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NAHOST/1032: Irak - Sunniten gründen vor Wahlen neue Partei (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 15. April 2014

Irak: Sunniten gründen vor Wahlen neue Partei - Proteste gegen Verfolgung durch Regierung und schiitische Extremisten

von Karlos Zurutuza


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Teilnehmer des Gründungstreffens der neuen Partei 'Karama'
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Erbil, irakische Kurdenregion, 15. April (IPS) - Während noch unsicher ist, ob in dem von Unruhen erschütterten Westen des Iraks überhaupt wie geplant am 30. April Parlamentswahlen abgehalten werden können, haben sich sunnitische Muslime in der neuen Partei 'Karama' (Würde) zusammengeschlossen.

Stammesobere, politische und religiöse Führer sowie Rechtsanwälte, Ingenieure und Angehörige anderer Berufsgruppen versammelten sich am 8. April in Erbil in der Kurdenregion, um die Partei zu gründen. Die sunnitischen Araber kamen aus mehreren Städten im Westen des Landes, wo elf Jahre nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein nach wie vor gekämpft wird.

Bei den Wahlen werden die 328 Sitze des Parlaments in Bagdad neu besetzt. Auch wenn der amtierende Ministerpräsident Nuri al-Maliki als Favorit gilt, wird nicht erwartet, dass eine bestimmte Partei die Stimmenmehrheit erringen wird. Die schiitischen Araber sind gespalten zwischen Malikis islamischer 'Dawa'-Partei, der nationalen islamischen Bewegung von Muktada al-Sadr und dem Obersten Islamrat des Iraks.


Sunniten wollen neuen Regierungschef

Nach Ansicht von Afifa Agus al-Jumaili, die für Karama kandidiert, wäre eine dritte aufeinander folgende Amtszeit Malikis für alle Iraker "katastrophal". Die sunnitischen Provinzen seien zu einer "Kampfzone" der Stammesmilizen, des Terrornetzwerks Al Qaeda und von Malikis Schiiten geworden, meint Jumaili, die Karama als "einzige Chance" für irakische Sunniten sieht, die ihre Rechte und ihre Würde wiedererlangen wollen.

Karama ist eine der 276 politischen Gruppierungen im Land, die von der Unabhängigen Hohen Wahlkommission zu den Wahlen zugelassen worden sind. Mehrere Parteien versuchen Wähler zu gewinnen, die bisher das inzwischen zersplitterte säkulare sunnitische 'Iraqiya'-Bündnis unterstützt haben. Das Bündnis gewann die letzten Wahlen, wurde dann aber von einer schiitischen Koalition gestürzt, die Maliki an die Macht brachte.

Der Bevölkerungsanteil der Sunniten wird auf 20 bis 40 Prozent der insgesamt etwa 32 Millionen Iraker geschätzt. Die Sunniten sehen sich zunehmend von den vorwiegend schiitischen politischen Führern im Land ausgegrenzt. "Die traurige Ironie besteht darin, dass wir uns alle in der autonomen Kurdenregion versammeln müssen, weil ein solches Treffen im arabischen Teil des Iraks nicht möglich wäre", erklärt Jumaili.


Eigene autonome Region gefordert

Obgleich die Sunniten ein föderales Verwaltungsmodell für ihr Land zunächst ablehnten, fordern sie inzwischen immer lauter eine eigene autonome Region wie die der Kurden.

Jumaili stammt ursprünglich aus der Stadt Hawija, 230 Kilometer nördlich von Bagdad. Am 23. April 2013 hatten irakische Spezialeinheiten dort 51 Demonstranten getötet. Mindestens 215 Menschen starben danach bei gewaltsamen Zusammenstößen.

Im 'World Report 2014' der Menschenrechtsorganisation 'Human Rights Watch' heißt es, dass Sicherheitskräfte "auf friedliche Proteste mit Drohungen, Gewalt und Festnahmen" reagiert hätten. Es sei zu "willkürlichen Festnahmen in oft großem Umfang" gekommen.

Nach dem gewaltsamen Tod der Demonstranten verstärkten sich die Proteste gegen die Regierung insbesondere Mitte Dezember vergangenen Jahres. Zuvor waren mehrere Leibwächter von Finanzminister Rafie al-Issawi, dem mächtigsten Sunniten im Kabinett, wegen Terrorismusverdacht verhaftet worden. Sunniten sind bis auf einige wenige Politiker, die von Maliki vereinnahmt werden, faktisch aus der Regierung ausgeschlossen.

Die Demonstrationen für mehr Rechte und gegen die tödlichen Übergriffe haben den Westen des Landes seit dem Höhepunkt der religiös motivierten Gewalt zwischen 2006 und 2008 in ein beispielloses Chaos abgleiten lassen. Einer der prominentesten Regierungsgegner ist Ghanim Alabed, der aus Mossul, etwa 400 Kilometer nordwestlich von Bagdad, stammt.

"Die Stadt ist im Laufe des vergangenen Jahres ein richtiger Albtraum geworden", sagt Alabed, der sich ebenfalls Karama angeschlossen hat. "Autobomben, Morde an Stammesführern und normalen Bürgern sind bei uns leider wieder an der Tagesordnung." Laut Alabed gehen die meisten Angriffe entweder auf das Konto der irakischen Armee oder schiitischer Milizen. Auch Journalisten würden zunehmend zu Zielscheiben. Seit 2003 seien mindestens 50 Medienvertreter in Mossul getötet worden.


Großteil der Morde an Journalisten ungesühnt

Das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) hat den Irak in einem 2013 erstellten Index als das Land bezeichnet, in dem die meisten Morde an Presseberichterstattern unaufgeklärt bleiben. "Sobald ich nach Mossul, Bagdad oder in andere arabische Gebiete des Iraks käme, würde ich getötet", sagt Alabed, der vor einigen Monaten mit seiner Familie nach Erbil umgezogen ist.

Fast jeder Iraker kennt sein Gesicht, und zwar nicht nur, weil sich Alabed an vielen Demonstrationen beteiligt. Ein staatlich finanzierter Fernsehsender hat zudem Karikaturen gezeigt, die ihn als Terrorist darstellen.

"Die US-Amerikaner haben alle sunnitischen Aufständischen zu Al Qaeda-Mitgliedern abgestempelt. Maliki vertritt heute immer noch diese Haltung", erklärt er. "In Wirklichkeit hassen die meisten von uns Al Qaeda, weil wir wissen, dass das Netzwerk vom Iran unterstützt wird. Sein einziges Ziel besteht darin, unsere Gesellschaft zu zerstören und uns eine Teilhabe an der Macht zu verwehren." Alabed sieht seine These dadurch erhärtet, dass islamistische Extremisten in seiner Heimatstadt nur selten Schiiten angreifen.

Die Zahl der Toten steigt mit jedem Tag weiter an. Mera Faris Hassan, ein Stammesführer aus Samarra, 130 Kilometer nordwestlich von Bagdad, trauert um den kürzlich in seiner Stadt getöteten Scheich Juma al-Samarrai. In Samarra gelte ein Ausgangsverbot, erklärt er. Sowohl die Regierung als auch nicht näher identifizierbare Gruppen verübten fortwährend Angriffe. "Mit Hilfe von Karama werden wir gegen politische Strategien kämpfen, die nur darauf ausgerichtet sind, unser Volk zu unterdrücken", sagt Hassan. "Wir wollen unsere legitimen Rechte als Iraker wiedererlangen."


"Humanitäre Katastrophe" in Falludscha

In fast jedem sunnitischen Gebiet im Irak gilt mittlerweile der Notstand. Die schlimmsten Unruhen könnten noch in Falludscha, 60 Kilometer westlich von Bagdad, bevorstehen. Der Karama-Kandidat Mohamed Jassim spricht von einem Massenexodus von Zivilisten aus Falludscha, die nach Bagdad oder Erbil fliehen.

Die Lage in Falludscha sei eine humanitäre Katastrophe, sagt Jassim. Alle Hauptstraßen seien blockiert. Man komme nur auf Nebenstraßen oder zu Fuß in die Stadt und wieder hinaus. Über die Außenbezirke übten bewaffnete Banden die Kontrolle aus. Laut Jassim ist es schwer zu erkennen, ob sie zu Al Qaeda oder zu Stammesmilizen gehören, denn die meisten von ihnen seien maskiert und trügen keine Erkennungszeichen. "Die größte Bedrohung sind jedoch die permanenten Bombenangriffe der irakischen Luftwaffe".

Ob Karama sich als neue politische Kraft durchsetzen und den Sunniten auf wirkungsvolle Weise eine Stimme geben kann, muss sich erst noch zeigen. Jassim dämpft die Hoffnung auf rasche Veränderungen. Karama, so betont er, sei ein "langfristiges" Projekt. (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/04/iraqi-sunnis-seek-say/

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IPS-Tagesdienst vom 15. April 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2014