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OSTEUROPA/403: Ukraine-Krieg - Die dritte Verhandlungsrunde (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 27. Oktober 2023
german-foreign-policy.com

Die dritte Verhandlungsrunde

Ukraine kündigt dritte Verhandlungsrunde über Beendigung des Krieges an, will Selenskyjs "Friedensformel" - Russlands kompletten Rückzug - durchsetzen; das ist absurder denn je. US-Hilfe für Kiew wankt immer mehr.


BERLIN/KIEW/VALLETTA - Unter ungewissen Vorzeichen findet an diesem Wochenende in Malta die dritte Verhandlungsrunde zur Beendigung des Ukraine-Kriegs statt. Offiziell lädt, wie bereits bei den ersten beiden Runden in Kopenhagen und in Jiddah, Kiew zu den Gesprächen ein. Sein Ziel ist es, der "Friedensformel" von Präsident Wolodymyr Selenskyj Anerkennung zu verschaffen, die einen vollständigen Abzug der russischen Truppen aus allen bis Anfang 2014 zur Ukraine gehörenden Territorien vorsieht und Moskau zur Erfüllung zahlreicher weiterer ukrainischer Forderungen veranlassen will. Angesichts der militärischen Lage ist dies gegenwärtig absurder denn je. Konnten bei den ersten beiden Verhandlungsrunden zumindest Absprachen angebahnt und ein Rahmen abgesteckt werden - etwa über Sicherheitsgarantien sowohl für die Ukraine als auch für Russland -, so ist nicht klar, ob dies auch in Valletta möglich sein wird: Moskau wird nicht vertreten sein; über die Teilnahme anderer einflussreicher Staaten ist immer noch nichts bekannt. Dabei steht die US-Unterstützung für Kiew mehr denn je auf der Kippe; Munitionslieferungen sind ebenfalls fraglich, da Israel Patronen braucht.

Wahlkampfprobleme

Grundsätzlich wird über eine Beendigung des Ukraine-Kriegs auf dem Verhandlungswege auch im Westen bereits seit längerer Zeit diskutiert - wenn auch kaum in der Öffentlichkeit, so doch hinter den Kulissen. Im Juni etwa urteilte der einstige Europadirektor im Nationalen US-Sicherheitsrat unter Präsident Barack Obama, Charles Kupchan, spätestens, "wenn die Kampfsaison zu Ende" gehe, müsse der Westen "zu einer diplomatischen Strategie übergehen, die auf einen Waffenstillstand abzielt".[1] Kupchan hatte sich schon im Frühjahr an Sondierungen beteiligt (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Hintergrund für das Plädoyer, Verhandlungen zu führen, sind verschiedene Überlegungen. Zum einen weisen Beobachter schon lange darauf hin, dass im herannahenden US-Präsidentschaftswahlkampf die fortgesetzte Unterstützung für die Ukraine zu erheblichen Problemen führen könne. Das bestätigt sich jetzt: Bei den Republikanern im US-Kongress nimmt der Widerstand gegen stets neue Milliardenpakete für Kiew zu. Bereits im September zeigte sich beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Washington, dass die Stimmung sich seit dem vergangenen Jahr deutlich verschlechtert hat; so wurde Selenskyj dieses Mal ein feierlicher Auftritt vor beiden Kammern des US-Kongresses verweigert.[3]

Munitionsmangel

Hinzu kommt, dass Israels nicht erwarteter neuer Krieg gegen die Hamas gleichfalls US-Mittel verschlingt und Kräfte bindet. Dies geht schon jetzt zu Lasten von Kapazitäten, die für die Ukraine zur Verfügung gestellt werden sollten. Zwar seien beide Kriege sehr verschieden, erklären Experten: In der Ukraine müssten Minenfelder mühsam überwunden und dichte Verteidigungsstellungen durchbrochen werden, während Israel Luftangriffe führe und sich auf erbitterte Häuserkämpfe vorbereite; die beiden Arten der Kriegführung verlangten relativ unterschiedliche Waffen, es gebe "sehr wenig Überschneidungen", urteilt der ehemalige stellvertretende Direktor der CIA, Michael J. Morell.[4] Dennoch gebe es Material, das beide - die Ukraine und Israel - gleichermaßen benötigten, heißt es: so etwa Flugabwehrraketen vom Typ Stinger, mit denen sich Drohnen abschießen ließen; schon jetzt seien die Stinger-Raketen selten, und sie würden kaum noch produziert. Vor allem aber gelte es für 155-Millimeter-Munition. Die Ukraine habe davon mehr als zwei Millionen Schuss aus den USA erhalten, mehrere hunderttausend weitere aus Europa, wird berichtet; inzwischen näherten sich die Lagerbestände aber dem Ende, berichtet Admiral Rob Bauer, Vorsitzender des NATO-Militärausschusses.[5] Nun benötige Israel sie aber auch: Es stünden empfindliche Engpässe bevor.

Kopenhagen

Zwei Verhandlungsrunden im größeren Stil haben mittlerweile stattgefunden. Die erste fand am 24. Juni in Kopenhagen statt. Offiziell eingeladen hatte die Ukraine, Dänemark stellte die Infrastruktur zur Verfügung. Vertreten waren die G7-Staaten sowie fünf Länder des Globalen Südens, die ihrerseits bereits versucht hatten, zwischen Moskau und Kiew zu vermitteln - Indien, Brasilien, Südafrika, Saudi-Arabien und die Türkei. Kiew hatte zuvor erklärt, bei den Verhandlungen stehe die "Friedensformel" von Präsident Wolodymyr Selenskyj im Zentrum, die im Kern vorsieht, dass Moskau aufgibt, seine Truppen aus allen Territorien abzieht, die bis Anfang 2014 zur Ukraine zählten, und sich auch sonst den ukrainischen Forderungen beugt. Eine Abschlusserklärung, die Selenskyjs Präsidialamtsleiter Andrij Jermak vorbereitet hatte - unter Rückgriff auf zentrale Elemente der "Friedensformel" -, wurde allerdings von den fünf Staaten des Globalen Südens abgeschmettert.[6] Außerdem war in Kopenhagen nicht bloß von "Sicherheitsgarantien" die Rede, die die Ukraine erhalten sollte, sondern auch von solchen, die man Russland gewähren müsse. So hieß es in einem Bericht, der sich auf Informationen des deutschen Kanzlerberaters Jens Plötner stützte, man könne Moskau beispielsweise zusagen, keine Cruise Missiles in der Ukraine zu stationieren.[7]

Jiddah

Eine zweite Verhandlungsrunde folgte am 5. August in der saudischen Hafenstadt Jiddah. Diesmal waren rund 40 Staaten vertreten, darunter diverse Staaten des Globalen Südens, etwa Mexiko, Indonesien, Ägypten und Sambia; die beiden letzteren waren Teil der afrikanischen Friedensdelegation, die Mitte Juni Vermittlungsversuche in Kiew und in Moskau gestartet hatte.[8] Erneut beteiligt waren Indien, Brasilien und Südafrika; zusätzlich angereist war der chinesische Sondergesandte für die Ukraine, Li Hui, der im Mai in mehreren europäischen Hauptstädten über eine Beendigung des Krieges verhandelt hatte, darunter Berlin, Kiew und Moskau. Wie bereits in Kopenhagen warb Selenskyj auch diesmal für seine "Friedensformel" - ohne Erfolg; Präsidialamtsleiter Jermak musste anschließend einräumen, man habe nicht über alle Elemente der "Friedensformel" Einigkeit erzielt, der Globale Süden benötige noch "mehr Erläuterungen".[9] Celso Amorim, Berater des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, hielt fest, wenn man "wirkliche Verhandlungen" führen wolle, müsse man früher oder später "alle Seiten einschließen" - auch Russland.[10]

Keine "Position der Stärke"

Die dritte Verhandlungsrunde, die an diesem Wochenende in Malta stattfinden wird, hat länger auf sich warten lassen als zunächst gedacht. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass ein zentrales Element der westlichen Strategie gescheitert ist: die Rückeroberung größerer Territorien durch die ukrainischen Truppen. "Je mehr besetztes Territorium die Ukraine befreien kann", erläuterte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg Mitte Juni, "desto bessere Karten hat sie am Verhandlungstisch".[11] Die ukrainische Gegenoffensive ist gescheitert; Kiew muss sogar befürchten, dass Russland weitere Territorien erobert - etwa die Stadt Kupiansk. Die "Position der Stärke", die es erkämpfen wollte, hat es nun nicht. Dies schwächt seine Verhandlungsposition.

Valletta

Zugleich ist unklar, wie die Verhandlungen in Malta genau geführt werden sollen. Offiziell steht bereits zum dritten Mal Selenskyjs "Friedensformel" im Zentrum. Wieso die Länder des Globalen Südens sich diesmal auf Forderungen einlassen sollten, die mit Blick auf Russlands militärische Positionen illusionärer sind denn je, ist nicht ersichtlich. Bei allen Differenzen halfen die ersten beiden Verhandlungsrunden, einen gewissen Rahmen abzustecken und etwa Sicherheitsgarantien zu diskutieren, die für beide Seiten unabdingbar sind. Die Fortschritte, die auf dieser Ebene ohne russische Beteiligung erreicht werden können, sind allerdings begrenzt. Bis zum gestrigen Abend war ungewiss, welche Länder genau teilnehmen werden; Präsidialamtsleiter Jermak sprach von mehr als 50 Staaten, darunter Südafrika sowie die Türkei. Nicht bekannt war, ob Indien, Brasilien und China Vertreter schicken werden. Davon hängt ab, ob ernsthaft verhandelt werden kann. Bleiben sie fern, dann reduziert sich der Gipfel von Valletta wohl auf eine Propagandashow.


Anmerkungen:

[1] Annett Meiritz: "Der Rückhalt des Westens für die Ukraine wird abnehmen". handelsblatt.com 15.06.2023.

[2] S. dazu Vom Schlachtfeld zum Verhandlungstisch.*
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9315

[3] Karoun Demirjian: McCarthy Declines to Host House Forum for Zelensky Amid G.O.P. Rifts. nytimes.com 20.09.2023.

[4], [5] Lara Jakes, Eric Schmitt: Three Weapons That Israel and Ukraine Both Need From the U.S. nytimes.com 22.10.2023.

[6] S. dazu Der Übergang zur Diplomatie (II).*
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9280

[7] Kristina Dunz: Russlands Angriff auf die Ukraine: Geheimes Friedenstreffen in Kopenhagen. rnd.de 26.06.2023.

[8] S. dazu Vom Schlachtfeld zum Verhandlungstisch.*
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9315

[9] Not all points of Ukraine's peace formula were agreed upon in Jeddah, there are some disputes. pravda.com.ua 07.08.2023.

[10] Saudi Arabia dives into Ukraine peace push with Jeddah talks. lemonde.fr 06.08.2023.

[11] NATO Secretary General: we must ensure Ukraine can defend itself now and in the future. nato.int 15.06.2023


Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Im Schattenblick sind die beiden Artikel zu finden unter:
www.schattenblick.de → Infopool → Politik → Ausland →
OSTEUROPA/398: Ukraine - Der Übergang zur Diplomatie (Teil 2) (german-foreign-policy.com) und
OSTEUROPA/400: Ukraine-Krieg - Vom Schlachtfeld zum Verhandlungstisch (german-foreign-policy.com)

*

Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 27. Oktober 2023

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