Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

NAHOST/999: Irak - Unkontrollierbare Gewalt in Kirkuk, Al Qaeda nutzt Ramadan für Anschlagswelle (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 2. August 2013

Irak: Unkontrollierbare Gewalt in Kirkuk - Al Qaeda nutzt Ramadan für Anschlagswelle

von Karlos Zurutuza


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Spieler in einem Teehaus von Kirkuk, das zur Zielscheibe von Extremisten geworden ist
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Kirkuk, 2. August (IPS) - Gewalt ist in Kirkuk im kurdischen Norden des Iraks ständig präsent. Die Stadt gehört zu den gefährlichsten Orten des Landes. Auch während des islamischen Fastenmonats Ramadan kommen die Menschen nicht zur Ruhe.

"Jede Nacht verbarrikadieren wir mit unseren Autos die Einfahrt zur Straße, um uns zu schützen", sagt Haukar, der ein Teehaus im Viertel Sorja im Norden von Kirkuk besitzt, in dem sich viele Männer abends nach dem Fastengebet in der Moschee treffen. "Unter uns sind auch mehrere Polizisten in Zivil."

Sowohl Araber als auch Kurden erheben Anspruch auf das an Erdölvorkommen reiche Kirkuk. Die Stadt befindet sich in einer Art Grauzone. Sie untersteht zum einen der Kontrolle von Erbil, der Verwaltungshauptstadt der Kurdenregion, und wird zum anderen von der 230 Kilometer südöstlich gelegenen irakischen Hauptstadt Bagdad beansprucht.

Bei einem ursprünglich im November 2007 geplanten Referendum sollte entschieden werden, ob Kirkuk dem kurdischen Norden zugeschlagen wird oder unter der Verwaltung des arabischen Südens bleibt. Doch vereinbarte Maßnahmen, die vor der Abstimmung die Auswirkungen der Arabisierungskampagne unter dem einstigen Präsidenten Saddam Hussein abmildern sollen, sind bisher nicht umgesetzt worden.

Selbstmordanschläge und gezielte Tötungen gehen derweil weiter. Am 12. Juli kamen 38 Menschen in einem Lokal wie dem von Haukar durch die Explosion einer Autobombe ums Leben. Offiziellen Statistiken zufolge lag die Zahl der Todesopfer durch Gewalt im Juli bei mehr als 800. Der Monat ist somit der blutigste seit Jahresbeginn gewesen. In dem Fastenmonat nimmt die Gewalt ohnehin stets zu. Da die Iraker nach Sonnenuntergang in Cafés und Bazaren zusammenkommen, werden sie leicht zu Zielscheiben für Massentötungen.

"Natürlich habe ich Angst, nachts auf die Straße zu gehen. Ich hätte eigentlich nur die Wahl, zu Hause zu bleiben oder anderswohin zu ziehen. Doch ich will Kirkuk nicht verlassen", sagt ein Mann, der sich Wasta nennt und trotz aller Gefahren seine Freunde in einem Teehaus trifft.


Terror soll Bevölkerung in ihren Häusern halten

Anhänger des Terrornetzwerks Al Qaeda versprechen sich von Gewalttaten während der Fastenzeit einen höheren spirituellen Nutzen. "Niemand weiß, wann seine Stunde kommen wird", sagt Abu Ahmed, der sich in der Runde an dem Spiel 'sin-u-serf' beteiligt, das nur während des Ramadan gespielt wird. Zwei Mannschaften wetteifern darum, eine Olive unter elf auf einem Tablett umgestülpten Tassen zu finden.

"Nach dem Rückzug der Amerikaner im Dezember wurde Kirkuk zur Hochburg von Al-Qaeda-Anhängern und Gefolgsleuten von Saddam Hussein", berichtet Jiand, der Ortsvorsitzende der Partei 'Goran', die sich als dritte politische Kraft in der autonomen Kurdenregion behaupten und das von lokalen Stämmen dominierte politische System reformieren will.

"Die Menschen in Kirkuk und die Iraker im allgemeinen sind die eigentlichen Opfer in dem Kampf zwischen politischen Parteien, die von ausländischen Mächten unterstützt werden", sagt Jiand. "Der Iran steht hinter der schiitischen Koalition, die in Bagdad regiert, während die Sunniten Rückhalt aus den Golfstaaten bekommen. Selbstmordanschläge tragen klar die Handschrift von Al Qaeda. Hinzu kommen Detonationen am Straßenrand und gezielte Morde."

Der Polizeichef von Kirkuk, Ali Ahmed, spricht ebenfalls von einer Beteiligung von Al Qaeda an solchen Attacken. Saddams Husseins Getreue in der Stadt scharen sich dagegen um die Rebellengruppe 'Jaysh Rajal al-Tariqah al-Naqshbandia', die erstmals im Dezember 2006 nach der Hinrichtung des Diktators mit bewaffneten Aktionen gedroht hatte.

"Die politische Krise im Irak und der Krieg im benachbarten Syrien haben Kirkuk zu einer Hochburg für ausländische Dschihadisten und lokale Anhänger der Baath-Partei gemacht, die das gestürzte Regime unterstützen", sagt Ahmed. Er sei "alles andere als optimistisch", wenn er daran denke, wie sich die Sicherheitslage in Kirkuk in der nächsten Zeit entwickeln könnte.

"Wir legen schon einen Schützengraben um Kirkuk an, um weitere Angriffe abzuwehren. Die einzig realistische Lösung besteht jedoch darin, die Stadt unter kurdische Verwaltung zu stellen und um die Stadt eine ähnlich hohe Mauer wie die um den Gazastreifen zu errichten."


"Niemand behält saubere Hände"

Ein anderer Gast in Haukars Teehaus meint, dass sowohl die Opposition als auch die Regierung hinter der Gewalt steckten, nicht nur in Bagdad, sondern auch in Erbil. "Die Stadt zu destabilisieren, ist der einzige Weg, um zu verhindern, dass eine rivalisierende Gruppe die Kontrolle übernimmt. Es ist ein großes Spiel, in dem niemand saubere Hände behält", sagt Mohammed, der früher im Widerstand gegen Saddam Hussein aktiv war. Eine höhere Position in der kurdischen Regionalverwaltung habe er "wegen der grassierenden Korruption und dunkler Machenschaften" abgelehnt.

Weit nach Mitternacht räumt Haukar Tassen und Tabletts zusammen. Seine Gäste machen sich allmählich auf den Heimweg. Auf der Hauptstraße von Sorja geraten sie in einen dicken Stau. "Keine Ahnung, was wieder los ist. Es kann eine Routinekontrolle der Polizei sein oder eine Autobombe", sagt Taxifahrer Abu Bakr resigniert. "Und wenn man eines Tages gar nicht mehr nach Hause kommt, wird niemand erfahren, wer dafür verantwortlich war." (Ende/IPS/ck/2013)


Link:

http://www.ipsnews.net/2013/07/kirkuk-plays-dice-with-violence/

© IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH

*

Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 2. August 2013
IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 / 54 81 45 31, Fax: 030 / 54 82 26 25
E-Mail: contact@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. August 2013