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NAHOST/577: Frieden ohne die Guerilla? (Nützliche Nachrichten)


Nützliche Nachrichten 11/2009
Dialog-Kreis

Der Kommentar
Frieden ohne die Guerilla?

Von Andreas Buro


Die Regierung der Türkei hat viele Gründe, ein Ende des türkisch-kurdischen Konflikts anzustreben. Die AKP-Regierung hat sich seit ihrem Amtsantritt 2002 auf den Beitritt zur EU konzentriert und mußte sich deshalb um Reformen bemühen. Die EU ist eine multiethnische, multikulturelle und multireligiöse Vereinigung. Die Politik der Zwangsassimilierung der Kurden mit der Verweigerung grundsätzlicher Menschenrechte stand quer dazu. Der militärische Kampf gegen die PKK-Guerilla war wenig erfolgreich. Dazu die Aussage des früheren Generalstabschefs Yasar Büyükanit: "Wenn wir die gesamte türkische Armee auf den Kandil-Berg schickten, würde sie ihn nicht säubern können."

Der militärische Konfliktaustrag ist für die Türkei eine große finanzielle Belastung und stärkt zudem die Position der Generäle gegenüber der Regierung. Die wirtschaftliche Entwicklung des Ostens und Südostens der Türkei leidet unter dem Konflikt.

Offensichtlich mißt Ankara seiner Position als Transitland für Gas und Öl eine große Bedeutung zu. Die Leitungsröhren müssen jedoch durch die vorwiegend von Kurden besiedelten Gebiete führen, wären also bei Fortdauer des bewaffneten Konflikts ständig gefährdet. Ankara bemüht sich seit einiger Zeit, seine Beziehungen zu den Staaten im Osten und Süden zu verbessern. Auch dabei steht die ungelöste Kurdenfrage im Wege. Das gleiche gilt für die Beziehungen zu dem nordirakischen kurdischen Teilstaat, der unter besonderem Schutz der USA steht und in den große Investitionen aus der Türkei fließen. Auch die USA möchten angesichts ihrer Abzugspläne aus dem Irak den Konflikt gelöst sehen, da er nur zusätzliche Unruhe in den kurdischen Teil des Irak bringt. Nun verdichten sich aber die Anzeichen, dass es Ankara nicht um eine Politik der Aussöhnung mit der PKK und ihrer Guerilla geht, sondern um den erneuten Versuch, die kurdische Bevölkerung des Landes für sich zu gewinnen, ohne in Wirklichkeit die Politik der Zwangsassimilierung im Sinne der Herstellung von Gleichberechtigung aufzugeben. Wir haben in den Nützlichen Nachrichten immer wieder darauf hingewiesen, dass die offensichtliche Repression gegenüber Mitgliedern der kurdischen DTP-Partei, die Fortführung der militärischen Aktionen gegen die Guerilla trotz deren einseitigem Waffenstillstand, die Untätigkeit der Polizei bei Angriffen auf kurdische Repräsentanten, sowie der Einkerkerung von etwa 3000 kurdischen Kindern und Jugendlichen einer Bereitschaft zur Aussöhnung diametral widerspricht. Friedenssignale sehen anders aus!

In dieser Ausgabe der Nützlichen Nachrichten kommen neue Indizien hinzu. Mit Hilfe Öcalans Bruder Osman soll eine AKP-freundliche kurdische Partei aufgebaut werden. Der Katalog der Zugeständnisse der Regierung ist mehr als kümmerlich und macht vorwiegend symbolische Zugeständnisse, wie die zusätzliche kurdische Beschriftung von Ortstafeln, während z. B. ein normaler muttersprachlicher kurdischer Unterricht nicht vorgesehen ist. Militärische Sperrzonen werden trotz anders lautenden Zusagen Aufrecht erhalten. Nachdem die Armee in den 80er und 90er Jahren durch die Vernichtung von Dörfern rund die Hälfte der Bewohner Dersims vertrieben hatte, sollen jetzt 18 Talsperren gebaut werden, um die widerständische Region durch die Flutung ihrer Täler unpassierbar zu machen.

Bevölkerung wird aus Grenzdörfern vertrieben. Von der Auflösung der Dorfschützermilizen ist nicht die Rede. Und nicht zuletzt: Das neue Gefängnis für Öcalan, der offensichtlich nach wie vor eine wichtige Symbolfigur für viele Kurden ist, signalisiert mit seiner Architektur der drastischen Enge und der Verweigerung von Lebensmöglichkeiten, dass gegenüber der kurdischen Seite des militanten Kampfes gegen die Zwangsassimilierung die Türen der Aussöhnung verschlossen bleiben sollen.

Mir fällt der Refrain des von Marlene Dietrich gesungenen Chansons ein "Sag mir, wo die Blumen (Soldaten) sind?" "Wann wird man je verstehen?"


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Öcalans neue Zelle

Mit der Überschrift "Öcalans neue Zelle ist ein 'Todesgraben' - Isolation weiter verschärft" gibt die Internationale Initiative Freiheit für Ocalan - Frieden in Kurdistan die folgende Erklärung der Anwälte von Öcalan bekannt:

"Wie der Öffentlichkeit bekannt ist, wird unser Mandant, Herr Abdullah Öcalan, seit mehr als 10 Jahren im geschlossenen Einpersonengefängnis Imrali in Isolationshaft gehalten. In der Folge von Beobachtungen und Berichten des Europäischen Antifolterkommittees (CPT) über die Isolationshaftbedingungen wurde ein neues Gefängnis errichtet. Am 17. November 2009 wurde unser Mandant dann in dieses neu erbaute Gefängnis des F-Typs verlegt. Die Isolation in diesem Gefängnis, das als "geschlossene Hochsicherheits-Strafvollzugsanstalt Typ F Imrali" bezeichnet wird, hat eine neue, weitaus schärfere Form angenommen. Seither sind wir als Verteidigung zweimal mit unserem Mandanten zusammengetroffen. Bei diesen Konsultationen wurde deutlich, dass sich das Haftregime von Herrn Öcalan ernsthaft verschlimmert hat. Die Verschlechterungen in den Haftbedingungen und der gesundheitlichen Situation sind folgende:

Die neue, eingeschossige Zelle besitzt eine Größe von ca. 6-7 m² einschließlich Bad und Toilette. Das drahtvergitterte Fenster befindet sich in sehr großer Höhe und ist so ausgerichtet, dass nur der Himmel sichtbar ist. Auf diese Weise kann das Fenster keine Luftzirkulation gewährleisten. In der Zelle befindet sich außer dem mit der Wand fest verbundenen Bett nur ein Leerraum, in dem eine Person gerade eben stehen kann. Aus diesem Grund ist das Zelleninnere drückend und schlecht gelüftet; die Gesundheit unseres Mandanten wird davon äußerst negativ beeinflusst. Der Hofgang beträgt eine Stunde pro Tag auf einem unmittelbar an die Zelle angegliederten Bereich. Dieser lässt Platz für 4-5 Schritte und ist wie ein Brunnen von hohen Wänden umgeben. Nach oben hin ist er mit Drahtgeflecht verschlossen. Nur der Himmel ist sichtbar.

Unser Mandant bezeichnet diese Zelle mit den beschriebenen Eigenschaften als "Todesgraben". Die schweren Atemwegsbeschwerden, die unser Mandant auf Imrali entwickelte und die mittlerweile chronisch sind, bereiten ihm seit der Verlegung in die neue Zelle sehr starke Probleme. Er erklärte, dass er wegen der schlecht gelüfteten und erdrückenden Atmosphären unter Atemnot und Schlaflosigkeit leide, nachts oft aufwache und aufstehen müsse, um Luft zu holen und dass die schlechte Luft geradezu erstickend wirke. Die Schmerzen nähmen ständig zu. Diese Probleme führen zu starken Krämpfen am Körper, die unser Mandant mit den Krämpfen im Moment des Erhängens verglich. Er erklärte, er werde praktisch täglich erhängt. Insbesondere der Mangel an Frischluft beeinflusst alle Körperfunktionen.

Aus den vorangegangenen Erläuterungen wird klar, dass die neuen Bedingungen auf der Insel Imrali jenseits einer juristischen Bewertung die Grenzen des Erträglichen in humanitärer und sozialer Hinsicht überschritten haben. Ein Raum von 6 m² ist nach den Standards der UN und des CPT nicht einmal für eine Zelle für einen mehrtägigen Arrest akzeptabel, geschweige denn als Gefängniszelle, in der eine Person jahrelang gefangen gehalten wird. Die neue Haftordnung, die als "Verbesserung" in Bezug auf die Beendigung der sozialen und emotionalen Isolation präsentiert wird, hat sich in Bedingungen konkretisiert, welche das Leben unseres Mandanten ernsthaft gefährden. Des Weiteren hält die Isolation unseres Mandanten in voller Härte an; gegen ihn ist eine neue 20-tägige Bunkerstrafe verhängt worden, und er hat von der Verlegung anderer Gefangener in das Gefängnis Imrali lediglich indirekt erfahren. Bisher ist ihm jeglicher Kontakt zu den anderen Inhaftierten verwehrt worden. Die scharfe Isolation, der unser Mandant seit dem Februar 1999 ausgesetzt ist, wurde durch die Verlegung am 17. November 2009 in ein neues "Hochsicherheitsgefängnis" noch weiter massiv verschärft und ausgeweitet. Die Grundrechte unseres Mandanten Abdullah Öcalan, die ihm nach nationalen und internationalen Recht zustehen, allen voran das Recht auf Leben, werden unter diesen Bedingungen ignoriert. Die Verantwortlichen des Staates ignorieren weiterhin die Rechte, die sie für jedes Individuum garantieren, schaffen unerträgliche physische Haftbedingungen für unseren Mandanten und setzen so ihre Politik der Zerrüttung und Vernichtung fort. Dass diese Praktiken der Öffentlichkeit als "Verbesserung" präsentiert werden, rührt vom Bemühen her, die Reaktionen von Demokraten, Menschenrechtlern und vor allem den Kurden zu abzumildern und die Verletzung der von internationalen Institutionen wie UN und CPT garantierten Menschenrechte zu verheimlichen.

Die Praktiken, die seit dem 17. November gegen unseren Mandanten umgesetzt werden, tragen nichts zu den in letzter Zeit vermehrt begonnenen Diskussionen über eine Lösung der kurdischen Frage auf der Basis von Demokratie bei, sondern fügen ihnen vielmehr Schaden zu. Wir rufen die gesamte demokratische Öffentlichkeit auf, sich gegen diese Praktiken und Haftbedingungen zu engagieren, welche die grundlegenden Menschenrechte verletzten - allen voran das Recht auf Leben."

(Asrin Rechtsbüro Istanbul,
Internationale Initiative Freiheit für Ocalan - Frieden in Kurdistan,
info@freedom-for-ocalan.com, www.freedom-for-ocalan.com)


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junge Welt vom 27.11.2009

Mit Öcalan gegen Öcalan?

Bruder des inhaftierten PKK-Führers kündigt
Gründung von konservativer Kurdenpartei an

Von Nick Brauns


Die türkische Regierung bereitet im Rahmen ihrer Bemühungen zur Eindämmung des kurdischen Aufstandes der Arbeiterpartei Kurdistans PKK offenbar eine »Geheimwaffe« vor. Nach übereinstimmenden Aussagen der regierungsnahen Zeitung Zaman und der kurdischen Nachrichtenagentur Firat News soll der im Nordirak unter dem Schutz der dortigen Kurdenparteien und US-Besatzer lebende Bruder des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan, Osman, zusammen mit rund 100 weiteren ehemaligen Guerillakämpfern in den nächsten Tagen die türkische Grenze überschreiten, um dann vom Reuegesetz Gebrauch zu machen. Die Rückkehr des ehemals zweiten Mannes der PKK sei Ende Oktober während eines Besuchs des türkischen Außenministers Ahmet Davutoglu im Nordirak mit Vertretern der kurdischen Regionalregierung vereinbart worden.

Er habe die Absicht, eine »konservativ-demokratische« kurdische Partei in der Türkei zu gründen, erklärte Osman Öcalan gegenüber der Presse. Die neue Partei solle von ihrer politischen Ausrichtung der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan entsprechen und eine »AKP für Kurden« sein. Die an den Theorien seines Bruders Abdullah über Basisdemokratie und Frauenbefreiung orientierte linke Partei für eine Demokratische Gesellschaft DTP nannte Osman Öcalan ein »Hindernis« für eine Lösung der kurdischen Frage. Offenbar zielt dieser darauf, rückständige Teile der kurdischen Gesellschaft, denen die in fast 100 kurdischen Kommunen regierende DTP zu links und die AKP zu türkisch ist, zu gewinnen. So soll der türkischen Regierung in den kurdischen Landesteilen der Rücken gestärkt werden. »Die demokratische Initiative der Regierung hat unsere Entschlossenheit gestärkt. Wir sind insbesondere von der Rede von Erdogan im Parlament ermutigt«, lobte Osman Öcalan gegenüber der Presse die minimalen Zugeständnisse der Regierung an die Kurden.

Im Sommer 2004 hatten sich Osman Öcalan und rund tausend zum Teil führende Kader nach heftigen Linienkämpfen von der PKK getrennt. Zuvor waren sie innerhalb der PKK erfolglos dafür eingetreten, die Guerilla den US-Besatzern im Irak als Söldnertruppe unterzuordnen, während die Mehrheit der Partei für eine eher antiimperialistischen Orientierung eintrat. Eine Fortsetzung des bewaffneten Kampfes in der Türkei lehnte Osman Öcalan ab. Zu seiner persönlichen Diskreditierung trug bei, daß der Mittfünziger, der innerhalb der PKK gegen die kurdischen Frauenorganisationen auftrat, kurz nach seiner Trennung von der PKK eine 19jährige Frau heiratete.

veröffentlicht im Schattenblick mit freundlicher Genehmigung
der Redaktion 'junge Welt' und des Autors


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Quelle:
Nützliche Nachrichten 11/2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Dezember 2009