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NAHOST/443: Irak - Doppelte Besatzung (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 2. Januar 2009

Doppelte Besatzung

Sunnitische Nationalisten sehen in Schiiten mögliche iranische Besatzer, die für den Irak gefährlicher seien als die US-Armee. Durch diesen Perspektivwechsel ist der Siegeszug des Befreiungskampfes gestoppt

Von Joachim Guilliard


Anfang 2007 schien der irakische nationale Widerstand auf einem unaufhaltsamen Erfolgskurs zu sein. Zu den militärischen Erfolgen kamen die Vereinigung unzähliger, vorwiegend sunnitischer Gruppen und eine stärkere öffentliche Wahrnehmung ihrer politischen Positionen. Mittlerweile wurde es um den Widerstand ziemlich still. Auch wenn er den US- und Regierungstruppen nach wie vor kräftig zusetzt, gingen seine Aktivitäten deutlich zurück. Zum Teil, weil die Anfang 2007 eingeleitete Eskalationsstrategie der USA die Guerilla in den betroffenen Gebieten - vor allem Bagdad und Umgebung - zum Rückzug zwang. Weit mehr jedoch beeinträchtigte der Kurswechsel sunnitischer Nationalisten Schlagkraft und Aktionsradius der Kampfgruppen. Konfrontiert mit drei gefährlichen Gegnern, sahen viele nicht im Kampf gegen die US-Besatzung, sondern gegen Al-Qaida und die als »iranische Besatzung« wahrgenommene Dominanz schiitischer Parteien die vordringlichere Aufgabe und begannen, über Stammesräte taktische Bündnisse mit den Besatzern einzugehen. Die US-Regierung läßt die Zusammenarbeit mit diesen »Awakening-Räten«, diesen »Erweckungsräten«, als Ergebnis ihrer neuen Aufstandsbekämpfungsstrategie feiern. Diese Räte haben jedoch ihre Ursprünge nicht in der Kollaboration mit den Besatzern, und sie beinhalten auch keinesfalls eine endgültige Absage an den Widerstand oder gar an die Akzeptanz der Besatzung.


Die »Erweckung der Stämme«

Die Bündnisse bedeuteten für die USA zunächst eine radikale Abkehr von ihrer bisherigen Politik gegenüber der sunnitischen Bevölkerung. Im Bestreben, Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen, waren die Besatzer im Verein mit ihren kurdischen und schiitischen Verbündeten von Beginn der Besatzung an mit besonderer Härte gegen Sunniten vorgegangen; so sind prozentual zwölfmal mehr von ihnen in US-Gefangenschaft als Schiiten. Diese Brutalität wiederum befeuerte eine rasant wachsende militärische Gegenwehr in den sunnitischen Provinzen, welche die US-Truppen nicht mehr in den Griff bekamen.

Die Armeeführung hatte 2006, wie publik gewordenen Geheimdokumenten zu entnehmen ist, eingesehen, daß sie militärisch nicht gewinnen kann. Sie begann in der bis dato am heftigsten umkämpften Provinz Anbar ihre Offensiven einzuschränken und Verhandlungen mit lokalen und regionalen Stammesräten aufzunehmen. Diesen wurde das Recht zugestanden, die örtlichen Angelegenheiten in die Hand nehmen und eigene Sicherheitskräfte aufstellen zu können. Im Gegenzug sagten sie zu, für Ordnung zu sorgen und gegen Al-Qaida vorzugehen. Stammesangehörige, die sich bereiterklärten, gegen Al-Qaida und sonstige Störenfriede zu kämpfen, erhielten von den USA Ausrüstung und einen monatlichen Sold. In der Folge entstanden in Anbar, später auch in Bagdad und in den anderen sunnitischen Provinzen, eine Vielzahl weiterer Awakening-Räte und Milizen, irakisch »Al-Sahwa« oder »Sahwat«, von den Besatzern gerne euphemistisch als »Söhne Iraks« (SOI) oder »concerned local citizens« (CLC, betroffene Bürger) bezeichnet. Das US-Militär bewaffnete und finanzierte schließlich jeden Stamm und jeden Milizkommandeur, der die Herrschaft über ein Gebiet, und sei es nur ein Stadtviertel, sicherstellen konnte und bereit war, mit den Besatzern zu kooperieren. Die Angaben über die zahlenmäßige Stärke dieser Milizen schwanken. Die US-Armee spricht von 80000 bis 100000 Milizionären, die für 300 US-Dollar monatlich Polizei- und Wachaufgaben übernehmen und an ihrer Seite gegen Al-Qaida vorgehen würden.

So widersprüchlich wie die Berichte über sie sind, so widersprüchlich ist die Awakening-Bewegung selbst. Sie reicht von echten Kollaborateuren und Warlords, die für Geld zu allem bereit sind, bis hin zu strammen Nationalisten, die sich nur soweit wie nötig mit den Besatzern einlassen, um vor Ort die Kontrolle übernehmen zu können. Traditionelle Stammeskultur und -rivalitäten sorgen für eine zusätzliche, eigentümliche Dynamik.


Gegen Al-Qaida ...

US-Regierung und Armeeführung feiern die Al-Sahwa-Milizen als großen Erfolg ihrer neuen, mit einer massiven Truppenerhöhung verbundenen Strategie, der sogenannten »Surge« (siehe jW-Thema vom 1.12.2008), und stellen dabei gemäß ihrer gängigen Propaganda den gemeinsamen Kampf gegen Al-Qaida in den Vordergrund. Doch ein guter Teil der Stammesräte war lange vor der »Surge« entstanden. Bereits im Sommer 2005 hatten viele Stämme im Verein mit Widerstandsgruppen begonnen, aktiv gegen die sunnitischen Extremisten vorzugehen. Sie mußten zu diesem Zeitpunkt zwei Kämpfe führen, so ein Sprecher der dem Widerstand nahestehenden »Vereinigung der islamischen Religionsgelehrten« (AMS): einen »gegen die Besatzer und den von ihnen eingesetzten Regierungsapparat« und den anderen »gegen die terroristischen Banden« (siehe jW-Thema vom 22./23. und 24.9.2007).

Die Al-Qaida-nahen Gruppen, anfangs noch als radikale und gut ausgerüstete Kämpfer gegen die Besatzer willkommen geheißen, waren aufgrund ihrer Kampfmethoden und ihrer sektiererischen Ideologie bald auf breite Ablehnung gestoßen. Zum offenen Konflikt kam es, als die Gruppen vielerorts versuchten, gewaltsam die örtliche Kontrolle zu übernehmen. Es war jedoch keine straff organisierte Organisation, die sich da ausbreitete. In vielen Orten waren es nichts weiter als Banden junger Männer, die mit der Rückendeckung Al-Qaidas die Bewohner tyrannisierten und ihren Lebensunterhalt erpreßten. Nach drei Kriegen und 13 Jahren Embargo ist das Potential an solch deklassierten, perspektivlosen Heranwachsenden selbstverständlich groß. »Junge Männer, ungelernte Arbeiter oder einfache Kleinbauern drehten die traditionell von den Ländereien besitzenden Stammesführern und modernen städtischen Eliten dominierte Sozialordnung um«, erklärte ein Sahwa-Führer gegenüber der International Crisis Group (ICG), »und sie taten es durch Ermordung der Privilegierten und dem Auferlegen ihres eigenen, angeblich von der Scharia inspirierten Sittenkodexes«.

Solche Banden konnten sich vor allem dort durchsetzen, wo die nach dem Zusammenbruch des Staates entstandenen Selbstverwaltungsstrukturen durch Angriffe der Besatzer geschwächt worden waren. Viele lokale Führungspersönlichkeiten - frühere Baath-Mitglieder wie auch sonstige Teile der urbanen Eliten - waren im Zuge der US-amerikanischen Counter Insurgency, der asymmetrischen Kriegführung, gefangengenommen, von Todesschwadronen ermordet oder ins Exil getrieben worden. Dieses Vakuum wurde dann von extremistischen und kriminellen Elementen gefüllt. Für die USA wurden die Al-Qaida-Gruppen zu einem echten Glücksfall. Würde es sie nicht geben, so die Ansicht vieler Iraker, hätten sie sie glatt erfinden müssen.


... und regierungsnahe Milizen

Mehr noch als von Al-Qaida sah sich die Bevölkerung in den sunnitischen Gebieten von den Milizen der Regierungsparteien und den von diesen dominierten Sicherheitskräften bedroht. Die kurdischen und schiitischen Parteien versuchen bis heute, ihre Herrschaft über den Irak unumkehrbar zu machen. Sie tun das mittels Vertreibung, Mord, Verschleppung und dem Ausschluß ihrer Gegner aus dem Staatsapparat. Für die meisten Sunniten, die sich der Awakening-Bewegung anschlossen, lag daher hier das wichtigste Motiv: Indem sie bewaffnete Kräfte gegen Al-Qaida und zur Aufrechterhaltung der Ordnung stellten, verringerte sich auch die Präsenz der Regierungstruppen und konnte ein von den Besatzern tolerierter Schutz gegen schiitische Todesschwadrone und sonstige ortsfremde Kämpfer aufgestellt werden. Ein hochrangiger Scheich, dessen Stamm einer solchen Allianz beitrat, erklärte einem Reporter des Guardian (10.11.2007), daß dies für ihn eine simple Gleichung war. »Es ist einfach ein Weg, Waffen zu bekommen und eine legalisierte Sicherheitskraft zu werden, die fähig ist, den schiitischen Milizen standzuhalten und zu verhindern, daß die irakische Armee und Polizei in ihr Gebiet eindringt.« Und schließlich wollte das Gros der Bevölkerung nach den jahrelangen Kämpfen, den Blockaden, Bombardierungen, Razzien der Besatzer endlich wieder Ruhe.

Die Al-Sahwa-Räte und -Milizen hatten Erfolg. Die Al-Qaida-nahen Gruppen wurden vertrieben, Besatzungs- und Regierungstruppen zogen sich zurück. Mit den Räten erhielt die Bevölkerung zudem eine gewisse politische Vertretung, die sie durch den breiten Boykott der Wahlen 2005 verspielt hatte. Auch die wirtschaftlichen Bedingungen verbesserten sich mit der Wiederherstellung einer gewissen öffentlichen Ordnung ein wenig - nicht zuletzt durch den Sold der Milizionäre und durch kleinere Aufbauprojekte, mit denen die USA die Scheichs, die meist auch lokale Unternehmer sind, bei Laune halten. In einigen Gegenden Anbars und Vierteln von Bagdad entfalteten Clanführer und Milizchefs allerdings auch eine sehr rüde Herrschaft und schalteten unter dem Vorwand, Al-Qaida zu bekämpfen, alles aus, was sich ihrem Führungsanspruch widersetzte.

In der Öffentlichkeit bestimmen Führer jener Kräfte das Bild, die sehr eng mit den Besatzern zusammenarbeiten. Der größte Teil der Bewegung ist jedoch stramm nationalistisch gesinnt und lehnt diese als Kollaborateure ab. Einige der prominentesten Vertreter bezahlten ihre zu große Nähe zu den USA mit ihrem Leben. Die meisten Mitglieder der Al-Sahwa, unter denen viele einstige Kader der Baath-Partei und Unterstützer des Widerstands sind, betrachten das Bündnis mit den Besatzern nur als kurzfristiges, taktisches Erfordernis.


Widerstand vor Problemen

Den Bündnissen mit den Besatzern war ein Paradigmenwechsel eines großen Teils der sunnitischen und säkularen Nationalisten vorausgegangen. Stand zunächst das Ziel im Vordergrund, so schnell wie möglich die Invasoren aus dem Land zu jagen, so überwiegt bei vielen nun die Sorge, daß die kurdischen und schiitischen Parteien, die die Regierung stellen, sich im Bündnis mit den USA bereits so starke Machtpositionen sichern konnten, daß sie nach einem Abzug der Besatzer nur schwerlich verdrängt werden können. Der Einfluß des Iran über die schiitischen Regierungsparteien und deren Milizen ist zudem in ihren Augen so groß, daß sie mittlerweile von einer doppelten Besatzung sprechen. Die »Gefahr der iranischen Besatzung war größer als die Gefahr der amerikanischen, da letztere temporär ist, aber die iranische Besatzung würde permanent sein«, so z. B. Abu Azzam Al-Tamimi, einer der führenden Politiker der Awakening-Bewegung. Das Problem stellte sich umso dringlicher, je wahrscheinlicher die Stärke des Widerstands einen Abzug der Besatzungstruppen für sie machte.

Im Herbst 2007 hatte der Einigungsprozeß der Widerstandsbewegung große Fortschritte gemacht. Mit zwei Ausnahmen sind seither alle großen Organisationen in zwei Fronten zusammengeschlossen, der »Reform- und Dschihad-Front« und der »Front für Dschihad und Wandel«, wobei »Dschihad« nicht »Heiliger Krieg«, sondern »Kampf und Anstrengung« bedeutet. Die Reform- und Dschihad-Front bildet zudem mit den beiden verbliebenen großen Verbänden, der »Islamischen Front des irakischen Widerstands« und der »Hamas Irak«, den »Politischen Rat des irakischen Widerstands«. Dies ist der bisher bedeutendste Ansatz, der nationalen Gegenwehr eine politische Repräsentation zu geben. Die fest im US-geführten »politischen Prozeß« eingebundene »Irakische Islamische Partei« des Vizepräsidenten Tareq Al-Hashemi begrüßte, wie auch die anderen im Parlament vertretenen sunnitischen Parteien, die Gründung dieser Dachorganisation und rief lokale Parteien und die internationale Gemeinschaft auf, sie als wichtige Vertretung eines Teils der irakischen Gesellschaft anzuerkennen.

Im Westen wird der »Politische Rat« dennoch vollständig ignoriert. Angesichts des drastischen Rückgangs der Zahl der gefallenen US-Soldaten scheint der Widerstand kaum noch von Bedeutung zu sein.

Die US-Kommandeure im Irak vermelden das Nachlassen von Aktivitäten des Widerstands als bedeutenden Erfolg der »Surge«. Nach ihren Statistiken ging die Zahl der bewaffneten Angriffe auf Besatzungs- und Regierungstruppen von ihrem Höchststand von 1500 pro Woche im Juli 2007, während der Hochphase der »Surge«, auf 300 bis 500 zurück. Dieser Trend wird durch Berichte des Widerstands bestätigt. Gemäß der monatlichen Statusreports der »Islamischen Armee im Irak«, der größten Guerillaorganisation, sank die Gesamtzahl ihrer Angriffe von durchschnittlich 800 pro Monat im ersten Halbjahr 2007 auf 140 im vergangenen Jahr.

Von einer wirklichen Beruhigung der Lage für die Besatzer kann also kaum gesprochen werden. Zahlreiche Angriffe auf Kommandeure der irakischen Sicherheitskräfte und hochrangige Vertreter des Marionettenregimes, wie z.B. Ende Oktober auf Mahmud Al-Scheich Radi, den Arbeitsminister, oder im September auf den Kommandeur der irakischen Truppen in Mosul, weisen zudem neben guten logistischen Fähigkeiten auf sehr gute Informationen über die Bewegungen der Gegenseite hin.

Der nationale Widerstand wurde durch die »Surge« nicht besiegt. Wie im Guerillakrieg üblich, hat er der Offensive des militärisch stark überlegenen Gegners nur hinhaltenden Widerstand entgegengesetzt und sich schließlich zurückgezogen. Die bedeutendsten Widerstandsgruppen hätten ihre Angriffe auf US-Truppen in Bagdad und Teilen von Anbar im Rahmen einer wohlüberlegten Strategie reduziert, so ein hochrangiger Führer gegenüber dem Guardian (3.12.2007), die darin bestehe, »sich neu zu gruppieren, fortzubilden und das Ende von Bushs 'Surge' abzuwarten«.


Bewegungsfreiheit eingeschränkt

Doch die »Surge« ist nicht der wichtigste Grund dafür, daß der Widerstand nach Jahren des steten Fortschritts Denkpausen einlegen muß. »Ein paar Soldaten mehr«, so irakische Experten mit guten Beziehungen zum Widerstand, konnten die Situation nicht so entscheidend verändern. Verantwortlich dafür sei vielmehr der Kurswechsel vieler Sunniten und der damit einhergehende Aufschwung der Awakening-Bewegung.

Die Al-Sahwa-Räte in Anbar richteten sich zunächst keinesfalls gegen den Widerstand. In dem Maße, wie sich die Bewegung ausbreitete, schränkten sie dessen Spielraum jedoch stark ein. Dadurch konnten die US-Truppen sich weitgehend aus der Provinz zurückziehen, ohne das Feld dem organisierten Widerstand zu überlassen.

Sie schwächten den Widerstand, so ein früherer irakischer Armeegeneral, der sich einer Gruppe in Falludscha angeschlossen hat, und zwangen die Kämpfer, sich in ihre Häuser zurückziehen und darauf zu warten, daß der Sturm nachläßt: »Waffen und Freiwillige sind reichlich vorhanden, aber, was am wichtigsten ist, ist unsere Freizügigkeit. Hier vollbrachte die Sahwa, was die USA nicht konnten.«

»Die 'Surge' war nie das Problem«, so ein weiterer Widerstandskämpfer. »Die Amerikaner sind nicht so gefährlich. Sie haben die Technik, aber sie kennen die Topographie nicht. Wir kennen das Terrain, wir befinden uns auf unserem Land. Mehr US-Truppen allein hätten nur mehr und einfachere Ziele bedeutet. Aber wir sind von unseren eigenen Brüdern verraten worden. Sie verwenden den Vorwand, Al-Qaida zu bekämpfen, um gegen jeden durchzugreifen, der sich nicht ihrer Herrschaft unterwirft. Wenn sie eine Waffe finden, sagen sie, hier ist Al-Qaida.«

Oft heißt es, daß die Guerilla-Organisationen selbst an den Bündnissen mit den Besatzern beteiligt seien; dies ist jedoch im wesentlichen Propaganda, die Gruppen selbst haben dies stets dementiert: »Wir unterhalten keine Beziehungen zu Awakening-Räten, auch wenn wir verstehen, daß die Räte als normale Reaktion gegen die Übergriffe von Al-Qaida und den sektiererischen Milizen entstanden sind«, so Ahmad Said Al-Hamed, Sprecher der »Hamas Irak«, die häufig in diesem Zusammenhang genannt wird. Auch die islamische Armee wies solche Vorwürfe stets weit von sich. Niemand könne gleichzeitig ihren Einheiten und den Al-Sahwa-Milizen angehören, so Ibrahim Al-Shimmari, der offizielle Sprecher der Organisation, gegenüber der International Crisis Group.

Es sind jedoch offensichtlich viele Kämpfer und Unterstützer des Widerstands zu diesen Milizen übergewechselt. »Wir entschlossen uns, nun zuerst Irans Pläne für den Irak zu durchkreuzen«, so ein Stammesführer mit engen Verbindungen zu den »Brigaden der 1920er Revolution«, einer der größten Guerillaorganisationen. »Aber unsere Kooperation mit den USA ist nur temporär und kann nicht Kollaboration genannt werden. Wir bleiben Gegner der Besatzung; wir vergessen nicht das Endziel, das darin besteht, die Besatzungstruppen aus dem Land zu jagen.« Doch im Moment würden sie noch benötigt. Sich der Besatzung zu widersetzen heiße nicht ausschließlich bewaffneter Widerstand. Manchmal müsse man die Waffen zur Seite legen und sich für eine längerfristige Strategie entscheiden. »Einige von uns sind dagegen, aber ich glaube, daß es höchste Zeit war zu begreifen, daß wir einen gefährlicheren Feind als die USA haben.«

Hier bestehen offenbar tiefe politische Differenzen zwischen zuvor verbündeten nationalistischen Kräften. Für die wichtigsten Widerstandsgruppen hat der Iran nicht die oberste Priorität. »Der iranische Einfluß wuchs nur unter dem Mantel der US-Besatzung, indem die USA eine sektiererischen Regierung einrichteten«, so ein Sprecher des »Politischen Rats des irakischen Widerstands«. Er werde daher mit dem Ende der Besatzung wieder verschwinden. Gleichwohl sehen die meisten im Iran einen ihren Hauptgegner. Die Möglichkeit eines Bündnisses mit dem gleichfalls von den USA bedrohten Nachbarland scheint von keiner Organisation in Betracht gezogen zu werden. Die Vorbehalte gegen schiitische Oppositionsgruppen, denen pauschal eine Nähe zum Iran unterstellt wird, ist nach wie vor ein entscheidendes Hindernis für eine weitere Einigung des Widerstands.

Auch wenn die Al-Sahwa-Milizen ihren Aktionsradius massiv einschränken, versuchen die Guerillagruppen, eine offene Konfrontation zu vermeiden. In Interviews geben sich die Sprecher des Widerstands zuversichtlich, daß die meisten Stammesführer bald von selbst feststellen werden, daß eine Zusammenarbeit mit den Besatzern auf Dauer nichts bringt. »Wir sind sowohl gegen Al-Qaida als auch gegen Al-Sahwa«, teilte der Direktor der politischen Abteilung der »Brigaden der 1920er Revolution«, Abdallah Suleiman Omary, dem Guardian (3.12.2007) in einem Interview mit. »Wir warten nun in den Al-Sahwa-Gebieten ab. Wir sind anderer Meinung als sie, aber wir bekämpfen sie nicht. Wir haben unsere Operationen in andere Gebiete verlagert.«


Wind beginnt sich zu drehen

Die Hoffnung des Widerstands, daß es sich bei den Sahwa um ein vorübergehendes Phänomen handelt, erfüllte sich bisher nicht. Ein Teil formiert sich mittlerweile in Form diverser politischer Parteien, sowohl im Hinblick auf die Provinzwahlen im Frühjahr als auch, um zukünftig in der Politik der »Grünen Zone«, also der offiziellen Innen- und Außenpolitik des Landes, mitmischen zu können. Einige Al-Sahwa-Führer erhoben bereits Anspruch auf Kabinettsposten, die nach dem Auszug des sunnitischen Blocks aus der »Einheitsregierung« vakant wurden. Die Al-Sahwa-Bewegung hat dennoch ihren Höhepunkt überschritten.

Die Maliki-Regierung blockte bisher alle Bemühungen von Awakening-Kräften, mehr politischen Einfluß in der Grünen Zone oder der Provinzverwaltung zu bekommen, ebenso massiv ab wie die Übernahme von Mitgliedern ihrer Milizen in die staatliche Polizei und Armee. Die schiitischen und kurdischen Regierungsparteien haben die Bewaffnung und Ausrüstung sunnitisch-nationalistischer Al-Sahwa-Milizen natürlich - ungeachtet ihrer Erfolge gegen Al-Qaida - mit großem Widerwillen verfolgt, schließlich wurde dadurch ein starker militärischer Gegner der regierenden Koalition aufgerüstet.

Nachdem Al-Qaida praktisch ausgeschaltet war, begann die Regierung, auch militärisch gegen Awakening-Kräfte vorzugehen. Immer wieder kommt es seither zu Zusammenstößen mit Regierungskräften. Gegen 650 Führer in Bagdad und Hunderte in der an der Grenze zum Iran gelegenen Diyala-Provinz ergingen Haftbefehle. Einige hundert weitere Al-Sahwa-Angehörige wurden nach Angaben eines örtlichen Kommandanten der Bewegung von den Badr-Brigaden, der Miliz der größten schiitischen Regierungspartei Supreme Islamic Iraqi Council, ermordet oder in Kämpfen mit den vom ihr kontrollierten Polizeieinheiten getötet.

Die Hoffnung der sunnitischen Nationalisten, durch die Al-Sahwa-Bewegung den »Einfluß des Iran«, also die Macht der schiitischen Regierungsparteien einschränken zu können, wurde ebenfalls schwer enttäuscht. Da die Besatzungsmacht in vielen Punkten völlig auf die schiitischen Regierungsparteien angewiesen sind, steht sie wieder fest hinter der sektiererischen Regierung und schränkte statt dessen ihre Unterstützung für die sunnitischen Milizen ein. Anfang Oktober überließen sie schließlich die Führung der Awakening-Kräfte in Bagdad und Umgebung der irakischen Regierung. Auch wenn US-Offiziere versichern, daß sowohl das Fortbestehen als auch die Bezahlung der Milizen weiterhin garantiert seien, sehen viele darin den Anfang vom Ende und drohen offen mit dem Übertritt zum Widerstand.

Im Laufe des Jahres 2008 war anderseits auch innerhalb des von den Besatzern geschaffenen parlamentarischen Systems ein breites überkonfessionelles Bündnis nationaler Kräfte entstanden, das in Verbindung mit massivem politischen Druck von außen erfolgreich zahlreiche Pläne der Besatzer, wie das für sie so wichtige neue Ölgesetz oder das Abkommen über die weitere Präsenz US-amerikanischer Truppen, blockiert. Dies weckt bei vielen Irakern die Hoffnung, auch durch politischen Druck die Besatzung beenden und die sektiererischen Regierungsparteien ausbremsen zu können. Wenn diese Illusion durch das zu erwartende Festhalten der USA an ihren Zielen zerplatzen wird, könnte sich der Widerstand auf breiterer Ebene radikalisieren.


Joachim Guilliard ist Verfasser zahlreicher Fachartikel zum Thema Irak und Mitherausgeber bzw. Koautor mehrerer Bücher


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Quelle:
junge Welt vom 02.01.2009
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Januar 2009