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NAHOST/801: Ägypten - Raus aus dem Dunstkreis der alten Regierung, Arbeiterbewegung auf neuem Kurs (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 7. April 2011

Ägypten: Raus aus dem Dunstkreis der alten Regierung - Arbeiterbewegung auf neuem Kurs

Von Cam McGrath


Kairo, 7. April (IPS) - In Ägypten bläst der Wind des Wandels auch dem mächtigen Dachverband der Gewerkschaften (Egyptian Trade Union Federation - ETUF) ins Gesicht. Als Büttel der Regierung hatte er mehr als ein halbes Jahrhundert mit eiserner Hand für Ruhe an der Arbeitsfront gesorgt. Jetzt rührt sich Widerstand. Die Tage des mit Spitzenleuten von Mubaraks Nationaldemokratischer Partei (NDP) besetzten Vorstands sind wohl gezählt.

Auf die für November angesetzten Vorstandswahlen wollen Gewerkschaftsaktivisten nicht warten. Sie bestehen auf der Entfernung der Regierungstreuen aus dem ETUF-Vorstand, denn erst danach seien Fortschritt und freie Vorstandswahlen möglich.

"Die Bewegung gegen die staatlich kontrollierten Gewerkschaften formiert sich", stellte Mohamed Trabelsi fest. Der regionale Gewerkschaftsexperte der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) berichtete: "In Ägypten wird derzeit viel gestreikt und protestiert. In zahlreichen Bereichen haben Arbeiter damit begonnen, sich in unabhängigen Gewerkschaften zu organisieren."


Streikrecht durch unerfüllbare Auflagen geknebelt

"Streiks waren nur mit Zustimmung der ETUF erlaubt, und die gab es nur ein einziges Mal", kritisierte Tamer Fathy, ein Sprecher des 'Centre for Trade Union and Workers' Services' (CTUWS). "Das 2003 geänderte Arbeitsgesetz erlaubte Streiks zwar unter bestimmten Bedingungen, die jedoch kaum zu erfüllen waren." Mit der Unterbindung von Streiks etwa für höhere Löhne hatte die Staatsgewerkschaft auf Weisung der Regierung stets für einen dauerhaften Bestand an billigen Arbeitskräften gesorgt.

Ende 2006 bekam die Macht der ETUF erste Risse. Damals protestierten Textilarbeiter in der nordägyptischen Industriestadt Mahalla El-Kubra mit einer Fabrikbesetzung gegen ausstehende Prämien. Seitdem haben in Ägypten über zwei Millionen Arbeitskräfte in fast jedem Wirtschaftsbereich mehr als 3.000 Mal für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen oder die Entlassung korrupter Firmenmanager gestreikt.

Immer wieder wurde auch die Entlassung von EFTU-Führern verlangt, weil sie sich bei Arbeiterprotesten auf die Seite von Regierung und Betriebseignern geschlagen hatten. Aus der Unzufriedenheit mit den staatlich gegängelten Gewerkschaften entwickelte sich die Forderung nach unabhängigen, glaubwürdigen Arbeiterorganisationen, die ihre Mitglieder nicht im Stich lassen.

Als erste kehrten die Eintreiber von Grundsteuern der EFTU den Rücken und gründeten Anfang 2009 'Real Estate Tax Authority Union' (RETA). Vor kurzem kündigten Gewerkschaftsführer die Gründung eines Ägyptischen Verbandes unabhängiger Gewerkschaften (EFITU) an. In der rührigen ETUF-Konkurrenz haben sich Steuerbeamte, Lehrer, Techniker im Gesundheitswesen und Rentner organisiert. "Die Arbeiter brauchen starke Vertreter, die mit ihren Bossen auf Augenhöhe über höhere Löhne und andere Vergünstigungen verhandeln können", betonte Fathy.


Arbeitsminister El-Borai empfiehlt sich als Verbündeter freier Gewerkschaften

In Ägyptens neuem Arbeitsminister Ahmed El-Borai, einem Gewerkschaftsexperten und entschiedenen Befürworter unabhängiger Gewerkschaften, haben die Arbeiter einen Verbündeten auf ihrer Seite. Zuvor war der Vorschlag der Regierung, den Posten mit ETUF-Schatzmeisters Ismail Fahmy zu besetzen, an Protesten gescheitert.

Auf einer Arbeiterkonferenz im März bekräftigte El-Borai das Recht der Arbeiter auf unabhängige Gewerkschaften, die die von Ägypten zwar ratifizierten, aber lange ignorierten internationalen Arbeitskonventionen respektieren. Er versprach, die Regierung werde sich in Zukunft aus Gewerkschaftsangelegenheiten wie Wahlen und Finanzierung heraushalten. Die finanzielle Förderung der EFTU aus Staatsmitteln von jährlich fast 15 Millionen US-Dollar hat de neue Arbeitsminister bereits gestrichen.

Bei der EFTU bemüht man sich, den neuen Kurs herunterzuspielen. Shendy Abdallah vom Arbeiterbildungsverband, einer EFTU-Unterorganisation, versicherte: "Der Arbeitsminister geht nicht gegen die Staatsgewerkschaft vor, besteht aber auf gewerkschaftliche Vielfalt, die zu Konflikten führen wird. Wenn die EFTU in diesem Klima überleben will, wird sie ihr politisches Konzept auf lange Sicht ändern müssen." (Ende/IPS/mp/2011)


Links:
http://www.ilo.org
http://www.etufegypt.com
http://ipsnews.net/news.asp?idnews=54730

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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. April 2011