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OZEANIEN/036: Australien - Kapitel der "gestohlenen Generationen" noch längst nicht abgeschlossen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 1. Juni 2015

Australien: Kapitel der 'gestohlenen Generationen' noch längst nicht abgeschlossen

Von Silvia Boarini



Bild: © Silvia Boarini/IPS

Eine Aborigine, die im australischen Brisbane gegen die Trennung indigener Kinder von ihren Eltern protestiert
Bild: © Silvia Boarini/IPS

BRISBANE (IPS) - Seit 1998 begeht Australien in Erinnerung an die über Jahrzehnte hinweg praktizierten Zwangstrennungen indigener Kinder von ihren Eltern einen alljährlichen 'Nationalen Tag der Entschuldigung' ('National Sorry Day'). Aktivisten kritisieren jedoch, dass der Aktionstag nicht verhindert, dass noch immer viele Aborigines-Kinder ähnlich leidvolle Erfahrungen machen müssen wie die 'gestohlenen Generationen' vor ihnen.

Der Nationale Gedenktag, der jedes Jahr am 26. Mai abgehalten wird, verdankt seine Existenz dem 1997 veröffentlichten Bericht 'Bringing Them Home', einer ersten landesweiten Umfrage, in der die Opfer der staatlich verordneten Zwangsassimilationen zu Wort kommen. Darin berichten die Kinder von Aborigines und Bewohnern der Torres-Strait-Inseln, wie sie zwischen den 1890er und 1970er Jahren ihren Familien und Gemeinden entrissen wurden, um in staatlichen Einrichtungen oder weißen Familien aufzuwachsen.

Obwohl dem Report eine zentrale Rolle dabei zukommt, das ganze Ausmaß der Tragödie öffentlich gemacht zu haben, mussten weitere elf Jahre vergehen, bevor sich die Regierung formell für "dieses schändliche Kapitel" der australischen Geschichte entschuldigt hat. "Für den Schmerz, das Leid und die Verletzungen, die diese verlorenen Generationen [...] erlitten haben, bitten wir um Entschuldigung", sagte 2008 der damalige Ministerpräsident Kevin Rudd und versprach, dass das Parlament dafür sorgen werde, dass sich ein solches Unrecht niemals wiederholen werde.

Trotz der Beteuerung ist die Geschichte der 'gestohlenen Generationen' bei weitem nicht das einzige Unrecht an den Indigenen im Land, geschweige denn ein Kapitel, das abgeschlossen ist. "Noch nie wurden uns so viele unserer Kinder weggenommen wie heute", meint Sam Watson, ein prominenter Aborigines-Führer und Aktivist im IPS-Gespräch.


Zahl der Trennungen seit 2004 fast verdreifacht

Ein jüngster Bericht des Produktivitätsausschusses der Regierung mit dem Titel 'Overcoming Indigenous Disadvantage' (Die indigene Benachteiligung überwinden') bestätigt Watsons Vorwurf. Wurden im Juni 2004 5.059 indigene Kinder außerhalb ihrer Elternhäuser betreut, waren es zehn Jahr später 14.991. Wie die Untersuchung weiter unterstreicht, sind knapp fünf Prozent der unter 17-jährigen Bevölkerung Indigene, und 35 Prozent aller von ihren Familien getrennten Kinder sind Aborigines und Bewohner der Inseln der Torres-Straße.

Mary Moore ist Gründerin der Ethik-Kommission der Legislative und hat sich ausführlich mit Fällen befasst, in denen indigene und nicht indigene Kinder von ihren Eltern getrennt wurden. Sie bezeichnet Australien als die "Welthauptstadt des Kinderklaus". Von dieser fest verankerten Praxis und Gesetzen, die eigens zur Legitimierung der Trennungen verabschiedet worden seien, hingen viele Arbeitsstellen ab.

"Trennung und Adoption sind kontraintuitive Strategien", betonte sie gegenüber IPS. "Sie ignorieren den lebenslangen Schaden, den die betroffenen Kinder davontragen, und sind weitaus kostspieliger als Maßnahmen, die den Familien das weitere Zusammenleben ermöglichen würden."

Behörden rechtfertigen die Trennungen mit dem Kindeswohl und der Verpflichtung, Minderjährige vor Verwahrlosung und Gefährdung zu schützen. Doch die Aborigines und die Torres-Strait-Insulaner, die überdurchschnittlich hoch von Armut betroffen sind, machen Rassismus und Vernachlässigung durch den Staat für ihre prekäre Lebenssituation verantwortlich.

Auch wenn die Zentralregierung immer wieder verspricht, die Lücken zu schließen, die die Indigenen in Armut halten, Kritikern zufolge würde es reichen, nur eine Lücke zu schließen: die zwischen Rhetorik und Handeln.

Im Februar 2015 hatte der ehemalige Regierungschef Rudd angesichts eines 400-prozentigen Anstiegs der Trennungsfälle von einer Krise gesprochen, die "eine neue Art der gestohlenen Generationen" darstelle.

In den Augen von Auntie Hazel, Mitbegründerin der 'Großmütter gegen die Wegnahme' ('Grandmothers Against Removals' - GMAR) gibt es keinen Unterschied zwischen dem Unrecht von gestern und dem von heute. "Wir hören von den Älteren der Gruppe der gestohlenen Generationen das Gleiche wie von den Jüngeren", berichtete sie. "Sie haben nie ihre Mutter, nie ihre Großmutter kennengelernt. Sie fühlen sich nirgendwo zugehörig."

GMAR wurde Januar 2014 in New South Wales (NWS) gegründet. Der Bundesstaat verzeichnet die höchste Zahl von Fällen, in denen Kinder ihren Eltern weggenommen werden. Mit der Gründung der GMAR habe man sagen wollen, "dass es reicht", so Auntie Hazel. Ein Jahr später ist die Organisation zu einer landesweiten Bewegung geworden.

GMAR und gleichgesinnte Gruppen sind nun in der Nationalen Strategischen Allianz der Aborigines für die Heimholung der Kinder ('National Aboriginal Strategic Alliance to Bring the Children Home - NASA) organisiert. Sie veranstalten Foren, Protestmärsche und Sit-ins und arbeiten am Aufbau eines internationalen Solidaritätsnetzwerkes.


Eigene Fürsorgesysteme gefordert

"Wir alle sind eins und kämpfen gegen das gleiche Unrecht", so Auntie Hazel. "Nur wenn unsere Kinder ihre Seele von innen nähren, können sie stolze Aborigines werden." GMAR kämpft nach eigenen Angaben für ein Ende der "Macht und Kontrolle" durch die Bundesstaatenbehörden und für die Einführung indigener Fürsorgesysteme, um zu verhindern, dass indigene Familien aufgrund von unbestätigten Gerüchten auseinandergerissen werden.

"Bisher ist es so, dass jeder eine Hotline anrufen kann, um Vorwürfe gegen dich zu erheben", erläuterte Auntie Hazel. "Und wenn dein Kind sein Mittagsgeld für Süßigkeiten ausgibt, kann es durchaus sein, dass du von einem Lehrer den Behörden für staatliche Fürsorge ('Community and Social Services' - DOCS) gemeldet wirst, weil sich dein Kind angeblich kein Mittagessen leisten kann. Irgendwann gibt es einen Fall gegen dich, ohne dass du dir dessen gewahr geworden bist."

Um dies zu verhindern, setzt sich die GMAR für die Einrichtung eines Aborigines-Expertenkomitees aus Gesundheitsarbeitern ein, das mit den von DOCS als 'gefährdet' eingestuften Familien zusammenarbeiten soll.

Ein solches Komitee hätte Albert Hartnett, einem GMAR-Mitglied, sehr viel Leid erspart. 2012 wurde seine damals 18 Monate alte Tochter von den Behörden in Gewahrsam genommen. "DOCS-Beamte in Begleitung der Polizei klopften an einem Freitagmorgen an meiner Haustür und teilten mir mit, dass das Kindeswohl gefährdet sei. Sie wollten wissen, wo denn der Hund sei. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprachen. Wir hatten keinen Hund", so der fünffache Familienvater. Obwohl die DOCS keine Anzeichen für ein 'Risiko' finden konnten - in ihren Unterlagen war "Hundekot in der Wohnung" vermerkt-, nahmen sie das Kind mit.


Aus bloßem Verdacht hin mitgenommen

Wie der GMAR-Aktivist weiter berichtete, hatte er sich in seinem Fall Hilfe geholt. Am dritten Tag nach der Mitnahme der Tochter erhielt er einen Anruf, in dem DOCS die Überprüfung der Wohnung ankündigte. "Sie holen also erst dein Kind und überprüfen erst danach die Vorwürfe", kritisierte er. Das Mädchen ist zwar wieder zu Hause, doch die Angst vor ähnlichen Übergriffen ist geblieben.

"GMAR ist vor allem deshalb so wichtig, weil sie die Betroffenen zum Handeln mobilisiert", meinte die Aktivistin Olivia Nigro. "GMAR hat die Familien in den betroffenen Gemeinschaften wachgerüttelt und ihnen das Selbstvertrauen gegeben, das sie brauchen, um über erlittenes Leid zu sprechen und Wiedergutmachung zu fordern." (Ende/IPS/kb/01.05.2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/05/australias-stolen-generations-not-a-closed-chapter/

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IPS-Tagesdienst vom 1. Juni 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juni 2015

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