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NAHOST/1055: Wünsche in Jerusalem ...    Amal Nashashibi im Gespräch (Martin Lejeune)


Eine Stimme aus al-Quds [1]

Interview mit der palästinensischen Intellektuellen Amal Nashashibi am 26. März 2015 in Ostjerusalem [2]

von Martin Lejeune


Auch wenn die Internationale Gemeinschaft Ostjerusalem und damit die gesamte Altstadt als Teil der Besetzten Palästinensischen Territorien ansieht, wird weder West- noch Ostjerusalem offiziell als Teil des israelischen Territoriums oder eines Palästinenserstaates anerkannt.

Der Teilungsplan für Palästina, der von den Vereinten Nationen im Jahr 1947 angenommen wurde, sah vor, Jerusalem als Corpus separatum der Verwaltung der UNO zu unterstellen. Im Krieg von 1948 wurde der Westen der Stadt von den Kräften des entstehenden Staates Israel eingenommen, der Osten der Stadt von Jordanien besetzt. Die Internationale Gemeinschaft ist weitgehend der Ansicht, daß sich der rechtliche Status aus dem Teilungsplan ergibt und weigert sich aus dem Grund, eine israelische Souveränität über die Stadt anzuerkennen.

Die Palästinensische Autonomiebehörde (PNA) betrachtet Ostjerusalem gemäß Resolution 242 des UNO-Sicherheitsrates als Besetztes Territorium. Die Palästinenserbehörde beansprucht Jerusalem einschließlich des Haram al-Sharif (Tempelbergs) als Hauptstadt des Staates Palästina.

Die PLO macht geltend, daß Verhandlungen über den dauerhaften Status Westjerusalems noch ausstehen. Sie hat sich jedoch bereiterklärt, auch alternative Lösungen, beispielsweise Jerusalem den Status einer offenen Stadt zu verleihen, in Betracht zu ziehen. Die derzeitige Position der PLO lautet, daß Ostjerusalem - maßgeblich sind die Stadtgrenzen von vor 1967 - die Hauptstadt Palästinas und Westjerusalem zur Hauptstadt Israels wird und jeder Staat die volle Souveränität über seinen Teil der Stadt erhält, inklusive einer eigenen Stadtverwaltung. Ein gemeinsamer Rat soll für eine koordinierte Entwicklung sorgen.

Einige Staaten, wie Rußland und China, erkennen den Staat Palästina mit der Hauptstadt Ostjerusalem an. Resolution 58/292 der UNO-Vollversammlung bestätigt, daß das palästinensische Volk das Recht auf Souveränität über Ostjerusalem hat.

Martin Lejeune (ML): Wie ist die Lage in Jerusalem zur Zeit? Wie sieht der palästinensische Alltag aus, wie steht es um die Wohnungssituation?

Amal Nashashibi (AN): Für Menschen, die in Jerusalem leben, ist in der Tat die Wohnungssituation das größte Problem. Insbesondere junge Paare, die heiraten und Kinder bekommen möchten, sind in einer schwierigen Lage. Wohnraum ist knapp und für sie zu teuer. Der Neubau unterliegt zudem für Palästinenser großen Beschränkungen. Anders als man erwarten möchte, ist es sehr schwer, eine Genehmigung dafür zu erhalten. 1967 gab es 19 Wohnviertel in Ostjerusalem und kein einziges wurde seitdem neu errichtet. Die Israelis haben also keinerlei Bauprojekte für Palästinenser initiiert. Im Gegenteil: Wenn Palästinenser bauen, laufen sie Gefahr, daß die Häuser zerstört werden, denn die Jerusalemer Stadtverwaltung erteilt Genehmigungen nur äußerst selten und in sehr ausgesuchten Fällen. Die Menschen bauen allein schon aufgrund des natürlichen Bevölkerungswachstums und gehen, wenn sie das Geld haben, das Risiko ein, ohne Zustimmung zu bauen. Sollte die Stadtverwaltung - wie Nir Barkat [Anm. d. Übers.: israelischer Bürgermeister von Jerusalem seit 2008] es manchmal androht - alle ohne Genehmigung errichteten Gebäude zerstören, käme das einer Verwüstung gleich, weil es rund 15.000 Wohnkomplexe gibt, die so gebaut wurden.


Portraitaufnahme - Foto: © Martin Lejeune

Amal Nashashibi
Foto: © Martin Lejeune

Früher hat die Stadtverwaltung jenen, die ohne behördliche Erlaubnis gebaut haben, ein Bußgeld auferlegt. Jetzt wollen sie auch von den Mietern ein Bußgeld einfordern, wenn sie eine Wohnung oder ein Haus mieten, das nicht genehmigt wurde. Für einen jungen Menschen und für die Familie, die hofft, daß ihre Kinder eine Zukunft in Jerusalem haben, dort leben, arbeiten und bleiben können, ist das wirklich ein Teufelskreis. Das Verhältnis der Bevölkerung zur Verwaltung ist also entsprechend gespannt.

Dazu kommen die Steuern, die wir an die Stadtverwaltung zahlen - jetzt einmal das nationale Problem beiseite, daß die Israelis die demographische Entwicklung in Jerusalem kontrollieren wollen -, dafür erwarten wir natürlich bestimmte Leistungen. Ganz alltägliche Dinge wie den Bau und die Instandhaltung von Straßen, Hilfe bei der Bereitstellung von Schulen und dabei, die Klassenzimmer für die Kinder in einem guten Zustand zu erhalten. Wir bezahlen dieselben Steuern wie die Israelis, aber was wir davon zurückbekommen, macht zehn Prozent des Budjets für ganz Jerusalem aus. Obwohl wir dasselbe zahlen wie die Israelis, sind die Leistungen, die wir bekommen in Prozenten ausgedrückt in einigen Bereichen, beispielsweise der Infrastruktur, sogar noch geringer als zehn Prozent. Das können auch zwei Prozent sein. Sie geben an, keine Infrastrukturprojekte durchführen zu können, weil wir aufs Geratewohl bauen und keine Genehmigungen beantragen. Das mache es schwierig. Die städtischen Leistungen sind sehr ungleich verteilt. Wir sprechen hier jetzt nicht über politische Fragen, wir sprechen über das ganz alltägliche Leben und darüber, wie man uns behandelt.

Der Besatzer ist nach internationalem Recht zu Leistungen verpflichtet. Das ist der Grund für den Beschluß Israels, die Besetzung Jerusalems formal zu beenden und die Stadt 1980 zu annektieren. [3] Sie haben sie annektiert, um sich soviel Land wie möglich anzueignen, nicht, um der Bevölkerung zu helfen, ihren Alltag zu bewältigen. Sie wollen das Land ohne die Menschen und machen es ihnen sehr schwer, zurechtzukommen. Glauben Sie mir, in Jerusalem zu leben und über die Runden zu kommen bedeutet, sich jeden Tag bergan zu kämpfen, manchmal sogar wie Sysiphus. Es ist wirklich sehr schwer, es ist ein hartes Leben. Jeden Morgen wachen wir auf und versuchen, uns alle Probleme zu vergegenwärtigen, mit denen wir uns an diesem speziellen Tag herumschlagen müssen. Das beeinträchtigt Ihre Gedanken und Ihre Pläne, denn entweder müssen Sie ein Papier zur Stadtverwaltung bringen, um beispielsweise den Nachweis zu erbringen, daß Sie schon immer in Jerusalem gelebt haben. Sie stehen unter Generalverdacht zu lügen. Wir haben die ganze Zeit mit Schriftstücken zu tun, die nachweisen, daß wir hier sind und daß wir ehrliche Bürger sind. Manchmal fragen Sie sich, ob das wirklich ein Leben für jemanden ist, der vorankommen und nicht auf der Stelle treten oder manchmal auch zurückgeworfen werden will. Aber so sieht das Leben in Jerusalem aus.


Foto: By Berthold Werner (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons

Jerusalems Altstadt mit dem Felsendom - ferner zu sehen sind: Erlöserkirche, Grabeskirche, Mauer aus der Zeit Herodes und Jüdischer Friedhof
Foto: By Berthold Werner (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons

ML: Kommen wir von dem schwierigen Alltagsleben in Jerusalem zu den Ursachen. Wie ist es zu dieser Situation gekommen? Sie hatten die Kolonisierung Palästinas erwähnt...

AN: Wir nehmen unser Leben als Leben von Menschen wahr, die unter Besatzung stehen. Die israelische Besatzung Jerusalems und Palästinas hat Mitte des 20. Jahrhunderts stattgefunden. Wir sprechen hier über ein Land, in dem die Menschen bereits eine Zusicherung von den Briten erhalten hatten. Denn Palästina war Mandatsgebiet der Briten und diese hatten versprochen, im Jahr 1922 zu prüfen, ob die Menschen in dem Land mit der Unabhängigkeit zurechtkommen würden. In den 1920er Jahren hat Britannien beschlossen, daß die Palästinenser in der Lage seien, sich selbst und selbstbestimmt zu regieren. Was dann aber tatsächlich geschah, ist, daß die Briten zudem darüber befanden, ob wir ein Anrecht auf unser eigenes Land haben oder ob auch noch andere Menschen ins Land gebracht werden müssen. [4] Das ist unser Problem.

Und dann kam ein Unglück nach dem anderen über Palästina. Wir nennen es die Katastrophe, Nakhba. 1967 gab es eine weitere große Katastrophe, vielleicht eine noch größere als die davor oder genauso groß. Jetzt leben wir unter Besatzung, unter Besatzung ist man zum Widerstand verpflichtet. Der Besatzer muß seinen Pflichten nach der Genfer Konvention nachkommen, doch sie haben die Genfer Konvention gebrochen, die besagt, daß der Besatzer keine Bevölkerung aus dem Land des Besatzers in das besetzte Gebiet bringen darf. Sie haben genau das Gegenteil gemacht. Mit der Annektion Jerusalems haben sie die Genfer Konvention dann komplett aus dem Fenster geworfen. Die Genfer Konvention ist ihnen gleichgültig. Und die Amerikaner haben ihnen geholfen. Bis Clinton kam waren wir und sogar Jerusalem, war das palästinensische Problem die ganze Zeit ein internationales rechtliches Problem. Clinton hat beschlossen, daß die Genfer Konvention für diesen Fall nicht gilt, und die Israelis hatten damit noch freiere Hand in Jerusalem, ohne Rücksicht auf die Verpflichtungen nach internationalem Recht nehmen zu müssen. Die Frage ist, ob die Israelis anerkennen, daß wir seit unzähligen Jahren hier in Jerusalem und in Palästina sind und daß wir es als unser Land betrachten. Wir sind hier, wir sind nicht plötzlich auf den Bäumen gewachsen, wir leben hier seit vielen Generationen. Wir erwarten, das Gefühl haben zu können, daß dies unsere Stadt ist, und ich meine, daß wir einen berechtigten Anspruch darauf haben.

Ich erinnere mich daran, wie ich jeden Tag in der Altstadt zur Schule gegangen bin, ich kenne die Altstadt auswendig. Sie können mir die Augen verbinden, ich finde meinen Weg durch die Straßen und kann Ihnen in jeder Sekunde sagen, wo ich mich befinde. Keiner kann kommen, kein Israeli als Besatzer, und mir erzählen, daß das nicht meine Stadt ist. Wer kann so etwas akzeptieren? Würde ein Berliner akzeptieren, daß jemand, der von außen kommt, Berlin besetzt? Ich meine, das war der Fall nach 1945, aber was geschah dann? Dachten die Berliner, daß Berlin ihnen nicht gehört?


Foto: © Dierk Schaefer, Lizenz: CC BY 2.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Die Grabeskirche in Jerusalems Altstadt
Foto: © Dierk Schaefer, Lizenz: CC BY 2.0
(https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Ich fühle dasselbe. Ich fühle, daß diese Stadt zu mir gehört, genauso sehr wie zu einem anderen. Ich habe einen sehr alten Freund, er ist griechisch-orthodox und hat ein Buch geschrieben mit dem Titel: I am Jerusalem (Ich bin Jerusalem). [5] Er hat auch über das hellenistische Jerusalem geschrieben. Ich bin Muslimin und er ist griechisch-orthodox, aber ich liebe dieses Buch, ich finde es wundervoll. Was ich daran am meisten mag, sind die Gefühle dieses Mannes für die Stadt. Ich kannte diesen Teil von Jerusalem nicht und er hat ihn mir gezeigt. Ich fühle mich privilegiert, weil dieser Mann Jerusalem als zu ihm gehörig, als seinen eigenen Ort empfindet, genauso wie ich es gern zu meinem eigenen Ort machen würde. Tatsächlich hat wohl jeder, der über die Jahrhunderte nach Jerusalem gekommen ist, es zu seinem eigenen Ort gemacht. Wenn man in der Altstadt spazierengeht, gibt es das marokkanische Viertel und das usbekische Viertel, es gibt das jüdische Viertel von vor '48, das armenische Viertel und es gibt das Viertel der Afrikaner. Jerusalem war über die Jahrhunderte hinweg eine offene Stadt, die jeden willkommen hieß, der die Idee, in einer gemischten Stadt zu koexistieren, als sein grundlegendes Prinzip angenommen hat. Die Menschen haben über Jahre und Jahre hinweg hier zusammengelebt. Sie haben sich ihre ursprüngliche Identität bewahrt, aber sie sind Jerusalemer geworden.

Ich habe einen Freund, der ursprünglich aus dem Tschad stammte. 1970 kam er ins Gefängnis, und weil er einen tschadischen Paß hatte, brachten die Israelis das französische Konsulat ins Gefängnis und sagten: Wir sind bereit, ihn auszuweisen. Wenn Sie ihn übernehmen, können wir ihn begnadigen, aber er muß das Land verlassen und darf nie wieder zurückkehren. Er beschloß, die Gefängnisstrafe von mehreren Jahren abzusitzen, um nicht aus Jerusalem verbannt zu werden, dabei stammt er aus dem Tschad. Seine Eltern sind einmal von dort hierhergekommen und lebten im afrikanischen Viertel. Das ist das Jerusalem, das wir uns wünschen.

Ich kann Ihnen noch eine weitere Geschichte erzählen: Meine Großmutter hat, als sie 1948 in großer Eile ihr Haus in Westjerusalem zurücklassen mußte, ihren Schmuck bei einer jüdischen Familie gelassen. Im Jahr 1967 hat diese jüdische Familie den Schmuck zurückgegeben. Sie haben uns den Schmuck gegeben, den sie von 1948 bis 1967 aufbewahrt hatten. So sieht es aus, wenn wir nicht über die Suprastruktur Jerusalems und die damit verbundenen Probleme sprechen, sondern von den Menschen und darüber, wie die Menschen mit der Stadt interagieren und wie sie in der Stadt leben wollen. Die übergeordnete Struktur ist zur Zeit sehr repressiv, allüberwachend und menschenverachtend. Sie wollen unsere Anwesenheit zum Zwecke einer Hegemonie beiseiteschieben. Es ist, als sei es Angelegenheit der israelischen Regierung, Menschen umherzuschieben, statt jedem, der dort ist, zu dienen, den Menschen zu helfen und ihre Aufgaben als Regierung zu erfüllen.

Ich glaube an Jerusalem und ich wünschte mir, es würde zu dem zurückkehren, was es einmal war. Aber ich will mir keine Illusionen machen, ich weiß, daß die neuen Realitäten sehr dunkel und sehr traurig sind, aber ich muß trotzdem über das sprechen, was in Jerusalem geschieht. Wenn es so weitergeht, glaube ich nicht, daß es noch lange einen Punkt gibt, an dem man wieder zurück kann. Es wird schlimmer werden, und die jungen Menschen werden sich vollkommen ohne Hoffnung empfinden. Sie sehen keine Zukunft für sich, welche Reaktion erwartet man von ihnen? Was würde ein Israeli von einem jungen Menschen erwarten, der die Macht über alles verloren hat, was er tun möchte - sogar über seine Träume? Darüber, ob er oder sie davon träumen kann, daß es für ihn oder sie einmal besser wird? Unglücklicherweise sehen sich diese jungen Leute in einer aussichtslosen Lage. Das ist sehr schlimm. Ob wir es auf uns selbst gestellt schaffen können, die Situation umzukehren, ist fraglich, uns fehlt die Macht dazu. Die Israelis haben alle Macht in den Händen, alle Waffen, alle Gesetze. Wir sind nicht in der Lage, etwas zu erreichen, außer die eine oder andere gewalttätige Auseinandersetzung. Und das droht, sich zu einer Lebensweise zu entwickeln. Wenn die Dinge sich nicht zum Besseren ändern, könnte diese Gewalt zu einer alltäglichen Erscheinung werden, statt ein sporadisches Ereignis zu bleiben, wie es das jetzt ist.

Wenn uns nicht dieselben Kräfte helfen und unterstützen, die dies über uns gebracht haben, sehen wir wirklich nicht, wie wir aus diesem Teufelskreis ausbrechen können. Es darf nicht sein, daß Israel und all die großen Mächte zusammenspielen und dafür sorgen, daß eine Seite mit etwas davonkommt, das an Mord heranreicht. Ich denke, wir brauchen Hilfe von außerhalb, in Form von Besuchen beispielsweise, daß man kommt, um es sich anzusehen, Berichte von Diplomaten. Die USA, die Israel als ihren ewigen Verbündeten betrachten, müssen sich ansehen, ob das, was hier geschieht, fair ist oder nicht. Manchmal denkt man, daß sich vielleicht etwas ändern wird, doch wenn man dann sieht, wie die Amerikaner mit dem umgehen, was hier passiert, kommt man dazu, daß es sehr wenig Hoffnung gibt. Die Amerikaner haben ihre Haltung nicht geändert. Statt für etwas mehr Ausgewogenheit zu sorgen, stellen sie sich die ganze Zeit auf die Seite der Israelis und lassen uns total im Limbus hängen. Wir fühlen uns hilflos - unglücklicherweise.

ML: Sie sagten, Sie glauben an ein Jerusalem für alle Menschen und an eine Ko-Existenz als Jerusalemer. Dabei unterscheiden Sie zwischen den von der israelischen Stadtverwaltung vertretenen hegemonialen Interessen und dem Leben der Jerusalemer unterschiedlichster Herkunft. Wie steht es um die jüdischen Menschen in der Stadt?

AN: Es zeichnet den Geist Jerusalems aus, daß die Christen und ich als Muslimin auf dieselbe liebevolle Weise über die Stadt sprechen können und bei allem, was geschieht, das Gefühl eines gemeinsamen Schicksals haben. Wir kämpfen für dieselbe Sache. Das ist das Jerusalem, in dem ich mich wohlfühle, ich bin gern Teil der Menschen in Jerusalem. Unglücklicherweise habe ich nicht die Gelegenheit gehabt, dasselbe einem Juden gegenüber zu empfinden, weder für eine Frau noch für einen Mann. Ich finde das sehr bedauerlich und schade für mich. Wenn ich in einem anderen Land leben würde, in dem die Beziehung nicht wie die vom Reiter zum Pferd wäre, hätte ich das Gefühl, daß wir einfach alle Menschen sind. Wenn wir dieselben Ideen und Überzeugungen teilen, nehme ich ganz automatisch Kontakt auf, mit jedem Menschen. Ich bin mir sicher, daß es andere gibt, die jüdische Freunde haben, aber ich habe diese Erfahrung nicht gemacht. Vielleicht habe ich nicht danach gesucht, weil ich spürte, daß etwas Schlimmes in Jerusalem passiert, das der Stadt schadet, und davon überzeugt bin, daß Israel das verursacht. Unglücklicherweise habe ich nicht zwischen Israelis und Juden unterschieden, das Problem könnte also bei mir liegen. Mein Gefühl gegenüber Jerusalem ist, daß es eine Stadt für alle ist - unter der Voraussetzung, daß sie in Frieden kommen und in Frieden leben wollen. Sie ist für jeden da und existiert und gedeiht auf diese Weise seit Generationen.

Glauben Sie mir, wenn Sie in der Altstadt spazierengehen und diese Vielfalt an Menschen sehen, denken Sie ganz unwillkürlich: Ich wünschte, es gäbe keine Grenzen und keine Visa, wie es früher einmal war. Denn so war es einmal. Wenn Menschen nach Jerusalem kamen, nach oder auf einer Pilgerreise, und bleiben wollten, hat niemand nach Papieren gefragt. Sie sind von einer Pilgerfahrt nach Mekka hierhergekommen und haben beschlossen: Das ist eine Stadt, in der ich gern leben würde, und sind geblieben.

Zur Zeit der Römer wurden die Juden aus Jerusalem verbannt, wegen der Aufstände der Makkabäer. Es war dann Umar Ibn Al Khattab, der erste Kalif Jerusalems, der mit dem byzantinischen Patriarchen von Jerusalem verhandelt hat und 70 Familien zurückholte. Er wollte eigentlich 140 Familien zurückholen, doch der Patriarch meinte, nein, nein, die machen nur Probleme. Also einigten sie sich auf 70 Familien. Der nächste, der Juden nach Jerusalem zurückbrachte, war a-Din [a-Din Yusuf ibn Ayyub, Saladin]. Saladin hat Jerusalem für die Juden geöffnet. Ich meine, ich lebe in einer Stadt, in der ich jeden Tag spüre, wie vielfältig, wie gemischt sie ist, in deren Geschichte Menschen verbannt, aber auch wieder zurückgeholt wurden und in Harmonie zusammenlebten. Natürlich gab es Zeiten in denen der eine oder andere törichte Kalif die Christen schlecht behandelt hat - einer von ihnen zerstörte die Heilige Grabkammer [6] - aber durch die Geschichte hindurch hat es immer eine Toleranz oder Koexistenz gegeben.


Foto: Gemeinfrei -Quelle: Bibliothek des US-Kongresses

Al-Aksa Moschee um 1900
Foto: Gemeinfrei
Quelle: Bibliothek des US-Kongresses

Aus diesem Grund habe ich Ihnen zum Beispiel von diesem Buch erzählt. Hier ist ein Christ, der über das Leben in Jerusalem erzählt. Er wohnte früher im muslimischen Viertel, die meisten seiner Freunde waren Muslime. Er taucht sogar in die Geheimnisse seiner muslimischen Freunde ein, weil sie sehr vertraut miteinander waren. Als Kind spielte er auf dem Gelände der Al-Aksa-Moschee. Miemand hat es ihm, dem christlichen Jungen verwehrt, er ging in die Esplanade der Al-Aksa-Moschee, um dort zu spielen und zu essen. Das ist der Grund, wieso dieser Mann das Buch geschrieben, und wir sind ihm dankbar dafür, daß er das erzählt. Es liegt uns am Herzen.


Foto: © Andrew Shiva - Lizenz: CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Al-Aksa Moschee 2013
Foto: © Andrew Shiva - Lizenz: CC BY-SA 3.0
(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Wir sind ihm dankbar für seine Erinnerungen an sein Leben in Jerusalem und dafür, daß er zeigt, daß es für alle möglich war, gemeinsam in dieser Stadt zu leben. Die Probleme gab es immer mit der Regierungsmacht, weniger unter den Menschen.

ML: Was halten Sie vom Zionismus? War er als nationalistische Bewegung erfolgreich?

AN: Er gehört zu den ganzen Bewegungen des 19., 20. Jahrhunderts, hauptsächlich in Europa, die sich für einen Nationalstaat einsetzten oder dafür, das Leben von Menschen entlang der Linie sich unterscheidender Nationen zu entwickeln, die also nach unterschiedlichen Nationalitäten in Europa strebten. Der Zionismus entspricht dieser Beschreibung für Europa und auch für den Nahen Osten, denn in den 1950ern und nach der Unabhängigkeit gab es Staaten, die auf diese Weise geschaffen wurden. Aber was gut für Europa war, war weder gut für die arabischen Länder noch für Israel, denn der Zionismus wurde nicht nur von den nationalen Bestrebungen der jüdischen Menschen getragen, sondern auch durch den Kolonialismus unterstützt. Es gab also im selben Zeitraum einen Widerspruch, was die nationale Bewegung betrifft, denn es gab die Verbindung zum Kolonialismus. Das machte es noch schwieriger für den Zionismus, erfolgreich zu sein, als es für einen syrischen Nationalstaat war -, wobei wir jetzt sehen, daß dieser es auch nicht ist. Wir sehen jetzt einen Zerfall der Nationalstaaten in der arabischen Welt.


Foto: By Berthold Werner (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons

Die Davidszitadelle, eine Festung in der Altstadt Jerusalems
Foto: By Berthold Werner (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons

Für den Zionismus war es problematischer, im Kontext des Nahen Ostens erfolgreich zu sein, als in Europa. Ganz gleich, wie sehr sich die westlichen Juden bemühten, der Zionismus hatte ein inhärentes Problem. Er hatte zunächst einmal ein Problem als Nationalstaat im Nahen Osten, wo es viele ungelöste ethnische Konflikte gibt. In Europa hat man diese Probleme möglicherweise unterdrückt, bevor die Staaten oder die Republiken gegründet wurden. Der Zionismus jedoch sieht sich hier einer doppelten Schwierigkeit gegenüber. Zum einen löst er nicht das Problem seiner verschiedenen jüdischen Ethnien. Zum anderen ist er nicht wirklich eine Befreiungsbewegung in einem Land, sondern sie sind in ein Land gekommen, um es von den Menschen zu befreien, die schon dort lebten. Und das ist das, was ich nicht verstehen kann. Es ist keine Befreiungsbewegung - vielleicht eine nationale Bewegung, aber unglücklicherweise hat sich diese mit der Ideologie des Kolonialismus verknüpft.

Das sind die Fragen, die zu berücksichtigen sind, wenn die Israelis versuchen herauszufinden, ob der Zionismus eine wirkliche Antwort auf die jüdische Frage ist, also ob der Zionismus, als er begann, die Antwort auf das Problem der Juden war. Was mich betrifft, so betrachte ich ihn nicht als nationale Bewegung, ich sehe ihn als kolonialistische Bewegung.

ML: Würden Sie sagen, daß die Hamas eine antikolonialistische Bewegung ist?

AN: Die Hamas ist für mich eine religiöse Bewegung, die im Namen der Religion kämpft. Mir persönlich wäre eine Trennung zwischen Religion und säkularen Fragen lieber. Die Hamas kämpft, wenn man so will, im Namen des Dschihad. Im Koran heißt es, daß du dein Land verteidigen mußt, wenn es angegriffen oder bedroht wird, und Dschihad ist der Name für dieses Handeln. Du kämpfst für deine Religion, für dein Land, deinen Besitz und für dein Volk. Sie fassen es als religiöse Pflicht auf, sich zu befreien oder sich zu verteidigen. Ich würde den säkularen Kampf um Unabhängigkeit oder Befreiung vorziehen. Für mich ist das so, aber die Menschen sind frei zu glauben, was sie wollen. Dschihad ist eine religiöse Pflicht, ich empfinde es hingegen als zivile Pflicht, für meine Befreiung zu kämpfen. Das ist meine Meinung über die Hamas und darüber, ob es sich um eine nationale Befreiungsbewegung handelt. Gemäß ihrem Glauben sind sie das, sie selbst sehen sich als nationale Befreiungsbewegung.

ML: Würden Sie demgegenüber meinen, daß die PFLP (Volksfront für die Befreiung Palästinas) eine antikolonialistische Bewegung ist?

AN: Es ist eine säkulare Bewegung mit einer antikolonialistischen, antiimperialistischen, linksgerichteten Ideologie. Sie haben den Kampf nicht als religiösen, sondern als säkularen Kampf geführt. Das ist ihre Ideologie, so wie der Dschihad die Ideologie der Hamas ist. Das sind die Fragen, an denen wir arbeiten müssen. Genauso wie die Israelis sich mit ihren Problemen, mit dem Nationalismus und ihrer Verbindung zum Kolonialismus konfrontieren müssen, müssen wir uns damit auseinandersetzen, ob wir für einen säkularen oder für einen religiösen Staat kämpfen wollen.

ML: Welche Bewegung ist Ihrer Meinung nach die stärkste antikolonialistische Kraft in Palästina? Die PLO?

AN: Die PLO hat in ihren Anfängen diese Rolle erfüllt. Die jungen Leute, die mit dieser Bewegung den Kampf aufgenommen haben, haben sich für die Befreiung eingesetzt. Für die Menschen, die nicht den arabischen Nationalismus wählten, war das der Ausgangspunkt, für George Habash [7] und diese Leute zum Beispiel. Sie kamen ursprünglich aus dem arabischen Nationalismus. Als der bewaffnete Kampf begann, gingen sie in die Camps und einige, die einer linken Ideologie folgten, fingen an, ihren Kampf auf antikolonialistische Weise zu begründen. Aber auch die Leute in der Fatah, die den Mainstream darstellt, kamen aus der arabisch-nationalistischen Bewegung.

ML: Welche Organisation ist im heutigen Palästina die stärkste antikolonialistische Bewegung?

AN: Ich würde sagen, die PFLP zur Zeit.

ML: Wie steht es um die BDS? (Boykott, Divestment und Sanktionen) Sehen Sie die BDS als antikolonialistische Bewegung?

AN: Die BDS ist eine antikolonialistische Bewegung, absolut. Es handelt sich um junge Leute einer anderen Prägung, die nicht an einen gewaltsamen Kampf gegen Kolonialismus denken, sondern an einen gewaltlosen Weg. Ihre erste Forderung ist das Ende der Besetzung, ihre zweite: Rückkehrrecht und Entschädigung für Palästinenser entsprechend UNO-Resolution 194 und die dritte: Aufgabe der israelischen Siedlungen und gleiche Rechte für die Menschen innerhalb der Grenzen von 1967, für die Araber, die in Israel leben. Ja, ich denke, sie sind unerschütterliche Antikolonialisten.

ML: Frau Nashashibi, ich bedanke mich für dieses ausführliche Gespräch.



[1] arabischer Name für die Stadt Jerusalem

[2] Amal Nashashibi stammt aus einer der ältestens und bekanntesten palästinensischen Familien Ostjerusalems. Sie unterstützt die "Coalition for Jerusalem" als Beraterin für Öffentlichkeitsarbeit, betätigt sich publizistisch und im kulturellen Bereich. Die "Coalition for Jerusalem" wurde 2004 als eine Vereinigung in Jerusalem beheimateter religiöser Würdenträger, politischer Fraktionen, Organisationen der Zivilgesellschaft und Einzelpersonen gegründet. Sie versteht sich als gewaltlose Direct-Action-Gruppe im Widerstand gegen die Bestrebungen der israelischen Regierung, den Status und den Charakter von Ostjerusalem, der Hauptstadt eines zukünftigen palästinensischen Staates zu verändern.
http://cosmos.ucc.ie/cs1064/jabowen/IPSC/php/authors.php?auid=32332
http://coalitionforjerusalem1.blogspot.de/2007/05/master-plan-2000-english-translation.html

[3] Mit Beschluß der Knesset vom 30.07.1980 wurde Jerusalem einschließlich des 1967 besetzten Ostjerusalem zur "ewigen und unteilbaren Hauptstadt Israels" erklärt.
http://www.mfa.gov.il/mfa/mfa-archive/1980-1989/pages/basic%20law-%20jerusalem-%20capital%20of%20israel.aspx

[4] "Mehrfach hält besser, das war wohl die Devise der britischen Regierung. Denn am 2. November 1917 versprach sie auch den Zionisten das bereits vorher auch den Arabern angebotene und eigentlich stets sich selbst zugedachte Heilige Land. Dieses Versprechen ging als Balfour-Erklärung in die Weltgeschichte ein." [...]
Das vom Völkerbund im Juli 1922 verabschiedete britische Mandat über Palästina bestand, grob gesprochen, aus folgenden Gebieten: dem heutigen israelischen Kernstaat in seinen Grenzen vor den Eroberungen des Sechstagekrieges, dem Ostjordanland, dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen. Das Mandat wurde in diesen Grenzen Großbritannien im Juli 1922 zugesprochen.
(Michael Wolffsohn: Die Briten im Heiligen Land - 20. Jahrhundert, 28.3.2008)
http://www.bpb.de/internationales/asien/israel/44971/briten-im-heiligen-land?p=all

[5] "I am Jerusalem" von John Tleel beschreibt das Leben in Jerusalem beginnend mit den 1930er Jahren.
http://iamjerusalem.com/home.htm

[6] Al Hakim, Kalif von Ägypten und Herrscher des (schiitischen) Fatimidenreiches, das die Region von Tunesien und Sizilien im Westen bis Mekka und Syrien im Osten umfaßte, befahl im Jahr 1010 die Zerstörung der Heiligen Grabeskirche in Jerusalem.

[7] George Habash, geboren 1925 in Lydda, einem kleinen palästinensischen Ort östlich von Tel Aviv, ist griechisch-orthodoxer Christ. In den frühen 1950ern war er Mitglied der Organisation "Widerstand gegen eine politische Einigung mit Israel". Er schloß sich der pan-arabischen Bewegung Gamal Nassers an, rief dazu auf, den nationalen Kampf für Palästina in einem vereinten arabischen Kampf zu führen, und begründete die Arabische Nationalbewegung. Nach dem Krieg von 1967 wandte er sich radikal-sozialistischen Ideen zu und gründete im Jahr 1968 die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP).
https://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/biography/habash.html

*

Quelle:
Martin Lejeune, 26.03.2015
Freier Journalist, Berlin
E-Mail: info@martinlejeune.com
Homepage: www.martinlejeune.com
Facebook: www.facebook.com/lejeune.berlin
Blog: martin-lejeune.tumblr.com

Transkription und Übersetzung aus dem Englischen:
Redaktion Schattenblick


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2015

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