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OSTEUROPA/340: Georgien - Schwere Jungs bleiben jetzt am Leben, aber unter inhumanen Bedingungen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 5. Oktober 2010

Georgien:
Schwere Jungs bleiben jetzt am Leben - Aber unter inhumanen Bedingungen

Von Claudia Ciobanu


Bukarest, 5. Oktober (IPS) - Georgien hat eines der härtesten Justizsysteme Europas und Vorderasiens. Deswegen sitzen dort auch mehr Menschen in Haft als anderswo, die Zellen sind völlig überfüllt. Schlimmer ist es in der Region nur noch in Russland und Weißrussland. Die Regierung würde das Gefängniswesen gern von Grund auf reformieren, weiß aber nicht, wo sie mit den vielen Insassen hin soll.

Im September saßen 22.890 Menschen in Georgiens Gefängnissen. Auf 100.000 Bürger kommen 514 Gefangene, allein in den vergangenen zwei Jahren kamen 4.500 Verurteilte hinzu. Die Todesstrafe wurde 1997 abgeschafft, damit das Land dem Europarat beitreten konnte. Seitdem ist lebenslänglich die Höchststrafe, und sie wird oft verhängt - 94 Lebenslängliche sitzen derzeit ein.

Tsira Chanturia leitet das Büro der Organisation 'Penal Reform International' (PRI) in Georgien. PRI setzt sich weltweit für eine Humanisierung der Haftbedingungen ein. Sie sagt, lebenslänglich werde häufiger verhängt als die Todesstrafe früher. Die Gründe dafür sieht sie einerseits im rigiden Strafrecht des Landes, andererseits in einer Zunahme der Schwerverbrechen.


Harte Haltung

"Lebenslange Haft", so berichtet sie, "wird für schwere Verbrechen wie Mord, Drogenhandel oder terroristische Vergehen verhängt. Bewährung gibt es frühestens nach 25 Jahren." Diese Situation ist bisher jedoch noch nicht eingetreten, da die 'Lebenslänglichen' des Landes noch nicht einmal die Hälfte ihrer Strafe um haben.

Wie Chanturia erläutert, sitzt ein Gefangener lebenslänglich ein, weil er einen Anschlag auf den ehemaligen US-Präsidenten George Bush bei dessen Staatsbesuch in Georgien versucht hatte. Die anderen sind verurteilte Mörder oder Rauschgiftschmuggler. Auch vier Frauen sitzen lebenslang, alle wegen Drogendelikten.

Die öffentliche Meinung, so die Menschenrechtsaktivistin, fordere harte Strafen für Rauschgiftvergehen. "Der Drogenkonsum vor allem der Jugend ist rapide gestiegen. Aber lebenslange Haft, besonders für Frauen, ist durchaus umstritten."


Umdenken bei der Regierung

Speziell in den letzten Jahren sei die Zahl der Gefangenen immens angestiegen, die Gefängnisse seien völlig überfüllt, so die PRI-Sprecherin. Im Zuge einer 'Null-Toleranz-Politik' wurden die Haftstrafen verschärft, für Mehrfachvergehen die Strafen addiert und gleichzeitig die Hürden für eine Bewährung erhöht. Ziel der Regierung war, "das organisierte Verbrechen, Korruption und die Syndikate zu treffen". Getroffen habe es aber auch viele Kleinkriminelle.

Erst seit letztem Jahr gibt es eine Gegenbewegung. Das Justizwesen soll nun reformiert werden. Ab Oktober steht es Richtern frei, bei Kleindelikten Sozialstunden und ähnliche alternative Strafen zu verhängen. Ein eigenes Ministerium für den Strafvollzug wurde geschaffen und macht gute Arbeit, wie sagt Chanturia bestätigt.


Lebenslängliche profitieren wenig von Reformen

Das neue Ministerium hat einiges bewegt, meint die Menschenrechtlerin. Zudem wurden die finanziellen Mittel für den Strafvollzug erhöht. In den Gefängnissen werden Rechtsberatung sowie Aus- und Fortbildungskurse angeboten. Die Verpflegung und die die medizinische Betreuung haben sich verbessert, die Aufseher erhalten eine spezielle Ausbildung im Umgang mit Jugendlichen. Aber natürlich gebe es noch viel zu tun, gerade im Bereich der Lebenslänglichen.

Chanturia bemängelt vor allem, dass die PRI keinen Zugang mehr zu den Gefängnissen hat, um die Haftbedingungen dort zu überprüfen. Früher gab es ein Gremium, in dem auch Nichtregierungsorganisationen vertreten waren, welches Haftbedingungen überprüfen konnte. 2008 jedoch wurde ein Ombudsmann eingesetzt, der diese Aufgabe mit übernommen hat.


23 Stunden unter Verschluss

Das Justizministerium hat neue Zellblöcke bauen lassen, in denen jeder Lebenslänglicher immerhin jetzt 2,5 bis 3 Quadratmeter Platz hat. Dennoch ist das Leben in den Zellen sehr beengt. Zudem, so Chanturia, seien die Betroffenen 23 Stunden am Tag in ihren Zellen eingeschlossen - zu viert bis sechst in einem Raum.

"Materiell geht es den Lebenslänglichen besser als den anderen Insassen, aber bisher sind keine Vorbereitungen für einen offeneren Vollzug Richtung Haftende erkennbar", bedauert die Aktivistin. "Das Konzept der progressiven Haft ist noch sehr neu für Georgien, und die Ansichten über den Umgang mit Häftlingen sind noch weit entfernt von internationalen Standards."

"Es gibt keinerlei Bildungs- oder Rehabilitierungsprogramme für Lebenslängliche. Die Behörden erkennen zwar die Bedeutung solcher Maßnahmen an, aber die Prioritäten liegen woanders", berichtet Chanturia. "Es ist schon sehr kostspielig, 23.000 Gefangene unterzubringen, zu ernähren und zu bewachen. Wenn Georgien es nicht schafft, die Zahl der Insassen zu reduzieren, können die wenigen Ressourcen nicht effektiv eingesetzt werden." (Ende/IPS/sv/2010)


Links:
http://www.penalreform.org/worldwide/south-caucasus
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=52999

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 5. Oktober 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2010