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NAHOST/671: Irak - Zwischen Leben und Tod, kurdische Flüchtlinge warten vergeblich auf Hilfe (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 6. August 2010

Irak: Zwischen Leben und Tod - Kurdische Flüchtlinge warten vergeblich auf Hilfe

Von Jake Hess


Suleymaniya, Irak, 6. August (IPS) - Shamal Qadir hat Glück im Unglück. Nachdem die türkische Armee sein Heimatdorf Kuzine im Norden des Iraks zerstört hat, wohnt der Kurde in einer Schule. Andere kurdische Binnenflüchtlinge haben dagegen kein festes Dach mehr über dem Kopf. Die meisten von ihnen leben unter katastrophalen Hygienebedingungen in provisorischen Zeltstädten.

"Unsere Familie kaufte 1996 Land und baute Häuser in Kuzine", sagte Qadir IPS. "Dort sollten später unsere Kinder leben. Nun sind aber alle unsere Träume zerstört."

Insgesamt rund 6.500 Kurden im Nordirak mussten seit Ende Mai fliehen, als ihre Ortschaften bei türkischen und iranischen Luftangriffen zerbombt wurden. Zwei Drittel der Vertriebenen sind zurzeit in Lagern untergebracht, in denen noch nicht einmal für das Notwendigste gesorgt ist. Weder von den lokalen Behörden noch von internationalen Hilfsorganisationen sei bisher ausreichende Unterstützung gekommen, beschweren sich die Betroffenen.

"Wir haben Angst davor, dass während des Ramadan viele Menschen sterben. Die Armut hier ist groß", sagte Halima Ismail, die in dem Camp Doli Sahidan nahe der Stadt Sangasar untergekommen ist. "Ich konnte nur das mitnehmen, was ich am Leib trug", beklagte der 92-jährige Sham Ahmet-Ahmet. "Die ersten Nächte haben wir unter freiem Himmel verbringen müssen."

Nach Angaben des Büros des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in der nordirakischen Stadt Suleymaniya müssen die etwa 500 Familien in Doli Sahidan in einem Vierteljahr wahrscheinlich wieder den Ort wechseln. Ein nahe gelegener Fluss droht über die Ufer zu treten, wenn im Herbst wie gewohnt heftiger Regen einsetzt.

Zurzeit leiden die Menschen in dem Lager noch unter sengender Hitze. Die schlechten sanitären Bedingungen führen zu erhöhten Krankheitsrisiken. Strom ist in dem Camp kaum vorhanden.


Alle Existenzgrundlagen vernichtet

Auch die materielle Not macht den Flüchtlingen schwer zu schaffen. Sie mussten ihre Felder zu Beginn der Pflanzzeit zurücklassen und stehen nun vor dem finanziellen Ruin. "Unser Getreide und unsere Weinstöcke sind bei den Angriffen vernichtet worden", erzählte ein Mann namens Abdullah, der in dem Lager Gojar unweit der Stadt Qaladza lebt. "Hier können wir kein Geld verdienen. Was wir haben, ist zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel."

Vertreter des Roten Kreuzes in Suleymaniya versichern zwar, dass es in dem Camps derzeit keine akute humanitäre Krise gebe. Auf längere Sicht könnte sich die Lage aufgrund fehlender Toiletten und unzureichender Müllentsorgung deutlich verschärfen.

Auch vor weiteren militärischen Angriffen sind die Flüchtlinge nicht sicher. Erst kürzlich kamen bei einem Bombardement zwei Kinder ums Leben, weitere Zivilisten wurden verletzt.

Nach offiziellen Angaben der Türkei richten sich die Angriffe gegen Anhänger der linksgerichteten Kurdischen Arbeiterpartei PKK, die größere Freiheiten für die türkischen Kurden fordert. Seit 1983, ein Jahr vor dem Beginn des Kampfes der PKK gegen den Staat Türkei, bombardiert das türkische Militär regelmäßig den Norden des benachbarten Iraks. Der Iran hat es dagegen auf die Partei für ein freies Leben in Kurdistan (PJAK) abgesehen. Die bewaffnete Vereinigung iranischer Kurden ist mit der PKK auf ideologisch und logistisch eng verbunden.

2007 hatte der damalige US-Präsident George W. Bush die PKK als "gemeinsamen Feind" der USA, der Türkei und des Iraks bezeichnet. Die Regierung in Washington stellte Ankara daraufhin Geheimdienstinformationen über Stellungen der PKK im Nordirak zur Verfügung. Seitdem greifen türkische und iranische Truppen gemeinsam kurdische Dörfer in den Grenzgebieten an.

Nach Ansicht der US-Journalistin Aliza Marcus, die in ihrem Buch 'Blood and Belief ' (Blut und Glaube) die Geschichte der PKK beschreibt, fügen diese Attacken der Kurdenpartei allerdings keinen größeren Schaden zu. Die PKK sei weiterhin in der Lage, grenzübergreifende Angriffe durchzuführen, ihre Stellungen im Nordirak zu halten und neue Rekruten anzuwerben, erklärte sie.


Häufigere Bombenangriffe nahe Dörfern

Während die PKK-Rebellen in der unwegsamen Region leicht untertauchen können, trifft es die Zivilbevölkerung umso härter. Dorfbewohner berichten, dass die türkisch-iranischen Bombardements in der Nähe von Siedlungen seit einiger Zeit erheblich zugenommen haben. Politische Beobachter vermuten. dass dies der Beginn einer neuen Militärstrategie gegen die kurdische Rebellen sein könnte. Die türkische Regierung kündigte kürzlich an, im Kampf gegen die PKK Sondertruppen in das Grenzgebiet zum Irak zu schicken und dort 150 neue Stützpunkte zu errichten.

Die PKK wiederum kündigte Anfang Juni eine einseitig geschlossene Waffenruhe auf und greift seitdem türkische Militärposten an. "Kurden sind überall Zielscheiben für Angriffe", sagte PKK-Sprecher Ahmed Deniz IPS. "Wir können nicht einfach abwarten, bis sie uns alle töten." (Ende/IPS/ck/2010)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2010