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OSTEUROPA/363: Wohin steuert Bulgarien? - Das Land zwischen Massenprotesten und Neuwahlen (FSE)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Wohin steuert Bulgarien?
Das Land zwischen Massenprotesten und Neuwahlen

von Regine Schubert
Mai 2013



Inhalt

Teil 1: Wie alles begann. Eine Protestbewegung formiert sich
- Warum hohe Stromrechnungen zu Massenprotesten führten
- Die soziale Lage oder warum makroökonomische Stabilität allein täuscht
- Die Macht der Monopole und warum die Proteste in der Schwarzmeerregion weitergehen
- Die Ohnmacht der Bürger: kein Vertrauen in die staatlichen Institutionen
- Was die Proteste bewirkt haben

Teil 2: Die politische Ausgangslage kurz vor den Neuwahlen
- GERB: Ex-Regierungspartei im Aufwind
- BSP: Opposition profitiert nicht von Protesten
- DPS: von Protesten unberührt
- Sonderfall: die Grünen
- Politische Zersplitterung der Protestierenden
- Stimmenverlust und Zersplitterung bei weiteren bürgerlichen Parteien
- Attaka: Rechter Rand gewinnt durch linken Populismus

Ausblick - Wohin steuert Bulgarien?

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• Seit Mitte Februar 2013 wird Bulgarien von einer Serie von Massendemonstrationen erschüttert, die sich zunächst gegen überhöhte Strompreise und monopolartige Strukturen in der bulgarischen Wirtschaft richteten und sich dann zu einem Protest gegen das gesamte politische Establishment ausweiteten.

• Nach dem Rücktritt der konservativen GERB-Regierung unter Bojko Borissow aufgrund der anhaltenden Proteste und der Bildung einer technischen Übergangsregierung sind für den 12. Mai 2013 Neuwahlen angesetzt.

• Trotz dieser einschneidenden Ereignisse hat sich die politische Parteienlandschaft nicht grundlegend verändert. Der heterogenen Protestbewegung ist es bisher nicht gelungen, eine echte Alternative zu den etablierten Kräften hervorzubringen. Sowohl die GERB als auch die oppositionellen Sozialdemokraten der BSP sowie die »Bewegung für Rechte und Freiheiten«, die hauptsächlich die türkischsprachige Minderheit vertritt, werden wahrscheinlich aus den Wahlen als stärkste Parteien hervorgehen.

• Unabhängig vom Wahlausgang wird jedoch die Spaltung der bulgarischen Gesellschaft in »oben« und »unten« bestehen bleiben und damit die zentrale Herausforderung für die künftige bulgarische Politik, von wem auch immer sie geprägt werden wird.

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Teil 1: Wie alles begann - Eine Protestbewegung formiert sich

Proteste von bisher unerreichter Intensität und der überraschende Rücktritt der Regierung, Selbstverbrennungen aus Wut über wirtschaftliche Monopole, Korruption und die organisierte Kriminalität - seit Mitte Februar 2013 befindet sich Bulgarien in einer tiefen politischen Krise. Die anfängliche Entrüstung über die hohen Strompreise und Monopolstrukturen in der Wirtschaft entlud sich schließlich in einer Welle des Protests gegen die politischen Parteien und die regierenden Politiker im Allgemeinen. Die Kundgebungen erreichten ihren Höhepunkt am 17. Februar mit 100.000 bis 200.000 Demonstrierenden in 34 Städten - es handelte sich um die größten Proteste seit der Wende 1989.

Zwar gibt es inzwischen eine Übergangsregierung, die vorgezogene Wahlen organisieren und leiten soll, und die Proteste sind mittlerweile abgeebbt. Nichtsdestotrotz bleiben Frustration und Misstrauen in die als ungerecht empfundenen herrschenden politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Einige Aktivisten rufen dazu auf, die Wahlen zu boykottieren. Bereits jetzt wird spekuliert, ob dies die einzigen Wahlen in diesem Jahr bleiben werden. Um analysieren zu können, was Bulgarien in die Krise geführt hat, wird ein Blick auf den Beginn der Massenproteste notwendig.


Warum hohe Stromrechnungen zu Massenprotesten führten

Auslöser der Unzufriedenheit waren die ungewöhnlich hohen Stromrechnungen für Dezember, die die Bürger im Januar erreichten. Die Regierung und die Kommission für Energie- und Wasserregulierung (KEWR) begründeten dies damit, dass die Stromzähler wegen der Feiertage später abgelesen wurden und sich somit Rechnungen für einen längeren Zeitraum ergaben. Fakt ist jedoch, dass die Strompreise bereits im Sommer 2012 um 13 Prozent erhöht wurden, was sich für die Kunden allerdings erst mit der ersten Rechnung im Winter deutlich bemerkbar machte.[1] Die Tatsache, dass die Stromrechnungen für manche Menschen unbezahlbar geworden waren, führte schließlich zu einer nationalen Welle der Entrüstung über die regionale Monopolstellung der drei in Bulgarien ansässigen Stromanbieter, der tschechischen Firmen CEZ und Energo-Pro sowie der österreichischen EVN. Hinzu kam der Protest über die vom Staat erhobenen Steuern und Gebühren, die den Großteil der Stromrechnung ausmachen.

Die Entwicklung wirft ein Schlaglicht auf die wirtschaftliche und soziale Situation vieler Menschen im ärmsten EU-Land, die es ihnen schlicht unmöglich macht, eine Erhöhung der Lebenshaltungskosten zu tragen.


Die soziale Lage oder warum makroökonomische Stabilität allein täuscht

Bulgarien wird zu Recht für seine makroökonomische Stabilität gelobt. Die konservative Regierung Borissow fuhr eine strikte Austeritätspolitik. Der Anteil der Staatsschulden beträgt nur 17,5 Prozent des BIP, das Budgetdefizit nur 1,3 Prozent. Kehrseite dieser Politik: Dringend benötigte Investitionen in den öffentlichen Sektor bleiben aus, die Kaufkraft sinkt. Die soziale Lage im ärmsten EU-Land ist auch deshalb katastrophal. In Zeiten der Wirtschaftskrise verschlechterte sie sich weiter. Mit einem monatlichen Durchschnittslohn von offiziell etwa 400 Euro (ein Drittel des EU-Durchschnitts, geschätzt in Kaufkraftstandards) bildet Bulgarien nach wie vor das Schlusslicht im europäischen Vergleich. Die Renten wurden vier Jahre lang nicht angehoben, die Durchschnittsrente liegt bei etwa 137 Euro. Etwa 23 Prozent aller Haushalte leben unter der offiziellen Armutsgrenze von 120 Euro. Die Mindestrente von 74 Euro, die 20 Prozent aller Rentner erhalten, sowie die Sozialrente von 51 Euro und der Nettomindestlohn von 113 Euro liegen weit darunter. So ist es nicht verwunderlich, dass in Bulgarien eine hohe Erwerbstätigenarmut herrscht.

In dem Land mit einem der flexibelsten Arbeitsmärkte Europas gingen seit Beginn der Wirtschaftskrise über 400.000 Arbeitsplätze verloren - ein dramatisches Ergebnis, wenn man bedenkt, dass die Zahl aller Beschäftigten nur etwas über drei Millionen (60,6 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung) beträgt. Ein besonderes Problem ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit: Nach Angaben von Eurostat betrug die Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe unter 25 Jahren im September 2012 fast 30 Prozent. Mehr als 80 Prozent aller in den letzten Monaten entlassenen Arbeitnehmer gehören zu dieser Altersgruppe.

2012 schließlich spitzte sich die ohnehin schlechte Lebenssituation vieler Bulgaren durch einen Anstieg der Preise für Strom, Wasser und Kraftstoffe um ein Viertel im Vergleich zum Vorjahr massiv zu. Viele Menschen konnten ihre Kredite nicht zurückzahlen, eine Reihe von ihnen haben ihre Wohnungen verloren, allein 2012 wurden von den Banken 36.000 Immobilien versteigert. So war es nur eine Frage der Zeit, bis sich die latent wachsende Unzufriedenheit der Bürger in Protesten entladen würde.


Die Macht der Monopole und warum die Proteste in der Schwarzmeerregion weitergehen

Die große Unzufriedenheit, die sich angesichts der prekären sozialen Verhältnisse im Land breitgemacht hat, richtete sich auch gegen die Monopolstellung vieler staatlicher, aber vor allem auch privater Unternehmen. Neben den Stromverteilergesellschaften gibt es in Bulgarien eine Reihe weiterer Monopole: Die meisten Wasserversorgungsgesellschaften sind in staatlicher Hand oder gehören den Gemeinden und verfügen somit über eine Monopolstellung in den entsprechenden Gebieten. Die Bevölkerung macht vor allem die als Ausnutzung ihrer Stellung zur Festsetzung überhöhter Preise empfundene Haltung dieser Unternehmen wütend. Die russische Firma »Lukoil« wiederum ist der einzige Anbieter von Benzin und Diesel in Bulgarien. Bereits 2012 fanden zahlreiche Proteste gegen den Konzern statt, da die Benzin- und Dieselpreise in Bulgarien aufgrund der niedrigsten Gehälter im EU-Vergleich als zu hoch empfunden werden.

Ein weiterer Punkt, der die Wut der Bevölkerung auf sich zog und somit als Bestandteil der Ursachen der Massenproteste gesehen werden kann, ist der Einfluss der bulgarischen Oligarchen, die durch ihre finanziellen Ressourcen in der Lage sind, die Gesetzgebung in ihrem Sinne zu beeinflussen sowie große öffentliche Aufträge oder billige Konzessionen zu erlangen. Dazu gehören beispielsweise auch Baugenehmigungen in Naturschutzgebieten.

Zudem führt die Konzentration der bulgarischen Medien in den Händen einiger Oligarchen zu besorgniserregenden Einschränkungen in der Medienfreiheit. Mittlerweile belegt Bulgarien im EU-Vergleich den letzten Rang.2 Besonders deutlich wird die Konzentration und die Einflussnahme ökonomischer Interessen auf journalistische Beiträge bei der »Neuen bulgarische Mediengruppe« um die Korporative Handelsbank.

Bezüglich der geschilderten negativen Entwicklungen in Bulgarien kann in diesem Zusammenhang die Schwarzmeerregion um Varna und die Gruppierung TIM als ein Beispiel gesehen werden. Die starken Proteste richteten sich vor allem gegen TIM, die ihre Wurzeln in der organisierten Kriminalität hat und weite Teile der bulgarischen Wirtschaft kontrolliert. Nach eigenen Angaben produziert sie zehn Prozent des BIPs Bulgariens und ist der größte Arbeitgeber des Landes. Zu TIMs Firmenkonglomerat gehören über 50 Unternehmen, darunter zwei Fluggesellschaften, eine Bank, ein Versicherungsunternehmen, Unternehmen für Weizenhandel, Außenhandel, Hotels und mehrere Fernsehsender. Beobachter sind der Ansicht, dass es TIM zwar gelungen ist, Gelder aus der organisierten Kriminalität mittels legaler Unternehmen reinzuwaschen, ihre Methoden seien jedoch die gleichen geblieben: Um Profit und politischen Einfluss zu erhalten sowie Kritiker mundtot zu machen, bedienen sie sich Mitteln wie Bedrohung, Erpressung und Korruption.

Da TIM ihre Wurzeln in der Schwarzmeerregion um Warna hat, waren die Proteste dort am stärksten und halten weiterhin an, obwohl sie im übrigen Land bereits abgeklungen sind. Auslöser für Proteste gegen TIM waren zunächst ebenfalls die hohen Stromrechnungen, da eine Involvierung der Gruppe in die tschechische Stromversorgungsfirma »EnergoPro« vermutet und ihr somit eine Mitschuld an der Preisexplosion gegeben wurde. Bald richteten sich die Proteste jedoch gegen TIM als Ganzes sowie gegen Politiker, denen vorgeworfen wird, Geschäfte mit TIM zu machen. Vor allem wurde gegen den mittlerweile zurückgetretenen Bürgermeister von Warna, Kiril Yordanow, protestiert. Um dessen Rücktritt zu erzwingen, kam es zur ersten Selbstverbrennung in Bulgarien: Plamen Goranow, ein junger Mann von 36 Jahren, stand an der Spitze der Proteste und war ein öffentlicher Kritiker der Methoden von TIM.

Seit dem Rücktritt des Bürgermeisters ist das vorrangige Ziel der anhaltenden Proteste der Rücktritt des gesamten Stadtrates von Warna, dem die Unterstützung von Kiril Yordanow sowie die Vermengung von wirtschaftlichen und politischen Interessen, sprich die Zusammenarbeit mit TIM, vorgeworfen wird.


Die Ohnmacht der Bürger: kein Vertrauen in die staatlichen Institutionen

Die Verquickung von politischer und wirtschaftlicher Macht, die anhaltende Korruption, mangelnde Rechtsstaatlichkeit und organisierte Kriminalität, aber auch die fehlende Bürgernähe politischer Institutionen und Parteien haben zur Folge, dass sich die Mehrzahl der Bürger ohnmächtig den »Machthabenden« ausgeliefert fühlt, unabhängig davon, wer gerade an der Regierung ist.

Auch im vergangenen Jahr gab es handfeste Skandale im Justizwesen. Diese werfen nicht nur ein Schlaglicht auf den Zustand der bulgarischen Justiz, sie sind auch mitverantwortlich für das weiter sinkende Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen.

Aufgrund der Defizite bei Rechtsstaatlichkeit und dem Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität steht das Land weiter unter dem Kooperations- und Kontrollverfahren (Cooperation and Verification Mechanism, CVM) der EU-Kommission, das im Vorfeld des Beitritts Bulgariens zur EU im Jahr 2007 vereinbart wurde, um Unzulänglichkeiten in den genannten Bereichen zu beseitigen. Die negative Beurteilung Bulgariens 2012 war auch einer der Gründe dafür, dass der Schengen-Beitritt des Landes, ursprünglich vorgesehen für Januar 2011, erneut verschoben wurde. Neben Schwächen insbesondere bei Fällen von Korruption auf hoher Ebene und schwerer organisierter Kriminalität weist der letzte Bericht auf die fragwürdige Unabhängigkeit der Justiz hin.


Was die Proteste bewirkt haben

Alle genannten Beispiele und Ereignisse haben sich gegenseitig verstärkt und in ihrer Verquickung zu den Massenprotesten geführt. Diese wiederum hatten Folgen auf sowohl regionaler als auch nationaler Ebene.

So entließ die Regierung den Vorsitzenden der Staatlichen Kommission für Energie- und Wasserregulierung (DKEWR), Angel Semerdschiew. Gegen ihn läuft inzwischen ein Verfahren wegen Amtsmissbrauchs. Außerdem wurden die Preise für Strom um etwa sieben Prozent reduziert. Der Rücktritt des Bürgermeisters von Varna wurde bereits genannt. Das einschneidendste Ereignis infolge der Proteste war jedoch der Rücktritt der Regierung Borissow und die Auflösung des Parlaments. Dies wiederum hatte das Einsetzen einer Übergangsregierung und die Vorverlegung der Parlamentswahlen um zwei Monate auf den 12. Mai 2013 zur Folge.

Tragischerweise machte das Schicksal von Plamen Goranow Schule. Danach zündeten sich insgesamt fünf weitere Menschen an, vier davon starben. Derlei Taten kennt man aus unterdrückten, diktatorisch regierten Ländern. Erinnerungen an Tunesien werden wach, wo 2010 die Selbstverbrennung eines jungen Mannes die Tunesische Revolution einleitete. Im Kontext der europäischen Union sind sie erschreckender und bisher nicht gekannter Ausdruck der grenzenlosen Verzweiflung mancher Menschen.

Da sich die Proteste gegen das gesamte wirtschaftliche und politische System richteten, rief der Rücktritt der Regierung keinen Freudentaumel hervor. Im Gegenteil: die Forderungen wurden radikaler. Einige Aktivisten riefen dazu auf, die Wahlen zu boykottieren. Positiv zu beurteilen ist allerdings der steigende Wille einiger Protestierender, sich politisch zu engagieren und in eigenen oder als Mitglied bestehender Parteien an den Wahlen teilzunehmen.

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Teil 2: Die politische Ausgangslage kurz vor den Neuwahlen

Eingereicht werden mussten für die Registrierung neben amtlichen Dokumenten der Partei jeweils 7000 Unterschriften von wahlberechtigten Bürgern und 10.000 Leva (ca. 5000 Euro) als eine Art Kaution. 27 der registrierten Parteien, sowohl alte als auch neue, gründeten insgesamt sieben Wahlbündnisse. Zur Wahl werden in diesem Jahr somit 45 Parteien bzw. Bündnisse stehen, im Gegensatz zu 20 bei den letzten Parlamentswahlen 2009.

Da es in Bulgarien keine entwickelte Umfragekultur gibt, ist es schwer, unter den zahlreichen Wahlprognosen, die jeden Tag veröffentlicht werden, solche zu identifizieren, die unter Einhaltung wissenschaftlicher Standards durchgeführt werden und somit eher zuverlässig sind. Einige der Umfragen werden auch bewusst im Sinne von zahlungskräftigen Auftraggebern manipuliert. So lagen bei allen Parlamentswahlen seit 2001 die Regierenden einige Monate vor den Wahlen immer deutlich vorne - und verloren schließlich die Wahlen. Den letzten Umfragen zufolge geben um die 17 Prozent der Befragten an, noch nicht sicher zu sein, wem sie ihre Stimme geben werden. Entsprechend gelten auch die im Text genannten Werte nur unter Vorbehalt.

Die politische Ausgangslage kurz vor den Neuwahlen am 12. Mai 2013 wird von einer Reihe von bestehenden und neuen Parteien bestimmt, die im Folgenden hinsichtlich ihrer Charakteristika und ihres potenziellen Abschneidens analysiert werden sollen.


GERB: Ex-Regierungspartei im Aufwind

Als Regierungspartei war GERB, die Partei von Ministerpräsident Bojko Borissow, am stärksten von den Massenprotesten betroffen. Völlig überraschend kündigte Borissow am 20. Februar den Rücktritt seiner Regierung an, angeblich, um Blutvergießen auf den Straßen zu vermeiden. De facto ließ er das Land von heute auf morgen in einer schwierigen politischen Situation ohne handlungsfähige Regierung. Strategisch gesehen stellte Borissows Rücktritt jedoch einen äußerst klugen Schachzug dar: In den Vormonaten hatte seine Regierung kontinuierlich an Zustimmung verloren. Zu Beginn der Massenproteste lag sie erstmals gleichauf mit der größten Oppositionskraft, der BSP. Wäre Borissow bis zu dem regulären Wahltermin im Juli 2013 im Amt geblieben, wären die Chancen für GERB, die Wahlen zu gewinnen, weiter gesunken. Interessanterweise hat das Image Borrisows trotz seines überstürzten Rücktritts nicht gelitten. Er profitiert vom Wunsch vieler Menschen nach autoritärer Führung in Krisenzeiten. Seine Partei liegt inzwischen wieder deutlich vor der BSP.

In einer pompösen Veranstaltung stellte GERB ihr Wahlprogramm vor und bestätigte Borissow erneut als Listenführer und Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten. Inhaltlich machte man den Protestierenden gegenüber insofern Zugeständnisse, als dass man zugab, dass die Austeritätspolitik in dieser Ausprägung ein Fehler war. Borissow appellierte an die 14.000 Aktivisten, die ihn stürmisch feierten, dass die Partei Fehler auf dem Gebiet der Sozialpolitik zugeben soll. Grundsätzlich wird es in der Wirtschafts- und Sozialpolitik von GERB jedoch keine Änderungen geben. Vor allem die viel kritisierte Flat-Tax, die von der Vorgängerregierung eingeführt worden war, soll bestehen bleiben.

In personeller Hinsicht wurden Konzessionen an die Protestierenden gemacht: Etwa die Hälfte des ehemaligen Kabinetts steht nicht mehr zur Wahl, darunter der meist kritisierte Mann der Regierung Borissow, Ex-Finanzminister Simeon Djankow. Mit ihm verbindet man insbesondere die starre Austeritätspolitik. Zudem fällt die Abwesenheit von Ex-Landwirtschaftsminister Miroslaw Naidenow auf. Gegen ihn läuft ein Verfahren wegen versuchter Bestechung und Amtsmissbrauchs. Nicht mehr auf den Wahllisten vertreten sind auch ehemalige Abgeordnete, die eindeutig mit Korruption und Lobbyismus in Verbindung gebracht werden, darunter der einflussreiche Abgeordnete Emil Dimitrow, ein enger Freund Borissows. Dimitrow emigrierte inzwischen nach Großbritannien, da er nach eigenen Angaben Angst um sein Leben habe, weil er zu viele Geheimnisse von GERB kenne. Als »Lebensversicherung« hinterließ er diese Geheimnisse schriftlich einem Notar - mit der Auflage, sie im Fall seines Ablebens zu veröffentlichen.

In den letzten Tagen erschütterte zudem ein Abhörskandal die Partei. Offensichtlich soll das von GERB geführte Innenministerium über Jahre führende Politiker, vorrangig der Opposition, abgehört haben, darunter den ehemaligen Staatspräsidenten Georgi Parwanow, den BSP-Vorsitzenden Stanischew und den derzeitigen Präsidenten Plewneliew. Die Staatsanwaltschaft ermittelt und erklärte bereits, dass die Abhöraktionen erwiesen seien, wenn man auch noch nicht wisse, in welchem Ausmaß. Erneut formierten sich Proteste, diesmal für den Rückzug des ehemaligen Innenministers Zwetan Zwetanows aus der Politik. Zwetanow leitet derzeit den Wahlstab von GERB. Am 25. April erreichte der Skandal einen neuen Höhepunkt: Der ehemalige Landwirtschafsminister Naidenow erklärte in einem Interview, dass nicht nur die Opposition, sondern die gesamte damalige Regierung von ihrem eigenen Innenminister abgehört wurde. Dieser Skandal könnte dazu führen, dass die Umfragewerte von GERB einbrechen, verlässliche Daten gibt es dazu jedoch noch nicht. Sollten sich die guten Werte bei der Wahl bestätigen, würde es sich aller Voraussicht nach dennoch als schwierig für GERB erweisen, eine Regierung zu bilden. Eine absolute Mehrheit scheint ausgeschlossen. Nahezu unmöglich scheinen Koalitionen mit der BSP und der DPS. GERB selber erklärte, nicht mit der BSP, der DPS und Attaka koalieren zu wollen. Unter Umständen wäre eine Koalition mit der Partei »Bulgarien der Bürger« möglich - zumindest wurde eine solche von beiden Parteien nicht ausgeschlossen.


BSP: Opposition profitiert nicht von Protesten

Die wichtigste Oppositionskraft war in der letzten Legislaturperiode die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP), obwohl sie nur 40 von insgesamt 240 Abgeordneten stellte. Ihr Vorsitzender ist der ehemalige Ministerpräsident (2005-2009) Sergej Stanischew. Stanischew ist gleichzeitig Präsident der Sozialdemokratischen Partei Europas. Die Partei ist innerlich gespalten, seit der ehemalige Staatspräsident und Parteivorsitzende Georgi Parwanow 2012 erneut versuchte, den Parteivorsitz zu erhalten.

Bis zu den Massenprotesten konzentrierte sich die Partei inhaltlich auf das Referendum zur Atomkraft in Bulgarien, das am 27. Januar stattfand und schließlich angesichts der geringen Wahlbeteiligung von 20 Prozent scheiterte. Die BSP gilt als strikter Atomkraftbefürworter und drängt auf den Weiterbau des milliardenschweren Reaktors in Belene, der von der zurückgetretenen Regierung gestoppt worden war. Abgesehen von den energiepolitischen Positionen setzte man auf Fundamentalopposition gegen die Regierung Borissow. Zu Beginn beteiligte sich die BSP an den Massendemonstrationen. Man hoffte, von den Protesten politisch zu profitieren. Als sich die Proteste zunehmend gegen alle politischen Parteien richteten, blieb die BSP fern. Sie war vom vermeintlichen Profiteur zum Zielobjekt der Proteste geworden.

Die Partei reagierte: Führende Vertreter bekannten öffentlich, dass allen Parteien nun der Spiegel vorgehalten würde und sie hineinblicken müssten. In einer kurzfristig anberaumten Sitzung des Nationalrats [3] beschloss die BSP, sich inhaltlich und personell zu erneuern. In einem schwierigen Prozess setzte Sergej Stanishew durch, dass auf die Worte Taten folgten: Auf den Wahllisten sind zahlreiche vormalige Parteigrößen nicht mehr vertreten. Insbesondere ehemalige Minister und Abgeordnete, denen seit Jahren Korruption und Verbindungen zur organisierten Kriminalität vorgeworfen werden, fanden keinen Platz mehr. Stattdessen nahm die Partei zahlreiche Vertreter der Zivilgesellschaft in ihre Listen auf.

Stanishew selber führt zwar zwei Wahllisten in Sofia an, erklärte aber, dass er für den Fall eines Wahlsieges der BSP nicht als Ministerpräsident zur Verfügung stehen würde. Dies ist nur auf den ersten Blick verwunderlich, denn Stanishew ist in Bulgarien nicht sehr populär. Im Ranking der beliebtesten Politiker liegt er regelmäßig mit circa 22 Prozent auf einem der hinteren Plätze und verharrte dort auch, als die Popularität des noch amtierenden Ministerpräsidenten Bojko Borissow sank. Seitdem er den Vorsitz der Sozialdemokratischen Partei Europas innehat, konzentriert er sich zunehmend auf die internationale Arbeit. Als Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten schlug er daher Ende März Plamen Orescharski vor. Orescharski ist parteilos und diente der BSP geführten Dreierkoalition bis 2009 als Finanzminister. Von 1997 bis 2001 war er unter der bürgerlichen Regierung von Ministerpräsident Iwan Kostow bereits stellvertretender Finanzminister. Orescharski ist gerade als parteiloser, wirtschaftsfreundlich geltender Kandidat - er hatte in der Dreierkoalition die inzwischen viel kritisierte Flat-Tax eingeführt - auch dem bürgerlichen Lager vermittelbar.

Die Spekulation auch auf die Tolerierung aus dem bürgerlichen Lager ist insofern wichtig, da die BSP davon ausgehen muss, dass sie bei den Wahlen bestenfalls mit GERB gleichauf liegen wird. Allen Prognosen zufolge würde es selbst mit der DPS als Koalitionspartner für eine Regierungsbildung knapp werden. So ist es durchaus denkbar, dass sich eine von der BSP geführte Regierung von einer bürgerlichen Partei tolerieren lassen muss. Dass die BSP darauf abzielt, macht die Ankündigung der Partei, nach den Wahlen die Führung einer »Expertenregierung« mit breiter parlamentarischer Akzeptanz anzustreben, deutlich.

Orescharski müsste auf den ersten Blick einen ziemlichen Spagat leisten, denn nach den Protesten hat die Partei ihr linkes Profil deutlich geschärft. So müsste er im Falle einer Regierungsbeteiligung die von ihm selbst eingeführte Flat-Tax, von der er persönlich weiterhin überzeugt ist, zugunsten eines progressiven Steuersystems wieder abschaffen. Dies scheint jedoch aus jetziger Sicht recht unwahrscheinlich, da die meisten Parteien, inklusive des potenziellen Koalitionspartners DPS, für die Beibehaltung der Flat-Tax eintreten.

Weitere soziale Maßnahmen, die die Partei für den Fall eines Wahlsieges ankündigt, umfassen die Erhöhung des Mutterschaftsgeldes, Reformen im Rentensektor sowie die Schaffung von 250.000 Arbeitsplätzen, insbesondere für die Jugend - allerdings ohne zu spezifizieren, auf welchem Weg dies erreicht werden soll.

In der Frage des Baus des umstrittenen Kernkraftwerks in einem erdbebengefährdeten Gebiet in Belene an der Donau bleibt die BSP weiterhin unbeweglich: Teil des Wahlprogrammes ist es, den Bau im Falle einer Regierungsbeteiligung wieder aufzunehmen. Damit stellt sich die BSP nicht nur gegen jede wirtschaftspolitische Vernunft, denn es gibt schon jetzt eine Überproduktion von Energie im Land, aufgrund derer kürzlich bereits Teile einiger Kraftwerke abgeschaltet werden mussten. Potenzielle Allianzen mit der Grünen Bürgerrechtsbewegung, die in der Sozialpolitik durchaus ähnliche Vorstellungen wie die BSP hat, werden durch die energiepolitische Fokussierung der BSP auf die Atomkraft von vorneherein zunichte gemacht.[4]

Die BSP tritt bei den Wahlen erneut in der »Koalition für Bulgarien« mit sieben kleinen sozialdemokratischen und linken Parteien, einschließlich zwei Roma-Parteien, an, die alleine keine Chancen auf einen Einzug ins Parlament hätten.

Ob die personelle Erneuerung und Schärfung des linken Profils die Chancen auf einen Wahlsieg der BSP steigen lassen, ist fraglich, denn sie wird weiterhin als die Partei des Systems gesehen, gegen das hunderttausende Bürger auf die Straße gingen. Zudem bleibt bei aller personellen Erneuerung immer noch deutlich, dass auch die Personaldecke der BSP »dünn« ist. Ebenso muss sich zeigen, ob die alten Parteigranden tatsächlich neuen Gesichtern eine Chance geben oder ob sie weiterhin im Hintergrund die Fäden in der Hand halten. In den letzten Umfragen liegt die Koalition für Bulgarien wieder deutlich hinter GERB. Der Soziologe Andrej Raitschew meinte dazu, dass die Forderungen der Bevölkerung links sind, sie aber möchte, dass sie von einer rechten Regierung durchgesetzt werden.


DPS: von Protesten unberührt

Die »Bewegung für Rechte und Freiheiten«, DPS, die hauptsächlich Wähler der türkischen Minderheit und bulgarische Muslime vertritt, wird wieder sicher ins Parlament einziehen. Obwohl sich die Protestierenden auch gegen die Führung der DPS als Teil des Establishments, insbesondere gegen den kürzlich vom Vorsitz zurückgetretenen Ahmed Dogan richteten, sieht sich die Partei durch die Massenproteste nicht herausgefordert. Ihre Wählerklientel, Türken und bulgarische Muslime, beteiligte sich kaum an den Protesten.

Im Januar wählte die Partei einen neuen Vorsitzenden - Ljutwi Mestan. Der bisherige Vorsitzende Ahmed Dogan wurde Ehrenvorsitzender. Mestan gilt als gemäßigter und eher bürgernah im Vergleich zu Dogan. Man geht davon aus, dass er die Partei öffnen wird - auch für neue Koalitionsoptionen. Eine Koalition mit GERB ist jedoch unwahrscheinlich. Die offenen Feindseligkeiten zwischen beiden Parteien gipfelten im Februar 2013 in dem Vorwurf Bojko Borissows, Ahmed Dogan persönlich habe seine Ermordung in Auftrag gegeben - eine Behauptung, die von der Parteispitze der DPS selbstverständlich empört zurückgewiesen wurde. Wahrscheinlich wäre bei entsprechendem Wahlergebnis eine Koalition mit der BSP bzw. der Koalition für Bulgarien. Die BSP sieht in der DPS ihren strategischen Partner, ein Grund dafür, dass die BSP sich bisher kaum darum bemüht hat, die Stimmen der Minderheiten der Türken und bulgarischen Muslime zu gewinnen.

Eine Herausforderung für die DPS ist die neugegründete Partei »Freiheit und Würde« von Kassim Dal und Korman Ismailow. Beide wurden 2011 aus der DPS ausgeschlossen. Dal war bis zu einem Konflikt mit dem damaligen Parteivorsitzenden Ahmed Dogan, in dem er diesem seine Tätigkeit für den kommunistischen Staatsicherheitsdienst vorwarf, eine der Schlüsselfiguren innerhalb der DPS. Die neue Partei kämpft um das gleiche Wählerklientel wie die DPS und wird ebenso von der türkischen Regierung wie auch von GERB unterstützt. Beide hoffen, damit mehr Einfluss auf die in Bulgarien lebenden Türken und bulgarischen Muslime zu gewinnen. Man rechnet mit einer größeren Unterstützung für »Freiheit und Würde« unter den in der Türkei lebenden Bulgaren. Bei den Wahlen tritt die Partei in Koalition mit der NDSV (Nationale Bewegung für Stabilität und Fortschritt) an. Die Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Simeon Sachskoburggotski, die seit dessen Rücktritt vom Parteivorsitz von Hristina Hristowa geführt wird, hätte alleine keine Chance auf einen Einzug ins Parlament. Nach den derzeitigen Umfragewerten würde sie auch in dieser Koalition nicht ins Parlament einziehen. Eine sichere Aussage darüber kann aber aufgrund des Unsicherheitsfaktors der Stimmen der zahlreichen in der Türkei lebenden Bulgaren nicht getroffen werden. Sicher ist jedoch, dass »Freiheit und Würde« die DPS zahlreiche Stimmen kosten wird.


Sonderfall: die Grünen

Ein Sonderfall ist die Partei »Zelenite« (die Grünen), eine von mehreren grünen Parteien in Bulgarien - im europäischen Kontext betrachtet jedoch die einzige, die durchgängig grüne Werte vertritt. Die Partei ist nicht aus den Protesten hervorgegangen, verdient es jedoch, hier genannt zu werden, da ihre Mitglieder sowohl bei den Massenprotesten in diesem Jahr, aber auch bei den Protesten im Jahr 2012 an vorderster Front aktiv waren. Kalina Pawlowa, die Vorsitzende der Grünen in Warna, gilt als »Ikone« der dortigen Protestbewegung.

Die Partei ist Teil einer Grünen Bürgerrechtsbewegung, bei deren Mitgliedern es sich vorrangig um progressive, junge Akteure mit vergleichsweise hohem Bildungshintergrund handelt, die durchaus als Chance und treibende Kraft für eine demokratische, nachhaltige und soziale Entwicklung des Landes gesehen werden können. Dennoch müssen sie sich regelmäßig vorwerfen lassen, als Partei automatisch Teil des korrupten Establishments zu sein. Von den Massenmedien wurden sie bis zum Rücktritt der Regierung weitgehend ignoriert, was wiederum nicht zu ihrer Popularität beitrug. Bis auf ein paar vereinzelte Gemeinde- und Stadträte (Lukowit, Triawna, Dobritsch) haben sie bisher keine parlamentarischen Vertreter. Laut Meinungsumfragen haben sie bisher wenige Chancen auf den Einzug ins Parlament.

Obwohl die Grünen in der Umwelt- und Sozialpolitik aus europäischer Sicht linke Werte verfolgen, ordnen sie sich selbst im Parteienspektrum nicht »links« ein. Infolge der kommunistischen Vergangenheit wird in Bulgarien politisch »links« häufig noch mit der ehemaligen staatssozialistischen Partei BKP und deren Nachfolgepartei BSP gleichgesetzt und als Antagonismus zu »demokratisch« verwendet.


Politische Zersplitterung der Protestierenden

Aktuellen Meinungsumfragen zufolge hätte eine einheitliche Partei der Protestierenden das Potenzial, 14 Prozent der Wählerstimmen auf sich zu vereinigen. Aufgrund der hohen politischen Heterogenität und der Vielfalt an den von den Protestierenden vorgebrachten Forderungen wäre eine solche Partei jedoch mittelfristig nicht handlungs- und entscheidungsfähig und somit wieder zum Scheitern verurteilt.

Nachdem der Regierungsrücktritt im Februar und die damit verbundenen vorgezogenen Neuwahlen für alle Parteien, vor allem aber für die kleineren, zunächst wie ein Schock wirkten, kann jedoch positiv vermerkt werden, dass die Zentrale Wahlkommission die Frist zur Registrierung der Parteien für die Wahlen um zwei Wochen bis Ende März verlängert hatte. Damit wurde kleinen und aus der Protestbewegung hervorgegangenen Parteien überhaupt erst eine Möglichkeit gegeben, sich für die Wahlen zu registrieren.

Dies hat jedoch wiederum zur Folge, dass die anstehenden Wahlen von einer unübersehbaren Menge an Kleinstparteien beherrscht werden. Es gibt ernstzunehmende Vermutungen, dass unter dem Motto »teile und herrsche« die Zersplitterung bewusst von außen bzw. den etablierten Parteien angestrebt wird, um eine mögliche Gefahr von ernstzunehmender Konkurrenz zu bannen.

Neben Parteien, die tatsächlich aus der Protestbewegung hervorgegangen sind, zogen die Ereignisse der letzten Wochen außerdem Gründungen sogenannter »Mimikryparteien« nach sich, die Symbole und Forderungen der Protestierenden aufgreifen, und die so, häufig mit ausreichend Finanzmitteln ausgestattet, versuchen auf Wählerfang zu gehen. Zudem sieht man Versuche ehemaliger Politiker, aus den Protesten Kapital zu schlagen, indem sie Teile der Protestierenden durch finanzielle Anreize ködern, etwa mit dem Versprechen, teure Wahlkampagnen zu finanzieren.

Eine Gruppe von Parteien, die sich infolge der Proteste mobilisiert hat, besteht aus kleineren Parteien, die zwar bereits vorher existierten, die jedoch gestärkt aus den jüngsten Ereignissen hervorgehen, da sie bereits zuvor Forderungen nach mehr Rechtsstaatlichkeit und mehr Bürgerbeteiligung in Bulgarien stellten. Zu diesen zählt beispielsweise die grüne Partei »Zelenite«.[5] Viele Neugründungen nutzten die Listen formal bestehender, aber de facto nicht mehr existierender Parteien, um dem aufwendigen Parteienregistrierungsverfahren für neue Parteien zu entgehen.

Im Folgenden werden beispielhaft einige Parteien, die aus den Protesten hervorgegangen sind, vorgestellt. Laut aktuellen Meinungsumfragen hat jedoch keine von ihnen die Chance, die Vier-Prozent-Hürde zu überspringen und ins Parlament einzuziehen.

Demokratische Bürgerinitiative: Die Partei selbst ist seit dem Jahr 2000 registriert und wurde als Abspaltung der Union Demokratischer Kräfte (SDS) gegründet, ist aber bereits seit längerem inaktiv. Ihre Listen werden von den Protestierenden um Angel Slawtschew genutzt, die im Verlauf der Proteste die »Bewegung für Bürgerkontrolle« gegründet haben. Slawtschew selbst betrachtet sich als politisch links stehend, ohne jedoch mit der Nachfolgepartei der ehemaligen Nomenklatura, BSP, in Verbindung gebracht werden zu wollen.

Koalition »Bulgarischer Frühling«: Die Koalition besteht aus der Partei »Bulgarische Sozialdemokratie« mit dem Vorsitzenden Alexander Tomow, der in erster Instanz zu neun Jahren Haft wegen illegaler Aneignung von Eigentum verurteilt wurde, und der »Partei der Grünen«, die sich 2001 von der »Grünen Partei in Bulgarien« abgespalten hat (beide nicht zu verwechseln mit der authentischen grünen Partei »Zelenite« - Die Grünen). Beide Parteien der Koalition sind unbedeutende Kleinstparteien, die ihrem Label auch inhaltlich nicht gerecht werden. Die Partei »Bulgarische Sozialdemokratie« hatte bereits 2011 ihren Beobachterstatus in der Sozialistischen Internationalen verloren.

»Neue Alternative«: Unmittelbar nach dem Rücktritt der Regierung Ende Februar erschien diese Partei mit aufwendiger Kampagnenführung auf der Bildfläche. Sowohl das zahlreiche Personal, das Informationsmaterial unter die Leute bringt, als auch der Internetauftritt deuten darauf hin, dass hier große Summen privater Gelder investiert wurden, um mit den Forderungen der Protestbewegung auf Stimmenfang zu gehen. Gesicht der Partei ist Nikolaj Zonew, ehemaliger Außenminister in der Dreierkoalition von BSP (Bulgarischer Sozialistischer Partei), NDSV (Nationale Bewegung für Stabilität und Fortschritt) und DPS (Bewegung für Rechte und Freiheiten), der wegen Korruption bereits in Haft saß. Die Partei hat politisch keine Inhalte zu bieten und wirbt lediglich mit ihrer Rolle als Alternative zu bestehenden Parteien.

Nahezu alle etablierten Parteien haben außerdem Mitglieder der Protestbewegung als Kandidaten in ihre Listen aufgenommen - allerdings meist auf wenig aussichtsreichen Listenplätzen. Die Partei der zurückgetretenen Regierung, GERB (Bürger für eine europäische Entwicklung), hat zudem Versuche unternommen, Studenten unter der Führung des bekannten bulgarischen Ex-Fußballspielers Hristo Stoitschkow, der ein enger Freund von Parteichef Borissow ist, in einer Partei zu vereinen. Die vorgesehene Koalition mit der nationalistischen VMRO (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation - Bulgarische Nationale Bewegung) ist jedoch gescheitert.


Stimmenverlust und Zersplitterung bei weiteren bürgerlichen Parteien

Als Alternative im bürgerlichen Lager galt zunächst die 2012 gegründete Partei »Bulgarien der Bürger« der ehemaligen EU-Kommissarin Meglena Kunewa. Sie gehört jedoch eindeutig zu den Verlierern der Massenproteste. Zudem konnte sie bisher kein profiliertes Wahlprogramm vorlegen. Nach den letzten Umfragen gilt ihr Einzug ins Parlament als wahrscheinlich, aber nicht mehr sicher. Das traditionelle bürgerliche Lager, bisher vertreten im Wählerbündnis »Blaue Koalition« mit SDS (Union der demokratischen Kräfte) und DSB (Demokraten für ein starkes Bulgarien) des ehemaligen Ministerpräsidenten Iwan Kostow, hat sich gespalten. Antreten werden drei Formationen, die aus der ehemaligen »Blauen Koalition« entstanden sind:

• Die SDS wird in einer neuen Formation antreten, die sich »Koalition SDS« nennt. Hier vertreten sind die drei Parteien der ehemals »Blauen Koalition«, allerdings ohne Kostows DSB, und dafür mit der Partei Gergiowden. Die SDS selbst stand kurz vor dem Zerfall, nachdem Ende 2012 drei Abgeordnete, die Jugendorganisation und die Frauenorganisation aus der Partei ausgeschlossen wurden und führende Mitglieder die Partei verlassen haben.

• Die Partei »Blaue Einheit« wurde von der prominenten EU-Abgeordneten und ehemaligen Außenministerin Nadejda Neinski (vormals Michailowa) und mehreren Abgeordneten gegründet, nachdem diese die SDS verlassen haben. Eine beabsichtigte Koalition mit der DSB scheiterte jedoch an der Bedingung Iwan Kostows, alleiniger Kopf der Koalition zu sein.

• Kostows DSB tritt in Koalition mit der Kleinstpartei Bulgarisches Demokratisches Forum an.

Nach den aktuellen Umfragen ist der Einzug ins Parlament voraussichtlich von keiner der drei Formationen zu schaffen.


Attaka: Rechter Rand gewinnt durch linken Populismus

Einen deutlichen Aufschwung durch die Proteste erhielt die rechtspopulistische Partei »Attaka«.[6] Während sie vor den Protesten noch auf der Suche nach Partnern für ein Wahlbündnis war, um ihren Einzug ins Parlament zu sichern, hat sie dies nun nicht mehr nötig. Neuesten Umfragen zufolge würde sie den Einzug ins Parlament so gut wie sicher auch allein schaffen. Attaka machte sich die Forderung vieler Protestierender nach Nationalisierung »ausländischer Monopole« zu eigen. Sie steht außerdem für eine engere Kooperation mit Russland, was den Weiterbau des Atomkraftwerks Belene einschließt. Attaka machte sich zudem linkspopulistische Forderungen zu eigen - etwa die Anhebung des Mindestlohns von derzeit 310 auf 1000 Bulgarische Lewa sowie die Anhebung der Mindestrente auf 500 Bulgarische Lewa.


Ausblick - Wohin steuert Bulgarien?

Obwohl im Falle Bulgariens wie bereits erwähnt ein Ausblick bezüglich der Wahlergebnisse fast nicht möglich ist, sollen hier die Prognosen des Forschungsinstituts Alpharesearch vom 10. bis 14. April 2013 als Orientierungswerte wiedergegeben werden. Ausgegangen wird von einer Wahlbeteiligung von etwa 60 Prozent. Die Zahlen in Klammern zeigen die in Bulgarien übliche Darstellung der Umfragewerte, bei denen die Nichtwähler - hier in Höhe von 40 Prozent - einberechnet werden. Für die Überschreitung der Vier-Prozent-Hürde ist jedoch die erste Zahl ausschlaggebend.

GERB
BSP (Koalition für Bulgarien)
Attaka
DPS
Bulgarien der Bürger
DSB
37,5%
28,2%
8,2%
8,0%
4,8%
3,0%
(22,5%)
(16,9%)
 (4,9%)
 (4,8%)
 (2,9%)
 (1,8%)

Wenn man die vorhandenen Daten zugrunde legt, wären folgende Szenarien denkbar:

• GERB gewinnt erneut die Wahlen. Sie bildet entweder eine Koalitionsregierung, oder abermals eine Minderheitsregierung, die sich von anderen Parteien tolerieren lässt. Attaka und »Bulgarien der Bürger« wären unter gewissen Umständen bereit, mit GERB zu koalieren oder eine Minderheitsregierung zu tolerieren. Allerdings schloss GERB selbst eine Koalition mit Attaka aus.

• Es kommt zur Koalitionsbildung von BSP bzw. der »Koalition für Bulgarien«, und DPS. Wenn auch diese Koalition keine Mehrheit erlangt, was wahrscheinlich ist, wäre eine Minderheitsregierung (»Programmregierung«) mit Tolerierung durch »Bulgarien der Bürger« denkbar.

• Eine Pattsituation macht die Regierungsbildung unmöglich, und es kommt zu baldigen Neuwahlen.

Die Kommunal- und Präsidentschaftswahlen 2011 waren überschattet von Berichten über Unregelmäßigkeiten und Stimmenkauf, insbesondere bei der Minderheit der Roma. Die bisherige Opposition hat bereits die Befürchtung geäußert, Wahlfälschungen und Stimmenkauf würden bei der kommenden Wahl noch zunehmen. Die OSZE kündigte an, eine normale Wahlbeobachtermission durchzuführen und nicht wie 2011 lediglich eine limitierte Mission.

Beeinflusst wird das Wahlverhalten der Bürger selbstverständlich auch von den Medien. Kleine, weniger finanzstarke Parteien werden dadurch benachteiligt, dass viele der Medienauftritte im nationalen Fernsehen und Rundfunk während des Wahlkampfs bezahlt werden müssen. Die Übergangsregierung hat die ohnehin hohen Tarife um bis zu 150 Prozent erhöht. In einem offenen Brief an Ministerpräsident Marin Raikow weist die Vereinigung Europäischer Journalisten Bulgarien darauf hin, dass dies das Recht der Bürger auf die Freiheit der Wahl einschränke und außerdem neue Parteien benachteilige.

Was nach dem Abebben der Proteste bleibt, ist die große Diskrepanz zwischen den Machthabenden in Wirtschaft und Gesellschaft und den »einfachen« Bürgern. Es entsteht der Eindruck, dass die bulgarische Gesellschaft vor den Wahlen nicht in »rechts« und »links«, sondern in »oben« und »unten« gespalten zu sein scheint. Diese Spaltung zu überwinden, ist eine der größten zukünftigen Herausforderungen für die bulgarische Politik. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Kluft zwischen Politik und denjenigen, die sich nicht von der Politik vertreten fühlen, wächst. Damit wären die nächsten Proteste und sehr wahrscheinlich eine politische Dauerkrise vorprogrammiert.


Anmerkungen

[1] Knapp die Hälfte der Bulgaren heizt mit Strom, der Rest mit Fernwärme, die wiederum durch Pumpen mit Strom betrieben wird.

[2] Siehe Pressefreiheitsindex von Reporter ohne Grenzen 2013. Bulgarien befindet sich auf Rang 87 und bildet damit das Schlusslicht im EU-Vergleich. Siehe
http://www.reporter-ohne-grenzen.de/ranglisten/rangliste-2013/, 30.04.2013.

[3] Der Nationalrat ist das nationale Führungsgremium der BSP, das das Exekutivkomitee wählt, welches dann wiederum als eigentliches Führungsgremium gesehen werden kann.

[4] Im Sommer 2012 etwa standen sich Atomkraftgegner von der Grünen Bewegung und Atomkraftbefürworter der Jugendorganisation der BSP bei einer Demonstration an der symbolträchtigen Adlerbrücke als Gegner gegenüber.

[5] Siehe dazu S. 8.

[6] Siehe Todorov, Antoniy (2013): The extreme Right Wing in Bulgaria, FES International Policy Analysis. Online verfügbar unter:
http://library.fes.de/pdf-files/id-moe/09660.pdf, 30.04.2013.


Über die Autorin

Regine Schubert leitet das Auslandsbüro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bulgarien.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Mai 2013