Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

NAHOST/451: Live aus Palästina - Widerstand, um die unseren zu schützen (EI)


The Electronic Intifada - 5. Januar 2009

Tagebücher: Live aus Palästina
Widerstand, um die unseren zu schützen

Safa Joudeh schreibt aus dem besetzten Gazastreifen, 5. Januar 2009


Am Abend des 3. Januar erkannten wir, daß, wenn irgendeine Wahrheit in den Worten des israelischen Kriegsministers Ehud Barak lag, es die war, daß die Invasion diesmal eine anhaltende sein wird. Um etwa 21.45 Uhr Ortszeit drangen die israelischen Truppen an drei Stellen in den Gazastreifen ein. Östlich von Gaza-Stadt und bei den nördlichen Städten Dschabalija und Beit Lahija rollten Panzer in die palästinensischen Wohngebiete, während israelische F-16 vom Himmel her Feuerschutz gaben. Zur gleichen Zeit drangen israelische Panzer und Infanteriesoldaten aus südöstlicher Richtung in Rafah ein, während Panzergeschosse und Artilleriefeuer auf den Gaza-Stadtteil Mintar niederregneten. Israelische Kriegsschiffe belegten Gaza-Stadt von See her simultan mit Sperrfeuer. Der ganze Streifen war eingeschlossen und lag unter Dauerbeschuß israelischer Missiles und Artillerie.

Viele Menschen waren sich gar nicht im klaren darüber, daß die Invasion begonnen hatte und dachten die ganze Zeit, daß Israel die Luftangriffe verstärkt hätte. Gaza-Stadt war jetzt schon seit Tagen ohne Strom und die Batterien für die Radios gingen zuende. Fast alle Bewohner von Gaza-Stadt saßen schon über eine Woche lang in ihren Häusern fest bei zugezogenen Vorhängen. Die Menschen sind auf Mund-zu-Mund-Nachrichten angewiesen, nur wenige haben das Glück, über einen Generator und Reste von Treibstoff zu verfügen.

Dieser Krieg wird in einer absolut verzweifelten und trostlosen Zeit gegen eine unbewaffnete Zivilbevölkerung geführt. Israel hat der Invasion vorausschickend bereits acht Tage lang sein hochentwickeltes militärisches Potential systematisch und unterschiedslos gegen eine wehrlose Bevölkerung eingesetzt, die zu dreiviertel aus Frauen und Kindern besteht. Die Menschen sind schwach und müssen hohe Verluste und Frustration ertragen. Nicht zu sprechen von der 18 Monate andauernden Blockade, unter der sich Gaza schon kaum hat aufrechterhalten können.

In den letzten wenigen Tagen haben wir erlebt, wie über zehn Moscheen, Heilige Gotteshäuser, bombardiert wurden, häufig während Menschen darin beteten. Wir haben Kinder gesehen, die unter dem Schutt hervorgezogen wurden und aussahen, als sei nicht ein Knochen ihres kleinen Körpers heilgeblieben. Wir haben Krankenhäuser erlebt, die mit blutigen Körpern überfüllt waren und Menschen, die ihren letzten Atemzug taten. Wir haben Freunde im Fernsehen gesehen, die an den Zielorten israelischer Luftangriffe wiederbelebt wurden. Wir haben gesehen, wie mit einem Schlag ganze Familien vom Angesicht der Erde gefegt wurden, und wir haben gesehen, wie unsere Straßen, Häuser und Nachbarschaften sich durch das Ausmaß der Zerstörung in nicht wiederzuerkennende Ruinen verwandelten.

Und dennoch fährt Israel damit fort, auf eklatante und nachdrückliche Weise zu behaupten, daß die Offensive sich nicht gegen die Zivilbevölkerung richtet und daß es sich um einen Krieg gegen den politischen und den militärischen Arm der Hamas handelt. In der Zwischenzeit erleben wir, die Menschen von Gaza, kollektiv eine Art von Terror und Gewalt, die kein menschliches Wesen je durchmachen sollte. Man fängt fast an zu glauben, daß die israelischen Streitkräfte auf dem Boden einer Verblendung handeln, die sie geschaffen haben und schließlich selber glauben.

Israel ist in unsere Häuser eingedrungen, bekämpft uns in unseren Straßen und läßt uns seine Brutalität mit aller Härte spüren. Was denkt man denn, wie wir reagieren sollen?

Alle palästinensischen Fraktionen haben sich zusammengeschlossen und stehen gegen den Feind mit allen militärischen Möglichkeiten, die sie kollektiv zusammenbringen. Auch wenn diese Möglichkeiten mit der militärischen Stärke, die Israel aufbringt, nicht zu vergleichen sind, hat uns dies mehr denn je darin bestätigt, daß die Palästinenser bis zum Ende kämpfen werden, um die ihren zu schützen. Es hat uns gezeigt, daß Widerstand, Mut und Liebe einen untrennbaren Teil der palästinensischen Identität darstellen, die sich trotz all der Härten, die wir ertragen, nie verändern wird. Es hat uns zu einer Zeit einen moralischen Aufschwung gegeben, in der wir ihn am meisten brauchen.

Die Abu Ali Mustafa-Brigaden der Volksfront für die Befreiung Palästinas, die al-Quds-Brigaden der islamischen Dschihad-Bewegung, die Izzedin al-Qassam-Brigaden der Hamas, die Salah al-Din-Brigaden der Volkswiderstandskomitees, die al-Aqsa-Märtyrerbrigaden der Fatah sind alle als geeinte Front zusammengekommen und schützen draußen unter großer, sicherer Lebensgefahr unsere Straßen, unsere Häuser, bereit zu sterben, wenn dies ermöglicht, den Tod eines weiteren hilflosen Kindes zu verhindern. Wir sind geeint und wir haben unser Schicksal zum wiederholten Male akzeptiert, denn das Volk von Gaza - fast 80 Prozent davon Flüchtlinge - wird nicht noch einmal von Menschen von außerhalb, angetrieben von Tyrannei und Gier, abgeschlachtet und vertrieben.

Es gibt da draußen Schätzungen, was die Gesamtzahl der vereinten militärischen Widerstandskämpfer der palästinensischen Fraktionen betrifft; die Zahl soll bei einigen Tausend liegen. Die israelischen Truppen, die sich zu diesem Zeitpunkt in und um Gaza befinden, zählen schätzungsweise 33.000, und weitere Reservisten werden am nächsten Tag einberufen. Die Diskrepanz besteht allerdings nicht allein in der Zahl der Kämpfer. Die israelischen Kräfte werden von der israelischen Marine und der israelischen Luftwaffe unterstützt. Die Bodentruppen bestehen aus Artillerie, Panzern, Pionieren und nachrichtendienstlicher Unterstützung. Die israelischen Soldaten sind ausgerüstet mit modernsten Waffen und Aufklärungstechnologie.

Palästinensische Kämpfer hingegen müssen mit ihren selbstgemachten Projektilen auskommen und dem bloßen Minimum an Basisbewaffnung, um sich selbst und ihr Volk gegen die israelische Militärmacht zu verteidigen.

Zur Zeit und inmitten der Aggression ist es schwierig, Schlüsse aus der aktuellen Situation zu ziehen oder Vorhersagen zu treffen. Es fällt schwer, sich mit den Zahlen und dem Ausmaß unserer Verluste auseinanderzusetzen. Es fällt sogar schwer, sich an eine Zeit zu erinnern, als Essen, Wasser, Wärme und Tageslicht kein Luxus waren. An diesem Punkt setzt der nackte menschliche Instinkt ein - die Notwendigkeit, unsere Lieben zu beschützen, die Notwendigkeit einer Zuflucht und der Instinkt zu Kampf oder Flucht. Wir sind schon zu lange geflüchtet, Gaza ist unsere letzte Zuflucht und unsere Heimat, nachdem wir von dort vertrieben wurden, wo heute Israel ist. All das ist vor 60 Jahren geschehen. Was können sie noch mehr wollen? Wir haben keinen Ort mehr, wohin wir uns wenden können. Sie haben jedes einzelne internationale Gesetz ignoriert, das es gibt. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, uns selbst zu verteidigen, jetzt ist es Zeit für den Widerstand.


Safa Joudeh ist Master-Anwärterin im Fachbereich Politik an der Stony Brook Universität in den USA. Sie ist im September 2007 nach Gaza zurückgekehrt, wo sie zur Zeit als freie Journalistin arbeitet.


Übersetzung aus dem Englischen: Redaktion Schattenblick

Orginalartikel unter:
http://electronicintifada.net/v2/article10117.shtml


*


Quelle:
The Electronic Intifada, 5. Januar 2009
MECCS/EI Project
1507 E. 53rd Street, #500
Chicago, IL 60615, USA
Fax: 001-(646) 403-3965
E-Mail: info@electronicIntifada.net
Internet: http://electronicintifada.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Januar 2009