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OSTEUROPA/402: Unruhen im Kosovo - Teil 4 (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 4. Oktober 2023
german-foreign-policy.com

Unruhen im Kosovo (IV)

Bundesregierung weist Forderungen nach Aufstockung der Bundeswehr im Kosovo zurück. Dort eskalieren die Spannungen fast ein Vierteljahrhundert nach dem NATO-Krieg und dem Beginn der deutschen Militärpräsenz.


BERLIN/BELGRAD - Die Bundesregierung weist Forderungen nach einer Aufstockung des Bundeswehrkontingents im Kosovo zum gegenwärtigen Zeitpunkt zurück. "Jetzt und heute" werde man "definitiv" keine zusätzlichen Soldaten in das Gebiet entsenden, teilte Verteidigungsminister Boris Pistorius am gestrigen Dienstag mit. Zuvor hatten diverse Berliner Politiker, darunter insbesondere solche von Bündnis 90/Die Grünen, verlangt, die deutschen Truppen im Kosovo zu verstärken. Anlass war zum einen eine Gewalteskalation im Norden des Gebiets: Bei einem Überfall auf die kosovarische Polizei, dessen Organisator wohl ein serbischsprachiger Geschäftsmann aus dem Kosovo war, waren ein Polizist und fünf Angreifer zu Tode gekommen. Zum anderen hatte Belgrad, was in Krisensituationen durchaus üblich ist, seine Streitkräfte an der Grenze zum Kosovo aufgestockt und damit im Westen neue Unruhe ausgelöst. Seit Wochenbeginn hat sich die Lage wieder etwas entspannt. Das Geschehen zeigt allerdings, dass die Situation im Kosovo fast ein Vierteljahrhundert nach dem NATO-Überfall auf Jugoslawien und dem Beginn der deutschen Militärpräsenz in dem Gebiet desolat ist - wie in anderen Einsatzgebieten auch.

Eskalierende Spannungen

Die Spannungen im Kosovo nehmen seit rund einem Jahr sukzessive und in mittlerweile recht bedrohlichem Ausmaß zu. Begonnen hatte die Eskalation im Herbst vergangenen Jahres mit einem Streit um serbische Kfz-Kennzeichen, wie sie die serbischsprachige Minderheit im Norden des Gebiets weiterhin nutzt. Der Versuch der Regierung in Priština, dies kategorisch zu unterbinden, führte zu heftigem Unmut in der serbischsprachigen Minderheit, zumal die kosovarische Regierung unter Ministerpräsident Albin Kurti sich unverändert weigert, die schon 2013 im Grundsatz zugesagte Gründung eines Verbandes serbischer Gemeinden im Kosovo durchzuführen. Im Nordkosovo traten empört zahlreiche Behördenangestellte bis hin zu Bürgermeistern zurück. Neuwahlen wurden wegen des eskalierenden Streits mit Priština boykottiert; als die Regierung des Kosovos im Norden des Gebietes unter Polizeischutz albanischsprachige Bürgermeister einsetzen wollte, die von kaum mehr als drei Prozent der Bevölkerung gewählt worden waren, kam es Ende Mai zu Protesten, die rasch in gewalttätige Auseinandersetzungen mündeten. Zahlreiche Personen wurden teilweise schwer verletzt, darunter auch 93 Soldaten der NATO-geführten KFOR-Einheiten (german-foreign-policy.com berichtete [1]).

Gezielter Überfall

Zu einer weiteren Eskalation kam es in den frühen Morgenstunden des 24. September nahe der Ortschaft Banjska im serbischsprachigen Nordkosovo. Dort blockierten zwei Fahrzeuge eine Straße; als sich kosovarische Polizisten näherten, wurden sie von rund 30 Angreifern unter Beschuss genommen. Ein Polizist wurde dabei tödlich getroffen. Von den Angreifern, die sich in einem nahegelegenen Kloster verschanzten, kamen bei heftigen Schusswechseln fünf ums Leben. Inzwischen hat der Geschäftsmann Milan Radoičić, ein Angehöriger der serbischsprachigen Minderheit im Kosovo, in einem Schreiben bekannt, den Überfall organisiert zu haben. Er habe sich "zu dieser Tat entschieden", da "alle bisher angewandten Widerstandsmethoden keine Verbesserung des Lebens des serbischen Volkes" im Kosovo gebracht hätten, heißt es in dem Schreiben, das Radoičićs Anwalt in Belgrad öffentlich vorlas.[2] Der Überfall habe die serbischsprachigen Einwohner des Kosovo dazu anregen sollen, "sich dem Terror zu widersetzen", schrieb Radoičić mit Bezug auf das Vorgehen von Ministerpräsident Albin Kurti gegen die serbischsprachige Minderheit; Pristina versuche unter Kurti ganz offenkundig, das Kosovo von Serben "ethnisch zu säubern".[3] Am gestrigen Dienstag nahm die Polizei in Belgrad Radoičić fest.

Unruhe im Westen

Für Aufsehen hat gesorgt, dass Radoičić nicht nur als Geschäftsmann, sondern auch als Politiker tätig ist. Er gehört der Srpska Lista (Serbische Liste) an, einer Minderheitenpartei im Kosovo, und amtierte als deren Vizepräsident. Den Posten hat er allerdings aufgegeben, nachdem er sich zu dem Überfall bei Banjska bekannt hatte. Die Srpska Lista unterhält enge Beziehungen nach Belgrad, weshalb viele im Westen es für nur schwer vorstellbar halten, dass Serbiens Präsident Aleksandar Vučić oder gar der serbische Geheimdienst von den Vorbereitungen für den offenbar minutiös geplanten Überfall nichts gewusst haben sollen.[4] Belege dafür liegen bislang freilich nicht vor. Die Unruhe im Westen stieg am Wochenende weiter, nachdem bekannt wurde, dass die serbischen Streitkräfte die Zahl ihrer Truppen unweit der Grenze zum Kosovo erhöht hatten. Laut serbischer Rechtsauffassung gilt, da die Abspaltung des Kosovo im Jahr 2008 völkerrechtswidrig erfolgte - diese Ansicht teilen rund die Hälfte der UN-Mitgliedstaaten -, die UN-Resolution 1244 aus dem Jahr 1999 weiter, die es Belgrad erlaubt, im Falle physischer Angriffe auf die serbischsprachige Minderheit zu deren Schutz Soldaten in das Nordkosovo zu entsenden.[5]

Truppen aufstocken

In dieser Situation hat die NATO angekündigt, die KFOR-Truppen aufzustocken. So wird Großbritannien 200 Soldaten in das Kosovo entsenden - zusätzlich zu den 400, die sich zur Zeit im Rahmen eines regelmäßig abgehaltenen Manövers schon dort befinden.[6] Am Wochenende wurden außerdem in Berlin Forderungen laut, auch die im Kosovo stationierte Einheit der Bundeswehr zu verstärken. Die Bundesrepublik solle "weitere Soldaten in das Kosovo entsenden", verlangte etwa der Vorsitzende des Europaausschusses im Deutschen Bundestag, Anton Hofreiter (Bündnis 90/Die Grünen). Die Vorsitzende des Bundestags-Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), kündigte an, falls es "erforderlich" werde, werde auch Berlin "mehr" Soldaten in das Kosovo "verlegen". Strack-Zimmermann wies darauf hin, dass das aktuell gültige Mandat die Entsendung von 400 Militärs zulässt, während zur Zeit bloß 85 dort stationiert sind: Da sei "noch deutlich Luft nach oben".[7] Der SPD-Außenpolitiker Adis Ahmetović plädierte seinerseits dafür, das KFOR-Mandat mit Blick auf die eskalierenden Spannungen schon jetzt "mit mehr Streitkräften" zu versehen.

"Es sei denn, es passiert etwas"

Zu Wochenbeginn schienen die Spannungen wieder ein wenig abzuflauen. Serbiens Generalstabschef Milan Mojsilović teilte am Montag mit, Belgrad habe die Zahl seiner nahe der Grenze zum Kosovo stationierten Soldaten von 8.350 auf 4.500 verringert; damit sei die Truppenstärke in einem fünf Kilometer breiten Streifen entlang der Grenze wieder auf ihr Normalniveau zurückgeführt worden.[8] Mojsilović gab sich zugleich erstaunt über die Alarmstimmung im Westen und wies explizit darauf hin, dass eine Truppenverstärkung in Krisensituationen keineswegs ungewöhnlich sei. Verteidigungsminister Boris Pistorius wiederum erklärte auf die Frage nach der etwaigen Verstärkung des Bundeswehrkontingents im Kosovo: "Jetzt und heute definitiv nein."[9] Er schränkte das allerdings ein: "Es sei denn, es passiert etwas." In diesem Fall sei die Bundeswehr "sehr, sehr schnell handlungsfähig".

Die Bilanz eines Vierteljahrhunderts

Die jüngste Entwicklung im Kosovo zeigt, dass die Situation in dem Gebiet beinahe ein Vierteljahrhundert nach dem völkerrechtswidrigen NATO-Angriffskrieg des Jahres 1999 und dem kurz darauf beginnenden Einsatz auch der Bundeswehr nach wie vor desaströs ist. Damit reiht sich das Kosovo in andere aktuelle wie auch ehemalige Operationsgebiete der deutschen Streitkräfte ein. Afghanistan mussten die dort stationierten deutschen Einheiten im Sommer 2021 nach fast 20 Jahren fluchtartig verlassen. In Mali stecken die deutschen Truppen derzeit mitten im Abzugsprozess - nach gut zehn Jahren, in denen sich die jihadistischen Aufstände im Land nicht verringert, sondern vermehrt haben.[10] Hatte sich die Bundeswehr 2012 aus Bosnien-Herzegowina mit dem Hinweis zurückgezogen, die Verhältnisse dort ließen das inzwischen zu, so musste sie im vergangenen Jahr ihren Einsatz in dem Land wieder aufnehmen.[11] Eine dauerhafte Befriedung wurde nirgendwo erzielt.


Anmerkungen:

[1] S. dazu Unruhen im Kosovo (III).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9358

[2], [3] Politiker bekennt sich zu Überfall mit Kommandotrupp. zeit.de 29.09.2023.

[4] Isabelle Daniel: Wie gefährlich ist die Lage im Kosovo? zeit.de 02.10.2023.

[5] S. dazu Unruhen im Kosovo (II).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9254

[6] Defence Secretary deploys UK forces to Kosovo for NATO peacekeeping mission. gov.uk 01.10.2023.

[7] Nach Spannungen: Deutsche Politiker fordern Aufstockung der Nato-Friedenstruppe im Kosovo. rnd.de 01.10.2023.

[8] Number of troops on Kosovo border 'back to normal,' Serbia says. lemonde.fr 03.10.2023.

[9] Pistorius zum Kosovo: Derzeit keine Bundeswehr-Aufstockung geplant. dbwv.de 03.10.2023.

[10] S. dazu Der nächste verlorene Krieg.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9093

[11] S. dazu Zurück auf Los (II).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8997

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 6. Oktober 2023

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