadt für alle

Favelas zwischen Herrschaft und Widerstand
Reflexionen aus einer Favela in der Nordstadt Rio de Janeiros

von Timo Bartholl


Favelas werden in Brasiliens Großstädten die Stadtteile genannte, in denen die ärmeren Bevölkerungsteile leben. Sie sind gekennzeichnet durch meist prekäre Infrastruktur, mangelhafte Versorgung mit städtischen Dienstleitungen und sie werden durch Milizen und Militärpolizeieinheiten oder Drogenbanden kontrolliert. Diese Situation bringt mit sich, dass die BewohnerInnen der Favelas sich vielschichtigen Dominanzformen entgegen setzen müssen, um ihr Leben an der städtischen Peripherie gestalten zu können. Timo Bartholl lebt seit 2008 in der Maré, die aus sechzehn Favelas besteht und in der Nordstadt Rio de Janeiros liegt. Ausgehend von politischer Basisarbeit, untersucht er im Rahmen einer geografischen Forschungsarbeit die vielfältigen Formen von Widerstand, die das Verhältnis der Favelas zur übrigen Stadt und zum Staat kennzeichnen.


Den Hügel hinunter auf dem wir wohnen, fahren wir fast immer links die Avenida Brasil hinunter Richtung Zentrum, selten Richtung Nordstadt. Millionen von ArbeiterInnen aus der Peripherie müssen in gleicher Richtung tagtäglich in das eher kleinräumige Zentrum oder die reicheren Viertel der Südstadt fahren, wo sie überwiegend im Dienstleistungssektor eher schlecht bezahlte Arbeit finden. Je mehr die Menschen auch im räumlichen Sinne peripher in das Stadtleben eingebunden sind, desto mehr Stunden verbringen sie ihr Leben im Stau stehend (in doppeltem Sinne, denn es stehen sowohl der Bus im Stau, als auch die meisten Passagiere im Bus stehen). An der städtischen Peripherie leben bedeutet auch, dass das was vor Ort passiert, nie so wie es passiert in den Medien dargestellt wird. Wird ein zehnjähriger Junge aus nächster Nähe von einem Militärpolizist erschossen, meldet der größte TV-Sender Globo, er sei bei einem Schusswechsel zwischen Polizei und Drogenbanden getroffen worden.


Peripherien als Territorien des Widerstands

Im Rahmen sozialer Basisbewegungen, die ihre Arbeit in Favelas verankern, haben wir vor vier Jahren einen Prozess begonnen, in dem es darum geht, die politische Arbeit als Gruppen selbst zu reflektieren. Die Einladung zu diesem Prozess stand im Dialog mit Raúl Zibechis Ansatz, städtische Peripherie als "Territorien des Widerstands" zu lesen, obgleich mehrere Stimmen dafür sprachen, besser von "beherrschten Territorien" zu sprechen. Wie sonst sollten Favelas genannt werden, angesichts brutaler Polizeigewalt, Milizen, Drogenbanden, die alle auf unterschiedliche Art und mit unterschiedlich hierarchischem Bezug zueinander (die Militärpolizei ganz oben stehend), territoriale Herrschaft in den Favelas ausüben.

Die Wahrnehmung von Dominanzformen, die an städtischer Peripherie zum Ausdruck kommen ist unvollständig, wenn wir die Multidimensionalität ausblenden, mit der sich Dominanzverhältnisse in einer Metropole wie Rio als Ganzes ausdrücken und zueinander in Beziehung stehen. Die Internetseite der lokalen NGO Redes de Desenvolvimento da Maré empfang über einen langen Zeitraum die Besucher ihres Internetauftritts mit einem Luftbild, das mit den Worten: "Nichts darf unmöglich scheinen, sich zu verändern" betitelt war.(1) Da das Bild genau den Ausschnitt der Favelas der Maré zeigte, stellte sich dem oder der BetrachterIn unmittelbar die Frage: "Was soll veränderbar sein und wie?" "Die Probleme in der Maré sind Probleme, die in der Maré zu beheben sind?"


Favelas und andere Stadtviertel im Zusammenhang betrachten

Probleme, denen sich die BewohnerInnen von Favelas gegenüber sehen, können nur verstanden werden, wenn wir ein Luftbildfoto aus wesentlich größerer Höhe aufnehmen, auf dem auch das Zentrum und die Stadtviertel der mittleren und oberen Klassen abgebildet sind. Um die Ursachen und Zusammenhänge von Ungleichheit (immer ein Verhältnis) zu verstehen, die sich in Form von spezifischen Problemen und Dominanzformen in Favelas ausdrücken, müssen sonstige Stadtviertel und Favelas und ihre Beziehungen zueinander betrachtet werden. Der brasilianische Geograph Milton Santos schlug vor, zwischen "Räumen, die befehlen" und "Räumen, die gehorchen" zu unterscheiden.(2)

Aus der Sicht der Favelas zu erwägen, was sich ändern muss in einer Stadt wie Rio, damit Probleme wie in den Favelas der Maré, überwunden werden können, bedeutet, Stadtviertel der oberen und mittleren Klassen direkt in die Problemanalyse mit einzubeziehen. In einer Stadt, in der solche Viertel "befehlen", sind Probleme in Vierteln, die "gehorchen" (weil sie gehorchen müssen, gezwungen etwa durch politische oder ökonomische Dominanzverhältnisse), in erster Linie Resultat genau dieser Dominanzbeziehung. Dabei sind beide Begriffe Metaphern, denn es sind die oberen Klassen, die durch den Raum (als Medium, Ausgangspunkt und Resultat sozialer Beziehungen) beherrschen, indem und wodurch sich Herrschaftsverhältnisse in den Raum einschreiben. Ohne dass Stadtviertel, die "befehlen" (und andere Stadtteile ausbeuten), genau damit aufhören, können Probleme in Favelas, die durch diese Herrschaftsverhältnisse verursacht werden, nicht überwunden werden.


Machtstrukturen vom Rand aus gesehen, erscheinen in anderem Licht

Aus der Sicht Rudolf de Jong's, der Klassenverhältnisse als Zentrum-Peripherie-Verhältnisse diskutiert(3), ist die Perspektive, mit der dieses Verhältnis betrachtet wird entscheidend, da aus der Sicht der Zentren alle Peripherien ein gleiches Problem präsentieren: ihre Ausrichtung in Bezug zu den Zentren.

In dieser Perspektive unterstellen Ansätze, Favelas in die Stadt zu "integrieren" (in der sie nie nicht integriert waren, weil ohne sie das Gesamt-Dominanz-System Metropole ja gar nicht bestehen könnte), indem sie urbanisiert werden(4), dass interräumliche Ungleichheit in Städten wie Rio darin besteht, dass Favelas ungleich gegenüber wohlhabenderen Stadtvierteln "entwickelt" sind. Aus dieser Perspektive ist ein reiches Stadtviertel wie Ipanema dann auch, wie es ein Architekt und Stadtplaner ausdrückt, ein "gutes Stadtviertel".(5) Die Ungleichheit zwischen dem "guten" Stadtviertel Ipanema und problematischen (oder als Problem an sich betrachteten) Favelas solle dadurch verringert werden, dass die Favelas "weniger Favela" und "mehr (ein bisschen zumindest, natürlich bei Weitem nicht genauso wie) Ipanema" sind. Viertel der Mittelschicht (also nicht unbedingt so wohlhabend wie Ipanema) sind Standard, Favelas sind die zu behebende stadt-räumliche Anomalie. Blicke auf Favelas, von den Zentren aus (Stadtregierung, Planungsbüros, Universitäten, etc.), seien sie kritisch oder konservativ, reproduzieren diese Schlussfolgerung: Das Problem (an sich) sind die Favelas. Ein Wechsel der Sichtweise führt jedoch zu anderen Erkenntnissen.

Wenn wir den Blick wandeln und von der Favela auf die Stadt schauen, drehen sich mit der Perspektive auch viele Ursachen-Folge-Ketten und wie wir sie wahrnehmen um. Aus der Sicht der städtischen Behörden etwa sind die Favelas ein Problem. Wie sieht hingegen ein oder eine FavelabewohnerIn die städtischen Behörden?

"Zunächst denke ich, also, dass die städtischen Behörden, die Personen, die da oben sind, ich denke dass sie die Favelas nicht mit gutem Blick sehen [...] Wenn es hier keine Favela gäbe, wäre das [aus Sicht der Behörden] besser [...] Der Arme ist für sie: Wenn Wahlen sind, kommen sie hierher, um sich wählen zu lassen [...] Aber hinterher [...] halten sie ihre Versprechen nicht ein [...] Die Favela ist für sie vergessen [...], die städtischen Behörden in der Favela, stehen für nichts Gutes, nichts Gutes."(6)

Wenn wir vom Rand aus auf die Stadt schauen, tauchen viele Fragen in anderem Licht auf, weil wir die Verhältnisse aus einer ganz anderen Richtung betrachten. Die Favelas in den Metropolen können dann nicht analytisch als Problem, von dem was ihre Probleme verursacht - Ausbeutungsbeziehungen der herrschenden Klassen und ihre Stadtviertel gegenüber den Favelas - isoliert werden. Jedes Dominanzverhältnis, das sich in den Favelas spezifisch äußert, steht direkt in Beziehung zu allgemeinen Herrschaftsverhältnissen und zu oberen Klassen und ihren Stadtvierteln, die von diesen profitieren.

Eine gerechte, egalitäre Gesellschaft kennt weder Zentrum noch Peripherie. Da Zentren sich wohl kaum selbst überwinden in ihrer Funktion als Zentren, ist eine solche nur vorstell-/ realisierbar durch Impulse ausgehend von denjenigen Territorien, in denen sich spezifische Widerstandsformen gegenüber den prinzipiellen Dominanzverhältnissen herausbilden, eben genau dort, wo auch die Formen von Dominanz sich explizit und konzentriert äußern (Wo Herrschaft ist, ist Widerstand(7)). In Territorien, in denen sich spezifische Formen von Dominanz äußern, äußern sich auch die damit verbundenen Widerstände auf spezifische Art. Favelas sind, in eben diesem Sinne, Territorien des Widerstands. Probleme an der Peripherie angehen, um sie zu überwinden, heißt sie von der Peripherie aus anzugehen. Nur wenn Zentren in ihrer Funktion als Zentren überwunden werden, ist es denkbar und möglich, dass Peripherien aufhören Peripherien zu sein.


Der Autor lebt seit 2008 in der Nordstadt von Rio de Janeiro, wo er an sozialen Basisbewegungen beteiligt ist, wie dem Kollektiv und Stadtteilladen Roça! in der Favela Timbau, Maré.


Anmerkungen:

(1) "Nada deve parecer impossível de mudar." Auszug aus der Übersetzung eines Zitats Betrolt Brechts.

(2) Santos, Milton & Silveira, Maria Laura (2001). O Brasil: território e sociedade no início do século XXI. São Paulo: Record.

(3) Jong, Rudolf de (2008). A concepção libertária
revolucionária. São Paulo: Faísca.

(4) Michel Foucault sagt pointierend dazu: "Urbanisieren und polizeilich überwachen sind die gleiche Sache." In: Foucault, Michel (2008). Segurança, território, população. São Paulo: Martins Fontes.

(5) Camargo, José Márcio (2005). Palestra. In: SILVA, Jailson de Souza & BARBOSA, Jorge Luiz. Favela: alegria e dor na cidade. Rio de Janeiro: Senac, S.127-144.

(6) Interview mit einem Nachbarn in der Favela Timbau. Geführt im August 2015.

(7) Der Geograf Claude Raffestin, im Dialog mit Michel Foucault, formuliert: "Wo Macht ist, ist Widerstand."

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Quelle:
Forum Umwelt & Entwicklung - Rundbrief 4/2015, Seite 18-19
Herausgeber: Projektstelle Umwelt & Entwicklung
Marienstr. 19-20, 10117 Berlin
Telefon: 030/678 1775 93, Fax: 030/678 1775 80
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2016

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