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OSTEUROPA/399: Ukraine - "Ein irreversibler demographischer Schock" (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 25. Juli 2023
german-foreign-policy.com

"Ein irreversibler demographischer Schock"

Experten warnen vor dauerhaftem massivem Bevölkerungsschwund in der Ukraine durch Kriegstote und Flucht. Vor allem die jüngere Generation und Hochqualifizierte drohen beim Wiederaufbau zu fehlen.


KIEW/BERLIN - Experten sagen der Ukraine einen "irreversiblen demographischen Schock" und massive Probleme beim Anwerben der nötigen Arbeitskräfte für den Wiederaufbau nach Kriegsende voraus. Die Bevölkerung des Landes sei schon von 1990 bis 2021 um rund 20 Prozent geschrumpft, heißt es in einer aktuellen Analyse aus dem Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Kriegstote und Flüchtlinge reduzierten die Zahl der Einwohner weiter. Weil vor allem jüngere und gut ausgebildete Menschen geflohen seien und ein beträchtlicher Teil der ukrainischen Flüchtlinge auf Dauer in der EU bleiben wolle, drohten für den Wiederaufbau besonders wichtige Teile der Bevölkerung zu fehlen. Laut dem WIIW wird die arbeitsfähige Bevölkerung in der Ukraine bis 2040 im Vergleich zum Vorkriegsjahr 2021 um 22,6 bis 25 Prozent schrumpfen - mit gravierenden Folgen für das ganze Land. Je länger der Krieg dauere, desto schwerer wögen die Folgen. Kiew müsse unbedingt Rückkehrprogramme für Flüchtlinge starten. Allerdings konkurriert es dabei unter anderem mit der Bundesrepublik: Deutsche Firmen setzen auf kostengünstige Fachkräfte unter den ukrainischen Flüchtlingen.

Von Emigration gezeichnet

Die demographische Entwicklung in der Ukraine war, wie die Analyse des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) feststellt, bereits vor Kriegsbeginn ein Problem. In Ost- und Südosteuropa ist ein starker Bevölkerungsschwund durch Emigration vor allem jüngerer Einwohner in wohlhabendere Länder und Regionen weiter westlich in der EU verbreitet; hinzu kommen oft sinkende Geburtenraten. So ging beispielsweise die Einwohnerzahl Estlands von 1990 bis 2021 um 15,5 Prozent zurück. In Kroatien schrumpfte die Bevölkerung allein in den Jahren von 2011 bis 2021 um zehn Prozent auf gut 3,8 Millionen Menschen.[1] In Bulgarien wiederum brach die Einwohnerzahl von 1992 bis 2022 von 8,5 Millionen auf 6,5 Millionen Menschen ein - ein Minus von annähernd 24 Prozent. Die Ukraine verzeichnete von 1990 bis 2021 einen Rückgang von rund 20 Prozent. Hauptursachen der Emigration seien Armut, niedrige Einkommen, soziale Unsicherheit und ein ineffizientes Gesundheitssystem gewesen, erläutert das WIIW. Weil vor allem Menschen im erwerbsfähigen Alter emigriert und die Geburtenrate gesunken seien, sei der Anteil der Unter-14-Jährigen von 21 Prozent im Jahr 1990 auf 15 Prozent 2021 gefallen; der Anteil der Über-65-Jährigen sei im selben Zeitraum von 12 Prozent auf 18 Prozent gestiegen.[2] Das Schrumpfen der erwerbsarbeitsfähigen Bevölkerung beeinträchtige den Wiederaufbau.

Kriegstote, Flüchtlinge

Der Krieg verschärft die ohnehin desolate Lage in dramatischer Weise. Dokumentiert sind laut Angaben der Vereinten Nationen - Stand: 17. Juli 2023 - exakt 9.287 zivile Todesopfer. Beobachter sind sich allerdings sicher, dass die tatsächliche Opferzahl erheblich höher liegt. Hinzu kommen zahllose Todesopfer in den ukrainischen Streitkräften; US-Schätzungen vom November 2022, laut denen schon damals rund 100.000 ukrainische Soldaten umgekommen oder verwundet worden seien, könnten sich als viel zu niedrig erweisen, warnt das WIIW.[3] Seitdem hat sich die Zahl der getöteten Soldaten - fast ausschließlich Männer im erwerbsarbeitsfähigen Alter, überwiegend jüngere - stark erhöht. In der Ukraine selbst seien 5,5 Millionen Menschen auf der Flucht, heißt es in der Studie; es sei ungewiss, ob sie nach Kriegsende in ihre Herkunftsgebiete zurückkehrten oder ob ganze Landstriche verwaist blieben. Zudem seien mehr als acht Millionen Menschen in die EU geflohen. Gut ein Drittel der ukrainischen Flüchtlinge seien unter 18 Jahre alt; unter den Erwachsenen seien rund 70 Prozent Frauen, die Mehrheit von ihnen im gebärfähigen Alter. Zudem seien die Flüchtlinge weit überdurchschnittlich gebildet; 47 Prozent von ihnen hätten einen Hochschulabschluss. Da nicht alle heimkehren würden, fehlten der Ukraine beim Wiederaufbau die jüngere Generation und besser ausgebildete Menschen, konstatiert das WIIW.

Eine Generation verloren

Exemplarisch lassen sich die Perspektiven am Beispiel Deutschland aufzeigen. Hier sind derzeit 1,07 Millionen ukrainische Flüchtlinge registriert. Einer aktuellen Umfrage zufolge wollten schon zu Jahresbeginn 29 Prozent von ihnen dauerhaft in Deutschland bleiben, 15 Prozent zumindest "noch einige Jahre" - beides mit steigender Tendenz: Die Bleibeabsicht nimmt üblicherweise mit der Dauer des Aufenthalts zu.[4] Zusätzlich gaben 23 Prozent an, sie seien sich noch unsicher. Eine feste Rückkehrabsicht - in den allermeisten Fällen erst nach Kriegsende - hatten demnach nur 33 Prozent. Zwei Drittel aller erwachsenen ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland sind Frauen. Das Durchschnittsalter liegt mit 40 Jahren deutlich unter demjenigen der ukrainischen Bevölkerung (42,9 Jahre). 72 Prozent der erwachsenen ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland haben einen tertiären, in der Regel akademischen Bildungsabschluss - knapp die Hälfte mehr als der ukrainische Durchschnitt (50 Prozent). Die Angaben bestätigen: Die Ukraine wird in hohem Maße jüngere Menschen, vor allem Frauen und ganz besonders Hochqualifizierte an Deutschland und andere Staaten der EU verlieren - dies zusätzlich zu ganz erheblichen Teilen ihrer jüngeren männlichen Generation, die besonders viele Kriegstote an der Front hinnehmen muss.

Langfristiger Bevölkerungsschwund

Die Prognosen des WIIW für die Ukraine sind düster. Faktisch stehe fest, heißt es in der Untersuchung, dass das Land infolge des Krieges "einen langfristigen Bevölkerungsverlust" erleiden werde. Wie stark er ausfalle, das hänge allerdings von der Entwicklung des Krieges ab. Die günstigste Vorhersage ergebe sich für den Fall, dass er noch in diesem Jahr ende. Dann werde die Bevölkerung im Jahr 2040 immerhin noch bei rund 36 Millionen Menschen liegen, auch dies schon satte 17 Prozent weniger als bei Kriegsbeginn. Die arbeitsfähige Bevölkerung werde in diesem Szenario wohl um 22,6 Prozent auf 19,9 Millionen Menschen sinken.[5] Das schlimmste Szenario ergebe sich, wenn der Krieg noch bis 2025 andauere. Dann sei mit einem Schrumpfen der Bevölkerung bis zum Jahr 2040 sogar um 21 Prozent gegenüber 2021 auf 34,6 Millionen Menschen zu rechnen; die arbeitsfähige Bevölkerung sei dann für das Jahr 2040 auf 19,2 Millionen Menschen zu schätzen - 25 Prozent weniger als 2021. Dabei werde besonders die arbeitsfähige Bevölkerung für den Wiederaufbau benötigt. Je länger der Krieg andauere, desto schlechter die Prognose und desto schlechter auch die Chancen für den Wiederaufbau der Ukraine; für jeden aktuell denkbaren Fall sagt das WIIW allerdings schon jetzt einen nicht mehr abzuwendenden "irreversiblen demographischen Schock" voraus.

"Eine monoethnische Nation"

Um das Äußerste zu vermeiden und die Bevölkerungsverluste zu reduzieren, empfiehlt das WIIW der ukrainischen Regierung, die Rückkehr von Flüchtlingen aktiv zu fördern. Darüber hinaus dringt es darauf, die Aufnahmeländer sollten ihrerseits die Rückkehr der Flüchtlinge aktiv unterstützen, etwa durch die Finanzierung einschlägiger Kiewer Regierungsprogramme. Da dies voraussichtlich nicht genüge, werde die Ukraine Arbeitsmigranten anwerben müssen. Dies werde in den ersten Nachkriegsjahren wegen der fürchterlichen Kriegsschäden kaum möglich sein. Längerfristig könne Kiew kaum auf Arbeitsmigration aus reicheren Ländern hoffen, sondern müsse in den Ländern etwa des Südkaukasus, des Mittleren Ostens, Asiens und Afrikas um neue Arbeitskräfte werben. Da die Ukraine "eine monoethnische Nation" sei, werde, so heißt es in höflicher Umschreibung des ukrainischen Nationalismus, die Förderung von Arbeitsimmigration wohl zu "substanziellen gesellschaftlichen Spannungen" führen.[6] Das Land benötige daher "eine massive Veränderung ihrer geistigen Haltung auf allen Ebenen der Gesellschaft".

Konkurrenz um Fachkräfte

Spezielle Schwierigkeiten sind aber auch bei der Rückgewinnung von Flüchtlingen aus der EU zu erwarten. Vor allem mit Blick auf das Bildungsniveau der Flüchtlinge macht sich die deutsche Wirtschaft Hoffnungen, sie könnten als kostengünstige Fachkräfte auf Dauer angeworben werden. "Wirtschaftsvertreter", so wurde bereits im März berichtet, "loben das große Fachkräftepotential".[7] Ein konkretes Beispiel beschrieb im April die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Demnach könnten ukrainische Flüchtlinge, da Kiew nach dem Krieg im großen Stil Mietwohnungen bauen müsse, schon jetzt in "energetischer Sanierung und gemeinwohlorientiertem Wohnungsbau" ausgebildet werden. Dann besäßen sie nach Kriegsende die erforderlichen Fähigkeiten, um den Wohnungsbau in der Ukraine nach EU-Standards voranzutreiben. Allerdings wies die SWP darauf hin, dass auch "die deutsche Wohnungswirtschaft ... angesichts der auch hier anstehenden umfangreichen energetischen Gebäudesanierung ... unter einem zunehmenden Fachkräftemangel leidet" - und Interesse hätte, die Flüchtlinge in Deutschland zu halten. Spannungen mit der Kiewer Regierung zeichnen sich also schon heute ab.[8]


Anmerkungen:

[1] Croatias population has dropped 10% in a decade, reveals census. euronews.com 14.01.2022.

[2], [3] Maryna Tverdostup: The Demographic Challenges to Ukraine's Economic Reconstruction. WIIW Policy Notes and Reports 71. Vienna, July 2023.

[4] Geflüchtete aus der Ukraine: Knapp die Hälfte beabsichtigt längerfristig in Deutschland zu bleiben. diw.de.

[5], [6] Maryna Tverdostup: The Demographic Challenges to Ukraine's Economic Reconstruction. WIIW Policy Notes and Reports 71. Vienna, July 2023.

[7] Andreas Mihm: "Wir verlieren eine ganze Generation". Frankfurter Allgemeine Zeitung 07.03.2023.

[8] Steffen Angenendt, André Härtel, Knut Höller, David Kipp: Für den Wiederaufbau von Wohnraum braucht die Ukraine Fachkräfte. swp-berlin.org 06.04.2023.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 25. Juli 2023

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