Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

NAHOST/1006: Freilassung palästinensischer Häftlinge spaltet Israels Gesellschaft (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 13. August 2013

Nahost: Steiniger Weg zum Frieden - Freilassung palästinensischer Häftlinge spaltet Israels Gesellschaft

von Pierre Klochendler


Bild: © Pierre Klochendler/IPS

Tzion Swery vor einem Gedenkaltar für seine getöteten Kinder
Bild: © Pierre Klochendler/IPS

Tel Aviv, 13. August (IPS) - Nachdenklich steht Tzion Swery vor einem Regal, auf dem er Fotos seiner beiden getöteten Kinder und andere Erinnerungsstücke aufgestellt hat. "Es erscheint mir als Ironie des Schicksals, dass Israel ausgerechnet an ihrem zwölften Todestag damit beginnt, palästinensische Gefangene freizulassen", sagt er.

Auf dem Höhepunkt der zweiten Intifada waren Swerys Sohn Doron, seine Tochter Sharon und sein Schwiegersohn Yaniv Ben-Shalom im August 2001 von militanten Palästinensern aus einem Auto heraus erschossen worden, als sie auf einer Straße im israelisch besetzten Westjordanland unterwegs waren.

Seine Enkeltöchter Shahar und Efrat - damals drei Monate beziehungsweise ein Jahr alt - überlebten den Anschlag, da ihre Mutter Sharon sie mit ihrem Körper schützte. Die Täter wurden später gefasst und zu lebenslanger Haft verurteilt.

Die Männer, die einen Teil von Swerys Familie auslöschten, stehen nicht auf der Liste der 104 Häftlinge, die jetzt von Israel stufenweise in die Freiheit entlassen werden. Sie gelten in Israel als 'Terroristen', weil sie an Angriffen auf Israelis beteiligt waren. Parallel dazu werden die Friedensgespräche zwischen beiden Seiten nach dreijähriger Unterbrechung fortgesetzt.


Lebenslänglich Inhaftierte kommen auf freien Fuß

Zum Leidwesen der Opferfamilien entschied die israelische Regierung vor zwei Wochen, die Gefangenen freizulassen, die bereits vor Inkrafttreten der Osloer Abkommen im September 1993 zu lebenslanger Haft verurteilt worden waren.

In den historischen Verträgen, die von dem damaligen israelischen Premier Jitzchak Rabin und dem früheren Palästinenserpräsidenten Jassir Arafat unterzeichnet wurden, kamen Israel und die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO überein, "gegenseitig ihre legitimen und politischen Rechte anzuerkennen". Die Abkommen führten jedoch nie zu einem endgültigen Friedensschluss.

Die am 30. Juli in Washington angelaufenen Verhandlungen sollen nun zu Ende bringen, was mit den Osloer Abkommen begonnen wurde. Nach der Haftentlassung der ersten 26 Langzeit-Gefangenen wird am 14. August in Jerusalem und in Jericho im Westjordanland eine zweite Gesprächsrunde stattfinden. Die übrigen Häftlinge sollen nach und nach auf freien Fuß kommen, wenn bei den auf neun Monate begrenzten Verhandlungen Fortschritte erzielt werden.

Swery und andere Familien, deren Verwandte von Palästinensern getötet wurden, sind jedoch dagegen. "Wir vertrauen darauf, dass Politik und Justiz diese Mörder nie in die Freiheit entlassen", sagt er. "Wenn sie freikommen, ist es so, als würden unsere Kinder ein zweites Mal sterben."

Jitzchak Frankenthal arbeitet dagegen mit palästinensischen Eltern zusammen, die ebenfalls um Kinder trauern, um Frieden und Versöhnung herbeizuführen. "Wir müssen nun die psychologischen Barrieren von Angst, Hass, Misstrauen und Ignoranz überwinden und beide Regierungen dazu bringen, Frieden zu schließen."

Auch Frankenthal hat einen schrecklichen Verlust erlitten. Im Juli 1994 wurde sein Sohn Arik mit 19 Jahren von Mitgliedern der palästinensischen Hamas gekidnappt und getötet, als er per Anhalter von seiner Militärbasis nach Hause fahren wollte. "Er war ein wunderbarer Junge, der immer lächelte", erinnert sich sein Vater.

"Wenn dieselben Leute, die diese Gefangenen damals gegen Israel in den Kampf schickten, jetzt mit Israel reden, sollten die Häftlinge nicht länger im Gefängnis bleiben", erklärte der ehemalige palästinensische Friedensunterhändler Ziad Abu Zayyad.


Mehr als 6.000 Palästinenser in israelischer Haft

Nach Angaben der israelischen Menschenrechtsorganisation 'B'Tselem' sitzen mehr als 6.000 Palästinenser in israelischen Gefängnissen ein. "Jeder Häftling hat auch eine Familie, eine Gemeinschaft. Viele Menschen sind gefühlsmäßig involviert", meint Abi Zayyad.

Die Palästinenser sehen sie als 'Freiheitskämpfer', die gegen die israelische Besatzung Widerstand leisten. Sie fordern seit langem eine Freilassung der Gefangenen. "Wenn Israel darauf eingeht, zeigt dies den Palästinensern, dass es die Regierung ernst meint. Damit wird sich auch die Atmosphäre bei den Verhandlungen verbessern."

In der bisherigen Lage stehen nicht nur Israelis gegen Palästinenser. Auch israelische Familien vertreten konträre Positionen. "Wenn die Freilassung von Mördern Bedingung für den Frieden ist, dann kann man nicht von Frieden sprechen", meint Swery.

Frankenthal hingegen sagt: "Ich habe Arik verloren, weil es keinen Frieden zwischen uns und den Palästinensern gibt. Leider verstehen wir Israelis nur die Sprache von Gewalt und Macht. Gibt es keinen Terror, besteht nicht die Notwendigkeit, mit den Palästinensern zu reden. Gibt es Terror, warum sollten wir verhandeln wollen? Wir befinden uns in einer klassischen Catch-22-Situation."

Zugleich verweist er aber auf eine einflussreiche Solidaritätskampagne, an der sich Teile der israelischen Zivilgesellschaft beteiligten, um die Freilassung des 2006 von Hamas-Mitgliedern entführten Soldaten Gilad Shalit zu erreichen. Nach mehr als fünf Jahren Geiselhaft kam Shalit frei, als Israel mehr als 1.000 Häftlinge gehen ließ.

Frankenthal sieht keinen Unterschied zwischen einem militanten Palästinenser, der eine Bombe in einem Café zündet, und einem israelischen Piloten, der Gaza-Stadt bombardiert und dadurch Menschen tötet. Vergeben kann der Israeli den Mördern seines Sohnes allerdings nicht. "Das kann nur Gott", sagt Frankenthal leise. "Trotzdem bin ich bereit zur Aussöhnung." (Ende/IPS/ck/2013)


Links:

http://www.btselem.org/
http://www.ipsnews.net/2013/08/freeing-prisoners-at-a-price/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 13. August 2013
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. August 2013