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NAHOST/890: Das demokratische Potenzial der arabischen Welt (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012

Das demokratische Potenzial der arabischen Welt

Von Katajun Amirpur


Der "Arabische Frühling" löste im Westen nicht nur Freude aus. Angesichts bevorstehender Wahlen wurde reflexhaft die Frage formuliert, ob ein Staat, der auf Koran und Sunna fußt, überhaupt ein demokratischer sein könne. Diese Sicht ist scheinheilig und realitätsblind, meint unsere Autorin.


Das Schreckgespenst Iran steht vielen klar vor Augen: Im Jahre 1979 fand in Iran eine Revolution statt, die einen Diktator aus dem Lande jagte. Doch wer hoffte, dass auf den Diktator eine Demokratie folgen würde, wurde bitter enttäuscht. Die iranische Bevölkerung fand sich schnell in einer von Islamisten dominierten Diktatur wieder. Dass dies wieder geschehen könnte, befürchten heute viele. Doch so ähnlich die Ereignisse auf den ersten Blick anmuten, so unbegründet sind die Sorgen vor einer Wiederholung des Szenarios. Es ist inzwischen viel Zeit vergangen. Und statt als Vorbild fungiert Iran eher als abschreckendes Beispiel für die Menschen in der Region. Hinzu kommt: 1979 wussten viele Iraner nicht einmal, was Demokratie ist. Und denen, die es wussten, galt das Modell Demokratie aus Gründen, an denen der Westen alles andere als unschuldig ist, als diskreditiert. Das stellt sich heute in der arabischen Welt und in Iran vollkommen anders dar. Die Menschen wollen Demokratie. Das haben sie gezeigt, als sie sich todesmutig auf die Straße wagten. Und das war keine bloße Laune oder Eintagsfliege:

Schon 2004 haben Pippa Norris und Ronald Inglehart in ihrer bemerkenswerten Studie Sacred and Secular herausgearbeitet, dass es zwischen den westlichen Gesellschaften und den muslimischen religiösen Gesellschaften keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Akzeptanz dessen gibt, wie Demokratie in der Praxis gelebt werden soll. Dasselbe gelte für die Akzeptanz demokratischer Werte. Weit weniger als in der islamischen Welt stießen demokratische Werte dagegen in Ländern Osteuropas und Lateinamerikas auf Akzeptanz. Die höchste Akzeptanz demokratischer Werte verzeichnet diese Studie in Dänemark, Island und Schweden, unmittelbar gefolgt von Deutschland und Österreich, aber eben auch von Bangladesh, Ägypten und Azerbaidschan. Im Mittelfeld dagegen liegen die USA - neben der Türkei und Jordanien. Norris und Inglehart lieferten also vor geraumer Zeit gute Anhaltspunkte dafür, dass die von Samuel Huntington so populär wie skandalheischend vertretene These vom bevorstehenden Clash of Civilizations empirisch nicht haltbar ist. Doch rezipiert wurden diese Ergebnisse nur von Insidern - anders als Huntington und ähnliche Schreiber, die auf eine unverständlich große Akzeptanz stoßen.


Religiöses Gebot und praktische Umsetzung

Gegen Norris und Inglehart könnte man einwenden, dass sich diese Begeisterung für die Demokratie nur auf das Wählen beziehe. Mit dem Mehrheitsentscheid, sollte dieser dem göttlichen Gesetz zuwiderlaufen, würden sich Muslime dagegen schwer tun. So argumentiert beispielsweise Riaz Hassan in seiner Studie Faithlines. Muslim Conceptions of Islam and Society. Er sagt, Muslime könnten ein Wesensprinzip der Demokratie, den Mehrheitsbeschluss, aufgrund ihrer religiösen Verfasstheit nicht akzeptieren. Denn der Mehrheitsbeschluss richtet sich möglicherweise gegen das Gebot Gottes. Hassan bezieht sich auf eine von ihm selbst durchgeführte Umfrage. 93% aller von ihm befragten Indonesier, Pakistaner und Ägypter erklärten, dass eine islamische Gesellschaft auf dem Koran und auf der Sunna fußen müsse, also eben nicht auf dem Mehrheitsbeschluss, sondern auf dem Gesetz Gottes. Das ist eine Aussage, die auch heute oft ängstlich zitiert wird, wenn es um die Zukunft der arabischen Welt geht.

Doch diese Aussage ist nicht unbedingt so zu deuten, wie hier oft unterstellt wird. Sie muss nicht bedeuten, dass das Handabhacken und die Zwangsverschleierung eingeführt werden. Vermutlich ist nur die Frage falsch gestellt. Ein Moslem kann auf die Frage: "Muss eine Gesellschaft auf dem Koran und der Scharia fußen?" nicht einfach mit Nein antworten. Es gehört zu dem Verständnis, das er von sich selbst und von seiner Religion hat, dass eine Gesellschaft auf dem Koran und der Scharia fußen muss. Dies braucht aber nicht zu heißen, dass der Koran und das aus ihm entwickelte Gesetz buchstabengetreu angewendet wird. Denn hier kommen die Interpretation religiöser Vorschriften und ihre praktische Umsetzung ins Spiel. Sie ist ein weites Feld: Denn Scharia ist nicht gleich Scharia und Islam ist nicht gleich Islam.

Es gibt genug Möglichkeiten, das islamische Recht neu und modern zu interpretieren. Zu vielen Zeiten in der islamischen Geschichte - und auch heute - hat es diese flexible Rechtsanpassung, hat es Rechtsfortbildung gegeben. Das Begehren von rückwärtsgewandten Islamisten ist tatsächlich, dass ein rigides Strafrecht, ein Familienrecht, das Frauen benachteiligt etc. angewendet werden sollte. Die Mehrheit aber, so hat es den Anschein, will solch eine rigide Auslegung nicht. Ein Staat, der auf Koran und Sunna fußt, kann also durchaus ein demokratischer sein. Es liegt allein an der Interpretation und Deutung des Rechts, das in diesem Staat eingeführt werden wird. Dann ist die Aussage, dass in einem Staat Koran und Sunna herrschen und dieses dennoch ein demokratischer Staat ist, kein Widerspruch.

Zudem ist unwahrscheinlich, dass sich die Frauen Tunesiens, die jahrzehntelang mit dem fortschrittlichsten, gender-gerechtesten Rechtssystem der islamischen Welt gelebt haben, sich dieses wieder nehmen lassen. Auch haben die Vertreter islamischer Parteien mehrfach bekundet, dass sie die Zeit nicht zurückdrehen wollen. Es mag der Einwand berechtigt sein, dass auch Khomeyni vor seinem Machtantritt Freiheit versprochen und dieses Versprechen später schnell gebrochen habe. Doch andererseits muss sich Geschichte auch nicht notwendigerweise wiederholen. Die Islamisten Tunesiens und Ägyptens sind weiter als die Islamisten Irans vor 30 Jahren. Wenn sie Iran genau beobachten - was sie tun - wissen sie, dass eine rigide Auslegung des Islams die Menschen nicht zum Islam führt und dass eine Herrscherclique, die ihre Macht auf eine solche Auslegung des Islams stützt, sich auf Dauer nicht halten kann.


Mehr Vertrauen in das demokratische Potenzial

Islamisten in vielen Ländern haben zudem gelernt, dass man pragmatisch agieren muss, wenn man an der Macht ist. Das galt zum Beispiel für die Hizbollah im Libanon und für die Islamisten in Jordanien. Als sie endlich mitregierten, wurden sie schlagartig pragmatisch und realpolitisch. Und es ist keine realpolitische Perspektive, Tunesien und Ägypten in eine radikal-islamistische Steinzeit zurückzubefördern.

Es hat einen relativ simplen Grund, warum die Islamisten bei den Wahlen in Tunesien als Sieger hervorgingen und dies wahrscheinlich auch in Ägypten tun werden: Sie gelten nicht als korrupt, sind den Menschen anders als viele der anderen gerade entstehenden Parteien bekannt und sie haben der einfachen Bevölkerung immer dann geholfen, wenn der Staat versagt hat. Die islamischen Vereinigungen haben vor allem in Ägypten auch als Wohlfahrtseinrichtung fungiert - und davon profitieren sie jetzt. Das gefällt dem Westen vielleicht nicht, aber ändern wird er es auch nicht können. Wenn der Westen jedoch wirklich etwas tun möchte, um Tunesien und Ägypten zu stabilisieren, sollte er den Ländern helfen, wirtschaftlich auf die Füße zu kommen. Die Reaktion Europas auf die sich anbahnenden Umstürze war schäbig. Während die Bevölkerung auf dem Tahrir-Platz in Kairo für die Werte kämpfte, die angeblich aus der christlich-jüdischen Zivilisation hervorgegangen sind, wurden hier nur Unkenrufe laut à la: Es droht eine Machtübernahme der Islamisten, eine Flüchtlingswelle aus Nordafrika rollt auf uns zu.

Jetzt wäre es an uns zu zeigen, dass wir es wirklich ernst meinen mit diesen Werten, mit Freiheit und Gerechtigkeit. Zu lange haben wir sie geopfert, indem wir mit den Diktatoren Nordafrikas kuschelten und ihnen abkauften, wie sie sich als die einzige Alternative zur islamistischen Machtübernahme gerierten. Schon lange meinen Menschen in der islamischen Welt, Freiheit und Gerechtigkeit, Menschenrechte und Frieden würden wir nur für uns selber reservieren. Jetzt endlich sollten wir einsehen, dass wir mehr Vertrauen in das demokratische Potenzial dieser Menschen haben dürfen - und dass wir da, wo es in Gefahr ist, mit echter Hilfe aufwarten müssen. Denn wo Hunger herrscht, hat die Demokratie keine Chance.


Katajun Amirpur (* 1971) ist Professorin für Islamische Studien an der Universität Hamburg. Bei Herder erschien zuletzt: Unterwegs zu einem anderen Islam: Texte iranischer Denker.
katajun.amirpur@uni-hamburg.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012, S. 39-41
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Februar 2012