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NAHOST/456: Als die Soldaten einmarschierten, fürchteten wir das Schlimmste (Eyad El Sarraj)


Als die Soldaten einmarschierten, fürchteten wir das Schlimmste

Von Eyad El Sarraj, Gaza-Stadt, 4. Januar 2009


Kann es denn noch schlimmer werden? Nach einer entsetzlichen Woche sind die Israelis noch einmal bis vor unsere Hausschwelle gekommen. Und dabei hatten wir doch schon so viel Angst und Schrecken erlebt. Als die israelischen Luftangriffe begannen, stritten meine Frau und ich uns gerade über Linsen. Sie sagte, wir könnten zum Mittagessen keine Linsensuppe haben, weil es in den Läden gar keine Linsen mehr gibt. Auch keinen Reis und kein Mehl. Plötzlich gab es einen betäubenden Knall, dem eine Reihe von Explosionen folgten, wie ich sie bis jetzt nicht erlebt habe. Unser Haus bebte, unsere Fenster klirrten.

Voller Panik rannten wir in den kleinen Flur. Meine Schwägerin, die in der oberen Etage wohnt, kam verzweifelt zu uns, weil ihre kleine Tochter noch nicht von der Schule zurück war. Sari, ein Junge aus der Nachbarschaft, klopfte an unsere Tür und bat um Unterschlupf. Wir zitterten, als er uns erzählte, dass er mit einem Taxi auf seinem Heimweg von der Schule war und es plötzlich einen donnerartigen Knall gegeben hätte. Der Taxifahrer hätte schnell angehalten und sei davon gerannt. Die Mitfahrer seien in alle Richtungen geflohen. Sari wäre auch ziellos herumgelaufen. Die Explosionen schienen ihn zu verfolgen, sagte er. Dann kam er zu Leuten, die blutend auf der Straße lagen. Er ging zu einem Mann, um ihm zu helfen, und berührte seine Hand. Doch diese war nur ein Stück verbranntes Fleisch. Jemand rief ihm zu, wegzugehen. Also rannte er weg.

Die Nachrichten kamen übers Telefon und das Fernsehen: mehr als 200 Leute waren getötet und viel mehr verletzt worden - in weniger als 10 Minuten. Die Zahlen stiegen und die Beerdigungsszenen füllten den Fernsehschirm. Anscheinend hatten F 16-Flugzeuge mehr als 100 t Bomben auf das überbevölkerte Gaza geworfen und mehr als 300 Ziele bei einer Mission getroffen. Die Piloten müssen zurückgemeldet haben, dass sie ihre Mission erfüllt hätten. Aber nie berichteten sie über das Leid und den Schmerz der unschuldigen Leute und über die Angst, die ihre Piloten-Kämpfer mitten in die Herzen der Kinder gesät haben.

Noor meine Stieftochter war den ganzen Tag über still. Dann brach sie abwechselnd in Weinen und hysterisches Lachen aus. Sie ist an sich ein wunderbares Mädchen mit künstlerischer Begabung. Sie möchte Gedichte schreiben.

Am Montag klingelte das Telefon. Es war mein Freund Salem, der mich um Rat fragte. Seine vier Kinder im Alter zwischen 5 und 11 machten alle in der vergangenen Nacht wieder ins Bett. Schon vor langer Zeit hatten sie damit aufgehört.

Drei Tage, nachdem der Angriff begann, wurde berichtet, dass Prof. Fawaz Abu Sitta von der Al-Azhar-Universität hier getötet worden sei. Der Schutt eines neben seinem Haus stehenden hohen Ministeriumsgebäudes habe nach einem Bombardement seine kleine Villa zugedeckt. Ein Freund, der zufällig den Bericht hörte, mobilisierte den Zivilschutz, der das Kellergeschoß von Fawaz' Haus überprüfen sollte. Sie taten es und Fawaz wurde zusammen mit seiner Frau, seinen Kindern und seiner alten Mutter gerettet.

Das Gemetzel geht weiter. Auch die humanitäre Krise, die durch die israelische Belagerung des Gazastreifens verursacht wurde: es fehlt an Medikamenten, an Brot, Mehl, Gas, Strom, Brennstoff und fast an allem anderen. Die israelische Belagerung hat Gaza sprichwörtlich in ein riesiges Gefängnis verwandelt. Alle unsere Grenzen sind abgeriegelt, es gibt also keinen Weg nach draußen.

Dienstagnacht war Gaza wie eine Geisterstadt. Die Straßen lagen verlassen da, und die Menschen trauten sich nicht aus ihren Häusern.

Die Kinder leiden am meisten, glaube ich. Sie sehen die Angst in den Augen ihrer Mütter. Das Bild ihrer Väter als einer Quelle der Sicherheit ist zerstört. Ihre Väter konnten sie nicht mit Nahrung versorgen, und jetzt sind sie nicht in der Lage, sie zu beschützen. Der Raketenbeschuß wird irgendwann aufhören, da bin ich sicher, aber für diese Kinder könnte es zu spät sein. Meiner Meinung nach gibt es eine große Wahrscheinlichkeit, daß sie der Hamas beitreten, weil sie nach einem Ersatz für die Vaterfigur suchen, nach jemandem, der sie versorgen und beschützen kann. Auf diese Weise werden die israelischen Aktionen die Hamas nur stärken.

Klugheit lehrt uns, daß Gewalt nur Gewalt hervorbringen kann. Israels Brutalität garantiert, daß sein Volk keine Sicherheit haben wird. Israel mag viel zerstören und viele aus der Hamas töten, aber das ist nicht die Lösung. Hamas wurde aufgrund der Besetzung ins Leben gerufen und hat 2006 wegen der falschen Friedensversprechungen und der Enttäuschung, die die Palästinensische Autonomiebehörde den Menschen bereitet hat, die demokratischen Wahlen gewonnen. Israel und seine Verbündeten sollten sich den palästinensischen Sorgen zuwenden, statt sie dadurch zu vertiefen, daß Gerechtigkeit und Sicherheit versagt und grundlegende Menschenrechte verletzt werden. Die meisten Palästinenser in Gaza sind hier, weil sie 1948 ausgewiesen wurden, als der Staat Israel gegründet wurde. Seitdem haben wir nicht einen einzigen Tag der Freiheit oder der gleichen Rechte gehabt wie die Israelis. Wir können kaum unsere Kinder ernähren oder sie mit Medikamenten versorgen, weil Israel anscheinend in zunehmendem Maße außerhalb der Normen der Weltgemeinschaft lebt und außerhalb internationalen Rechts.

Ich bin nicht der einzige, der so denkt. Der UN-Menschenrechtsgesandte Richard Falk hat erklärt, daß das, was Israel tut, gegen die Menschlichkeit verstößt. Der frühere US-Präsident Jimmy Carter, der südafrikanische Erzbischof Desmond Tutu and Mary Robinson, ehemalige Vorsitzende der UN-Menschenrechtskommission, haben sich in der Vergangenheit ähnlich geäußert. Israel muss aufgehalten werden.

Es scheint jedoch zunehmend wahrscheinlich, daß wir, bevor die Missiles aufhören zu explodieren, noch mehr Tage erleben werden wie den letzten Donnerstag, als eine Familie, die auf der anderen Straßenseite wohnt, zu uns ins Haus kam. Sie hatten einen Anruf erhalten, der sie aufforderte, ihr Haus zu evakuieren, weil es binnen kurzem bombardiert werden würde. Israelis machen manchmal diese Anrufe, aber man kann nie sicher sein, was passieren wird. Einige Häuser werden nach solchen Mitteilungen tatsächlich bombardiert. Aber manche sind auch ein Schwindel.

Unsere Nachbarn verbrachten einige Stunden bei uns, bevor sie erfuhren, daß der Anruf nur ein Scherz gewesen war - eine sehr schwarze Art von Humor.

Dann am Freitag erfuhren wir, daß eine Freundin meiner Stieftochter - eine Christin - an Verletzungen gestorben ist, die sie früher in der Woche erlitten hatte. Noor weinte den ganzen Tag.

So viele Menschen haben ihr Domizil verlassen. Die Menschen, die in der Nähe von Ismail Haniyeh, dem Hamas-Führer lebten, sind geflohen. Die gesamte Nachbarschaft ist leer.

Ich habe Angst, aber ich werde mich nicht von der Stelle rühren, obwohl ich mich vor dem fürchte, was als nächstes kommt. Ich bin in tiefer Sorge über das, was als nächstes geschehen wird, das schwere Blutvergießen, das folgen wird, wenn die israelischen Streitkräfte über Land vordringen.

Hamas-Kämpfer werden von den Häusern aus, auf der Straße und in den Nachbarschaften kämpfen, in denen wir bleiben.


Über den Autor:

Dr. Eyad Sarraj wurde im April 1944 in Bir as Sabi im Negev (hebr. Beer Sheva) geboren und wurde 1948 mit seiner Familie in den Gazastreifen vertrieben. Er hat in Alexandria, Ägypten, ein Medizinstudium und in London ein Psychologiestudium abgeschlossen.

Er lebt in Gaza-Stadt.

Er ist ein Menschenrechts- und Friedensaktivist und Gründer und Direktor des Gaza Community Mental Health Programm. Er ist Generalsekretär der Palästinensischen unabhängigen Kommission für Bürgerrechte und Mitglied in vielen lokalen und internationalen Gesundheits- und Menschenrechtsorganisationen.
Sein Engagement für die Menschenrechte hat ihm schon einige Probleme/Härten von Seiten der israelischen und palästinensischen Behörden eingebracht. 1996 wurde er verhaftet und gefoltert, weil er die Folter und Verletzungen der Menschenrechte durch die palästinensischen Behörden verurteilt hat. Nachdem sich international viele für ihn eingesetzt hatten, wurde er nach kurzer Zeit aus der Haft entlassen.

Er ist Preisträger des "Ärzte für Menschenrechte-Preises" (1997) und des Martin-Ennals-Preises für Menschenrechtsverteidiger (1998).
Dr. Eyad Sarraj schreibt umfassend über Probleme des Friedens, der zivilen Gesellschaft, über Menschenrechte und psycho-politische Themen.
Er war Berater der palästinensischen Delegation beim Camp-David-Gipfel-Treffen, 2000.
Bei den palästinensischen Wahlen 2006 stand er an der Spitze der Kandidaten der Wa'ad-Liste (Nationale Koalition für Gerechtigkeit und Demokratie).
Er leitet auch eine Gruppe von palästinensischen und israelischen Akademikern, die an einem Friedensabkommen arbeiten.


Übersetzung aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs und Redaktion Schattenblick


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Quelle:
© Eyad El Sarraj
mit freundlicher Genehmigung des Autors
P O Box 1049, El Remal - Gaza, Palestine
Fax: ++972 8 2824072
E-Mail: eyadsarraj@gcmhp.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2009