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NAHOST/531: Die Johnny-Prozedur (Uri Avnery)


Die Johnny-Prozedur

Von Uri Avnery, 20.7.09


WIE DER Geist von Hamlets Vater lässt uns der böse Geist des Gaza-Krieges nicht zur Ruhe kommen. In der vergangenen Woche kam er zurück und störte den Frieden der Verantwortlichen des Staates und der Armee.

"Breaking the Silence" ("Das Schweigen brechen"), eine Gruppe mutiger früherer Kampfsoldaten, hat einen Bericht veröffentlicht, der die Zeugenaussagen von 30 Gazakämpfern veröffentlicht. Ein schwer-verdaulicher Bericht über Aktionen, die man als Kriegsverbrechen bezeichnen kann.

Die Generäle nahmen automatisch die Haltung ein, alles zu leugnen. Warum geben die Soldaten nicht ihre Identität preis, fragen sie unschuldig. Warum verstecken sie ihre Gesichter bei den Videozeugnissen? Warum halten sie ihre Namen und Einheiten geheim? Wie können wir sicher sein, dass sie keine Schauspieler sind, die einen Text vorlesen, den Feinde Israels vorbereitet haben? Wie können wir wissen, dass diese Organisation nicht von Ausländern manipuliert wurde, wer finanziert ihre Aktionen? Und wie können wir wissen, dass sie nicht aus reiner Boshaftigkeit lügen?

Man kann mit einem hebräischen Sprichwort antworten: "Hier steckt das Gefühl der Wahrheit drin." Jeder, der einmal ein Kampfsoldat im Krieg - egal in welchem Krieg - war, erkennt sofort die Wahrheit in diesen Berichten. Jeder von ihnen ist einem Soldaten begegnet, der nicht ohne ein X auf seinem Gewehr nach Hause kehren wollte, was bedeutete, dass er wenigstens einen Feind getötet hat. (Solch eine Person erscheint in meinem Buch "Die Kehrseite der Medaille", das vor 60 Jahren geschrieben wurde. Und auf Deutsch als 2. Teil meines Buches "In den Feldern der Philister", 2005 erschienen ist).

Die Zeugenaussagen über die Anwendung von weißem Phosphor, über die massive Bombardierung der Gebäude, über die "Nachbar-Prozedur", (bei der Zivilisten als menschliche Schutzschilde gebraucht werden), über das Töten von "allem, das sich bewegt", über die Anwendung aller Methoden, die Todesfälle auf unserer Seite vermeiden - all dies stimmt mit früheren Aussagen über den Gazakrieg überein. Es kann keinen vernünftigen Zweifel über ihre Authentizität geben. Durch den Bericht erfuhr ich, dass die "Nachbar-Prozedur" jetzt "Johnny-Prozedur" genannt wird. Gott weiß, warum nicht "Ahmed-Prozedur"?

Der Gipfel an Heuchelei wird von den Generälen mit ihrer Forderung erreicht, dass die Soldaten sich melden und ihre Beschwerden vor den Armeebehörden aussprechen sollten, damit die Armee sie über die Dienstwege untersuchen könne.

Zunächst kennen wir die Farce, wie sich die Armee selbst untersucht.

Zweitens - und das ist der Hauptpunkt: nur eine Person, die Märtyrer werden will, würde dies tun. Der Soldat einer Kampfeinheit ist Teil einer fest zusammenhaltenden Gruppe, die treu zu ihren Kameraden steht und an ihrem höchsten Prinzip festhält: "Du sollst nicht petzen!" Wenn er fragwürdige Taten enthüllt, von denen er Augenzeuge war, wird er als Verräter angesehen und geächtet. Sein Leben wird zur Hölle. Er weiß, dass all seine Vorgesetzten, vom Truppenleiter bis herauf zum Divisionskommandeur ihn verfolgen werden.

Dieser Aufruf, durch "offizielle Kanäle" zu gehen, ist eine abscheuliche Methode der Generäle - der Mitglieder des Generalstabschefs, der Armeesprecher, Armeeanwälte - um die Diskussion von den Anklagen selbst auf die Identität der Zeugen abzulenken. Nicht weniger abscheulich sind die Zinnsoldaten, die "militärische Korrespondenten" genannt werden, die mit ihnen zusammenarbeiten.


ABER BEVOR man die Soldaten anklagt, die die in den Zeugenaussagen beschriebenen Taten begingen, sollte man fragen, ob die Entscheidung, den Krieg zu beginnen, nicht selbst schon zum unvermeidlichen Verbrechen führte.

Professor Assa Kasher, der Vater des Armee-"Ethik-Kodex'" und einer der eifrigsten Unterstützer des Gazakrieges, behauptete in einem Aufsatz zu diesem Thema, dass ein Staat das Recht habe, nur wegen Selbstverteidigung einen Krieg zu beginnen und nur wenn der Krieg "ein letzter Ausweg" ist. "Alle anderen Alternativen", um das richtige Ziel zu erreichen, "müssen ausgeschöpft worden sein".

Die offizielle Ursache des Krieges war das Abfeuern der Raketen aus dem Gazastreifen gegen südisraelische Städte und Dörfer. Natürlich ist es Pflicht eines jeden Staates, seine Bürger gegen Raketen zu schützen. Aber waren alle Mittel, um dieses Ziel ohne Krieg zu erreichen, wirklich ausgeschöpft? Kasher antwortet mit einem klaren "Ja". Sein entscheidendes Argument ist, dass "es keine Rechtfertigung gibt, von Israel zu verlangen, mit einer Terrororganisation direkt zu verhandeln, die es nicht anerkennt und sein Recht zu existieren leugnet".

Dieses Argument besteht den Test der Logik nicht. Das Ziel von Verhandlungen war mutmaßlich nicht die Anerkennung des Staates Israel und sein Existenzrecht (wer benötigt diese denn?) durch die Hamas, sondern sie dahin zu bringen, mit dem Abfeuern von Raketen auf israelische Bürger aufzuhören. Bei solchen Verhandlungen würde die andere Seite wahrscheinlich das Aufheben der Blockade gegen die Bevölkerung des Gazastreifens und die Öffnung der Versorgungspassagen verlangt haben. Es ist berechtigt, anzunehmen, dass mit ägyptischer Hilfe solch ein Abkommen hätte erreicht werden können, sogar einschließlich eines Gefangenenaustausches.

Doch diese Vorgehensweise war nicht ausgeschöpft worden, ja, sie wurde nicht einmal versucht. Die israelische Regierung hat sich unnachgiebig geweigert, mit einer "terroristischen Organisation" zu verhandeln, nicht einmal mit der palästinensischen Einheitsregierung, die kurze Zeit existierte und in der die Hamas vertreten war.

Deshalb war die Entscheidung, den Krieg gegen den Gazastreifen mit einer zivilen Bevölkerung von 1,5 Millionen zu beginnen, nicht gerechtfertigt, auch nach den Kriterien von Kasher selbst nicht. "Alle alternativen Vorgehensweisen" waren nicht ausgeschöpft, ja, tatsächlich nicht einmal versucht worden.

Aber wir wissen alle, dass abgesehen von der offiziellen Ursache, es noch eine inoffizielle gab: die Hamas-Regierung im Gazastreifen zu stürzen. Im Laufe des Krieges erklärten offizielle Sprecher, dass noch ein "Preisschild" angehängt werden müsse - mit andern Worten, Tod und Zerstörung zu verursachen, nicht um die "Terroristen" selbst zu treffen, (was fast unmöglich gewesen wäre), sondern um das Leben der zivilen Bevölkerung in eine Hölle zu verwandeln, um sie dahin zu bringen, sich zu erheben und die Hamas zu stürzen.

Die Unmoral dieser Strategie entspricht ihrer Ineffektivität: unsere eigene Erfahrung hat uns gelehrt, dass solche Methoden die Bevölkerung nur stärken und rund um ihre mutige Führung vereinen.


WAR ES überhaupt möglich, diesen Krieg zu führen, ohne Kriegsverbrechen zu begehen? Wenn eine Regierung sich entscheidet, seine regulär bewaffneten Kräfte gegen eine Guerilla-Organisation zu werfen, die ihrem Wesen nach mitten aus einer zivilen Bevölkerung kämpft, ist es vollkommen klar, dass der Bevölkerung schreckliches Leid zugefügt wird. Das Argument, dass das der Bevölkerung zugefügte Leid und das Töten von mehr als 1000 Männern, Frauen und Kindern unvermeidbar war, sollte selbst zu dem Schluss führen, dass die Entscheidung, diesen Krieg zu beginnen, von Anfang an ein schrecklicher Akt war.

Das Verteidigungsestablishment machte es sich leicht. Die Minister und Generäle behaupteten einfach, dass sie den palästinensischen und den internationalen Berichten über Tod und Zerstörung nicht glaubten, und erklärten - wieder in Kashers Worten - sie seien "grundlos und falsch". Und um sicher zu gehen, entschieden sie, die UN-Kommission zu boykottieren, die zur Zeit den Krieg und seine Folgen untersucht. Obwohl sie von dem respektierten südafrikanischen Richter Goldstone geleitet wird, der Jude und Zionist ist.

Assa Kasher nimmt eine ähnliche Haltung ein, wenn er sagt: "Jemand, der nicht alle Details einer Aktion kennt, kann sie nicht in ernst zu nehmender, professioneller und verantwortlicher Weise beurteilen und sollte das deshalb nicht tun, trotz aller emotionaler oder politischer Versuchungen". Er verlangt, dass wir warten, bis die israelische Armee ihre Untersuchungen abgeschlossen hat, bevor man über die Angelegenheit spricht.

Wirklich? Jeder Organisation, die sich selbst untersucht, mangelt es an Glaubwürdigkeit - erst recht einer hierarchischen Körperschaft wie die der Armee. Außerdem kann die Armee keine Aussagen von den Hauptaugenzeugen erhalten, von den Bewohnern des Gazastreifens. Eine Ermittlung, die sich allein auf Aussagen der Täter gründet und nicht auf die der Opfer ist lächerlich. Jetzt werden sogar die Zeugenaussagen der Soldaten von "Breaking the Silence" unberücksichtigt gelassen, weil sie ihre Identität nicht preis geben können.


IN EINEM Krieg zwischen einer mächtigen Armee, die mit den raffiniertesten Waffen der Welt ausgerüstet ist, und einer Guerilla-Organisation, erheben sich einige grundlegende Fragen. Wie sollten sich Soldaten benehmen, wenn sie mit einem Ziel konfrontiert sind, das nicht nur aus feindlichen Kämpfern besteht, die sie töten "dürfen", sondern auch mit unbewaffneten Zivilisten, die zu töten ihnen "verboten" ist?

Kasher zitiert mehrere solcher Situationen. Z.B: ein Gebäude, in dem sich "Terroristen" und Nicht-Kämpfer befinden: sollte es vom Flugzeug aus bombardiert werden, wobei alle getötet werden, oder sollten Soldaten hineingeschickt werden, die nur Kämpfer töten, aber so ihr Leben riskieren? Seine Antwort: Es gibt keine Rechtfertigung, das Leben unserer Soldaten zu riskieren und so das Leben von feindlichen Zivilisten zu retten. Einem Angriff aus der Luft oder mit Artillerie muss der Vorzug gegeben werden.

Das beantwortet nicht die Frage über die Anwendung der Luftwaffe, die Hunderte von Häusern zerstört, genügend weit weg von unsern Soldaten, sodass sie nicht in Gefahr waren. Es beantwortet auch nicht die Frage über das Töten einer Menge Rekruten der palästinensischen zivilen Polizei, die gerade vereidigt werden sollten, und auch nicht über das Töten von UN-Personal in einem mit Lebensmittel beladenen Konvoi; auch nicht die illegale Anwendung von weißem Phosphor gegen Zivilisten, wie in den Zeugenaussagen beschrieben wird und von "Breaking the Silence" gesammelt wurden, und auch nicht die Anwendung von Depleted Uranium und anderen krebserzeugenden Substanzen.

Das ganze Land war durch die TV-Livesendung Zeuge, wie eine Granate die Wohnung eines in Israel bekannten Arztes traf und fast seine ganze Familie auslöschte. Nach Zeugenaussagen palästinensischer Zivilisten und internationaler Beobachter haben viele solcher Vorfälle stattgefunden.

Die israelische Armee war stolz auf ihre Methode, die Bewohner durch Flugblätter, mit Telefonanrufen und Ähnliches zu warnen, um sie zur Flucht zu bewegen. Aber jeder weiß - und zu aller erst die Warnenden selbst - , dass die Zivilisten, keinen sicheren Ort hatten, an den sie fliehen konnten, und dass es gar keine klaren und sicheren Fluchtwege gab. Tatsächlich wurden viele Zivilisten erschossen, als sie zu fliehen versuchten.


WIR SOLLTEN der schwierigsten moralischen Frage nicht ausweichen: ist es erlaubt, das Leben unserer Soldaten zu riskieren, um das Leben alter Leute, Frauen und Kinder des "Feindes" zu retten? Die Antwort Asser Kashers, dem Ideologen der "moralischsten Armee der Welt", ist eindeutig: es ist absolut verboten, das Leben der Soldaten zu riskieren. Der wichtigste Satz in seinem Essay lautet: "Deshalb ... muss der Staat dem Leben der Soldaten gegenüber dem Leben (unbewaffneter) Nachbarn eines Terroristen den Vorzug geben."

Diese Worte sollten zwei- oder dreimal gelesen werden, um ihre Bedeutung voll zu verstehen. Was wird hier tatsächlich gesagt: um Todesfälle unter unsern Soldaten zu vermeiden, ist es besser, unbegrenzt feindliche Zivilisten zu töten.

(In der Rückschau kann man nur froh sein, dass die britischen Soldaten, die gegen den Irgun und die Sterngruppe kämpften, nicht solch einen "Ethik Guide" wie Kasher hatten.)

Dies ist das Prinzip, das die israelische Armee in den Gazakrieg führte und - so viel ich weiß - ist dies die neue Doktrin: um den Verlust eines einzigen unserer Soldaten zu vermeiden, ist es erlaubt, 10, 100 oder gar 1000 feindliche Zivilisten zu töten. Krieg ohne Todesfälle auf unserer Seite. Die zahlenmäßige Folge davon gibt Zeugnis: mehr als 1000 Menschen wurden im Gazastreifen getötet, ein oder gar zwei Drittel davon (je nach dem, wen man fragt) sind Zivilisten, Frauen und Kinder - gegen sechs israelische Soldaten, die von feindlichem Feuer getötet wurden (Vier weitere wurden durch "friendly" Feuer getötet, d.h. durch die eigenen Leute).

Kasher erklärt ausdrücklich, es sei gerechtfertigt, ein palästinensisches Kind zu töten, das in der Gesellschaft von hundert "Terroristen" ist, weil die "Terroristen" Kinder in Sderot töten könnten. In der Realität war es ein Töten von hundert Kindern, die in der Gesellschaft eines "Terroristen" waren.

Wenn wir dieser Doktrin all ihre Dekorationen nehmen, bleibt ein einfaches Prinzip: der Staat muss das Leben seiner Soldaten um jeden Preis schützen, ohne Begrenzungen oder Gesetze. Ein Krieg mit Null Opfern. Das führt notwendigerweise zu einer Taktik des Tötens jeder Person und der Zerstörung jedes Gebäudes, die bzw. das eine Gefahr für die Soldaten darstellt und so einen leeren Raum für die vorrückenden Soldaten schafft.

Es kann daraus nur eine Schlussfolgerung gezogen werden: jede Entscheidung, einen Krieg in einem Wohnbaugebiet zu beginnen, ist ein Kriegsverbrechen, und die Soldaten, die sich gegen dieses Verbrechen erheben, sollten geehrt werden. Mögen sie gesegnet sein!


Copyright 2009 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)


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Quelle:
Uri Avnery, 20. Juli 2009
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2009