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NAHOST/941: Libyen - Islamisten gefährden Zukunft des Landes, Regierung erscheint machtlos (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 14. September 2012

Libyen: Islamisten gefährden Zukunft des Landes - Regierung erscheint machtlos

von Mel Frykberg


Milizionäre in der libyschen Stadt Misrata - Bild: © Mel Frykberg/IPS

Milizionäre in der libyschen Stadt Misrata
Bild: © Mel Frykberg/IPS

Tripolis, 14. September (IPS) - Der Mord an dem US-Botschafter Christopher Stevens fällt in eine Zeit, in der sich der islamistische Fundamentalismus in Libyen zu einer neuen Bedrohung entwickelt. Seit Ende des Bürgerkriegs ist es zu mehreren Anschlägen auf ausländische Vertretungen in Bengasi gekommen, die Salafisten zugeschrieben werden. Auch Botschaften in der Hauptstadt Tripolis wurden bedroht.

Radikale Islamisten fordern zudem die Frauen des Landes auf, sich konservativ zu kleiden und ihr Haar zu bedecken. Dschihadisten verlangen, dass Mädchen und Jungen in Schulen getrennt unterrichtet werden. Die Zerstörung von Sufi-Schreinen ist nur eines der vielen Zeichen, die auf die wachsende Macht der Salafisten in dem nordafrikanischen Land hindeuten.

Vom Al Mahary Radisson Blu Hotel in Tripolis aus kann man sehen, wie die Wellen des Mittelmeers auf kilometerlange weiße Sandstrände treffen. Dieser atemberaubende Blick wird durch Berge von Bauschutt und Stahlträgern getrübt - die Reste eines Sufi-Schreins und einer Moschee aus der Zeit des Osmanischen Reiches. Die Heiligtümer wurden von Salafisten dem Erdboden gleich gemacht. Die Angreifer setzten Bulldozer und Bagger ein, während Mitglieder der Streitkräfte und der Polizei zusahen und Journalisten sowie den Autoverkehr fernhielten.

Die Salafisten folgen einer strengen Auslegung des Korans und glauben, dass der mystische Sufismus mit seinen Tänzen Gotteslästerung ist. Trotz öffentlicher Proteste wurden die Gebäude an drei Tagen niedergewalzt. Mehrere Mitglieder der libyschen Regierung warfen dem Innenministerium daraufhin vor, die historischen Stätten nicht ausreichend geschützt und sich sogar an deren Zerstörung beteiligt zu haben.

Einige Islamisten, die bei dem Angriff dabei waren, sollen dem Obersten Sicherheitskomitee SSC angehören, in dem sich etwa 100.000 Milizionäre und Mitglieder der Streitkräfte zusammengeschlossen haben. Beobachter gehen davon aus, dass das SSC sowohl von Islamisten als auch von Anhängern Gaddafis unterwandert ist.

Nach dem Sturz des Diktators im vergangenen Jahr waren zahlreiche Libyer fahnenschwenkend über den Märtyrer-Platz in Tripolis gezogen, um ihre neue Freiheit zu feiern. Die Begeisterung war jedoch nur von kurzer Dauer. Drei Sufi-Schreine in Tripolis, Zliten und Misrata sind seitdem systematisch zerstört worden. Eine Bücherei mit Hunderten historischen Werken und Manuskripten wurde in Brand gesetzt, und etwa 30 Sufi-Gräber wurden in der Altstadt von Tripolis geschändet.


Regierung kann nicht gegen Islamisten durchgreifen

Innenminister Fawzi Abdel Al löste mit der Antwort auf die Frage, warum der Sufi-Schrein nicht geschützt worden sei, Entrüstung aus. Man habe wegen "ein paar alten Gräbern" kein Menschenleben riskieren wollen. Die schwer bewaffneten religiösen Extremisten seien zu zahlreich und stark gewesen, als dass sich das Militär mit ihnen hätte messen können. "Diese Gruppen haben Unmengen an Waffen", sagte Al. "In Libyen sind sie stark und mächtig."

Nach den ersten Zerstörungen versuchten Salafisten am 7. September eine Sufi-Moschee in der im Osten gelegenen Stadt Bengasi anzugreifen. Dieses Mal stellte sich ihnen jedoch die libysche Armee entgegen. Drei Islamisten wurden bei einem Feuergefecht getötet und sieben verletzt. Zwei weitere Salafisten wurden am darauffolgenden Tag bei dem Versuch, einen Sufi-Schrein in Ajlayat 80 Kilometer westlich von Tripolis zu zerstören, erschossen. Fünf wurden verlerzt.

Die von den Salafisten angekündigten Vergeltungsaktionen zeigen, dass religiös motivierte Auseinandersetzungen in dem Land zunehmen. Analysten warnen davor, dass Mitglieder des Terrornetzwerks Al Qaeda und andere Islamisten das politische Vakuum in Libyen füllen wollen und nach dem Arabischen Frühling regionale Konflikte schüren. Frühere Spekulationen, denen zufolge die Regierung nach den ersten freien und demokratischen Wahlen in Libyen seit fast 50 Jahren gegen das Erstarken der Islamisten in den Nachbarländern angehen wird, scheinen verfrüht gewesen zu sein.

Nach Ansicht von Daniel Nisman von der Firma 'Max Security Solutions' in Tel Aviv, die geo-politische Risiken bewertet, ist der zunehmende islamistische Extremismus Ausdruck dafür, dass die libyschen Behörden diese Bedrohung nicht ernst genug nehmen und nicht bekämpfen.

Aymenn Jawad Al-Tamimi vom 'Middle East Forum' sieht Parallelen zwischen der wachsenden religiösen Gewalt in Libyen und im Irak. "Die libyschen Sicherheitskräfte werden in der Zeit nach Gaddafi ähnlich aufgebaut wie der irakische Sicherheitsapparat nach dem Sturz des Saddam-Regimes.

Angesichts eines Chaos durch rivalisierende Milizen verfolgt die derzeitige libysche Regierung die Strategie, die neuen Sicherheitskräfte so rasch wie möglich aufzubauen. So gingen auch die USA im Irak vor", erklärte Al-Tamimi in seinem Artikel 'Rethinking Libya', der von dem Forum veröffentlicht wurde. Das größte Problem sei, dass auf nur Quantität und nicht auf Qualität geachtet werde. So könnten politische Gruppierungen und andere Ideologen die Lage für sich ausnutzen und die neuen Truppen mit ihren Gefolgsleuten überschwemmen. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:

http://www.aymennjawad.org/
http://www.ipsnews.net/2012/09/islamists-threaten-libyas-future/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. September 2012