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OSTEUROPA/400: Ukraine-Krieg - Vom Schlachtfeld zum Verhandlungstisch (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 1. August 2023
german-foreign-policy.com

Vom Schlachtfeld zum Verhandlungstisch

EU beteiligt sich an Gesprächen über Verhandlungslösung für den Ukraine-Krieg in Saudi-Arabien. Hintergrund: Westen ist vor US-Wahlkampf um eine Reduzierung der Ausgaben für Kiew bemüht.


JIDDAH/KIEW/BERLIN - Unter Beteiligung der EU sollen an diesem Wochenende im saudischen Jiddah die Gespräche über eine mögliche Verhandlungslösung für den Ukraine-Krieg fortgesetzt werden. Hintergrund sind Erwägungen im Westen, den Krieg nach dem Ende der aktuellen ukrainischen Militäroffensive zu stoppen. Dies sei erforderlich, heißt es, um US-Präsident Joe Biden im bevorstehenden Wahlkampf nicht zu belasten und um die exzessiven Ausgaben für die ukrainische Kriegführung zumindest zu reduzieren. Zudem drohe die Ukraine, wenn sie den Krieg immer weiter fortsetzen wolle, "sich selbst zu zerstören", hieß es bereits im April in der US-Zeitschrift Foreign Affairs mit Blick auf die zahllosen Kriegstoten und die Verwüstung des Landes. Hatten US-Experten bereits im Frühjahr erste Gespräche mit Moskauer Stellen geführt, etwa mit Außenminister Sergej Lawrow, so wurde die Ukraine am 24. Juni in Kopenhagen in Verhandlungen mit anderen Staaten eingebunden, darunter fünf Staaten des Globalen Südens, die ihrerseits zu vermitteln suchen. Kiew wollte in Kopenhagen einen Abzug der russischen Truppen zur Vorbedingung erklären - und scheiterte. Daran knüpfen die Gespräche in Jiddah an.

Die Prioritäten des Westens

Hintergrund der Ukraine-Verhandlungen, die am kommenden Wochenende im saudischen Jiddah stattfinden sollen, sind Erwägungen in den Vereinigten Staaten wie auch in Europa, im Anschluss an die aktuelle ukrainische Militäroffensive Gespräche über einen Waffenstillstand einzuleiten. Zum einen gibt es schon seit längerer Zeit ernste Befürchtungen in der Biden-Administration, die viele Dutzend Milliarden US-Dollar schwere US-Unterstützung für Kiew könne sich im Präsidentschaftswahlkampf, zumal gegen einen etwaigen republikanischen Kandidaten Donald Trump, als eine schwere Belastung erweisen (german-foreign-policy.com berichtete [1]). Zum zweiten ist auch Washington selbst nicht bereit, der Ukraine auf Dauer stets neue Summen zur Verfügung zu stellen, erst recht nicht, wenn die damit finanzierte und ausgerüstete Offensive so wenig von der Stelle kommt wie zur Zeit. Schließlich ist aus US-Sicht der zentrale Konflikt der Gegenwart der Machtkampf gegen China, von dem sich Washington recht lange im Nahen und Mittleren Osten und in Osteuropa ablenken lassen hat. Nicht zuletzt ist unklar, wie lange Kiew seine Offensive aufrechterhalten kann; die Verluste der Ukraine nicht nur an Waffen, sondern vor allem an Menschen sind nach - freilich derzeit nicht überprüfbaren - Berichten immens.

"Grundlagen für Verhandlungen schaffen"

Darauf, dass Washington eine Beendigung der Kämpfe noch in diesem Jahr in Erwägung zieht, deuten auch Gespräche hin, die einflussreiche US-Außenpolitikexperten im Frühjahr mit diversen Kreml-nahen Personen führten. Anfang April trafen mehrere von ihnen in New York sogar mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow zu einem mehrstündigen Austausch zusammen. Beteiligt waren zum Beispiel der unlängst aus dem Amt geschiedene Präsident des Council on Foreign Relations (CFR) Richard Haass sowie die ehemaligen US-Regierungsmitarbeiter Charles Kupchan und Thomas Graham.[2] Haas hat die Gespräche inzwischen bestätigt.[3] Berichten zufolge ging es zunächst darum, Kommunikationskanäle nach Russland wieder zu öffnen und etwaige Spielräume für künftige Verhandlungen und Kompromisse auszuloten. Im Hintergrund hätten Bemühungen gestanden, "die Grundlagen für Verhandlungen zur Beendigung des Krieges in der Ukraine" zu schaffen, heißt es explizit in einem Bericht.[4] Der Nationale Sicherheitsrat der USA sei über die Gespräche und über ihren Inhalt umfassend informiert. Auf der Tagesordnung hätten "einige der heikelsten Themen im Ukraine-Krieg" gestanden, darunter "das Schicksal der von Russland gehaltenen Gebiete, die die Ukraine womöglich nie befreien können wird".

Eine der schwierigsten Aufgaben

Kurz nach ihrem Treffen mit Lawrow veröffentlichten Haass und Kupchan einen Beitrag in Foreign Affairs, der einflussreichsten Zeitschrift der US-Außenpolitik, in dem sie einen "Plan zum Übergang vom Schlachtfeld zum Verhandlungstisch" zu entwickeln suchten. Demnach sei nach dem Ende der damals erwarteten, jetzt in Gang befindlichen Kiewer Gegenoffensive mit "einer Pattsituation" zu rehnen, in der beide Seiten ihre Waffen ein Stück zurückziehen und "faktisch eine entmilitarisierte Zone schaffen" müssten.[5] Dann solle "eine neutrale Organisation", etwa die Vereinten Nationen oder die OSZE, "Beobachter entsenden, um den Waffenstillstand und den Rückzug der Truppen zu überwachen und durchzusetzen". Halte der Waffenstillstand, dann könnten schließlich sogar Friedensverhandlungen folgen. Wie Haas und Kupchan urteilen, könne es sich als eine der schwierigsten Aufgaben erweisen, Kiew zur Einhaltung des Waffenstillstands und zu Verhandlungen zu bewegen. "Viele Ukrainer würden das als Verrat ansehen", heißt es in dem Artikel; Präsident Wolodymyr Selenskyj werde seine Kriegsziele - er hat einen Sieg versprochen - "dramatisch herunterschrauben müssen". Halte er an ihnen fest, dann drohe die Ukraine - mit Blick auf die Kriegstoten und die immensen Zerstörungen - "sich selbst zu zerstören für Ziele, die wohl außer Reichweite sind".

Einstieg in den Ausstieg

Mittlerweile haben erste Gespräche in größerem Rahmen stattgefunden, die offenkundig darauf abzielten, Kiew einen Weg zum Einstieg in den Ausstieg aus seinen Kriegszielen zu bahnen. Am 24. Juni kamen in Kopenhagen Vertreter der Ukraine, einiger westlicher Staaten und von fünf Staaten des Globalen Südens zusammen, die bereits Ermittlungserfolge zwischen Moskau und Kiew erzielt haben (Türkei, Saudi-Arabien) oder die sich noch darum bemühen (Brasilien, Indien, Südafrika). Deutschland war mit Jens Plötner vertreten, dem wichtigsten außenpolitischen Berater von Kanzler Olaf Scholz (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Der Leiter des Kiewer Präsidialamtes, Andrij Jermak, preschte mit einem Entwurf für eine Abschlusserklärung zu dem Treffen vor, die Kernelemente der sogenannten Friedensformel von Präsident Selenskyj enthielt; diese sieht nicht zuletzt den kompletten Rückzug der russischen Streitkräfte von ukrainischem Territorium vor und bezieht dies auch auf die Krim. Jermaks Entwurf wurde in Kopenhagen von den Vertretern des Globalen Südens kühl zurückgewiesen. Diskutiert wurde über Sicherheitsgarantien - einerseits solche für die Ukraine, über die Kiew diese Woche mit Washington verhandeln will, andererseits auch über Garantien für Russland. So könne man Moskau etwa zusagen, "dass keine Marschflugkörper auf dem Gebiet der Ukraine stationiert werden", hieß es.[7]

Der Rahmen der Gespräche

Die in Kopenhagen gestarteten Gespräche sollen nun am kommenden Wochenende im saudischen Jiddah weitergeführt werden. Zusätzlich zu den Teilnehmern des Kopenhagener Treffens sind weitere Staaten des Globalen Südens sind eingeladen worden, darunter Mexiko, Indonesien, Chile, Ägypten und Sambia. Die beiden letzteren gehören - wie Südafrika - auch der afrikanischen Staatengruppe an, die Mitte Juni Vermittlungsgespräche in Kiew und in Moskau führte und sich Ende vergangener Woche im Anschluss an den Russland-Afrika-Gipfel von Präsident Wladimir Putin dessen Bereitschaft zu Gesprächen über die Beendigung des Ukraine-Krieges zusagen ließ.[8] Der Kiewer Präsidialamtsleiter Jermak hat angekündigt, erneut Selenskyjs "Friedensformel" als Verhandlungsgrundlage zu präsentieren.[9] Wie das Wall Street Journal schreibt, halten westliche Regierungsstellen es für "klar", dass Gespräche nur dann Erfolg haben können, wenn sie nicht vorab einen russischen Abzug fordern, sondern "um eine Reihe weithin geteilter internationaler Grundsätze gestaltet" werden, so etwa die Charta der Vereinten Nationen.[10]

Vorstöße des Globalen Südens

Genau dies ist der Ansatz, den sämtliche bislang vorliegenden Vermittlungsversuche von Staaten des Globalen Südens verfolgen - von Chinas Zwölf-Punkte-Papier über den Vorstoß des brasilianischen Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva bis zum Plan der afrikanischen Staatengruppe (german-foreign-policy.com berichtete [11]). Freilich müsste die Ukraine nun dazu gebracht werden, sich darauf einzulassen. Darauf zielt offenbar das Treffen am Wochenende in Jiddah ab.


Anmerkungen:

[1] S. dazu Der Übergang zur Diplomatie (I).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9279

[2] Josh Lederman: Former U.S. officials have held secret Ukraine talks with prominent Russians. nbcnews.com 06.07.2023.

[3] Nick Wadhams: Former Council on Foreign Relations Chief Defends Russia Meetings. bloomberg.com 07.07.2023.

[4] Josh Lederman: Former U.S. officials have held secret Ukraine talks with prominent Russians. nbcnews.com 06.07.2023.

[5] Richard N. Haass, Charles Kupchan: The West Needs a New Strategy in Ukraine. A Plan for Getting From the Battlefield to the Negotiating Table. foreignaffairs.com 13.04.2023.

[6], [7] S. dazu Der Übergang zur Diplomatie (II).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9280

[8] Olive Enokido-Lineham: Putin says African and Chinese initiatives could be basis for peace in Ukraine. news.sky.com 30.07.2023.

[9] Saudi Arabia to host Ukraine peace talks, top official says. aljazeera.com 31.07.2023.

[10] Laurence Norman, Stephen Kalin: Saudi Arabia to Host Ukraine Peace Talks as Part of Western Effort to Woo Global South. wsj.com 29.07.2023.

[11] S. dazu Auf der Seite des Krieges
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9176
und Der Übergang zur Diplomatie (II).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9280

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 1. August 2023

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