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USA/266: Der Obama-Effekt - unkritische Euphorie? (Tlaxcala)


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Obama-Effekt: unkritische Euphorie?

Von Judith Butler, 05.11.2008
Übersetzt von Isolda Bohler, überprüft von Fausto Giudice


Wenige von uns sind gegen das Hochgefühl der Stunde immun. Meine Freunde in der Linken schreiben mir, sie fühlten so etwas ähnliches wie "Erlösung" oder "das Land hat sich uns wieder zugewandt" oder "endlich ist einer von uns im Weißen Haus". Aber natürlich geht es mir genauso wie ihnen, ich bin den ganzen Tag voll von Ungläubigkeit und Enthusiasmus, denn es ist eine große Erleichterung zu wissen, dass das Regime von George W. Bush zu Ende geht. Und an Obama zu denken, einem schwarzen, nachdenklichen und progressiven Kandidaten, bedeutet eine Wende in der Geschichte und wir empfinden diesen Kataklysmus, als er einen neuen Grund schafft.

Aber versuchen wir vorsichtig über diesen Durchbruch des Wandels nachzudenken, obgleich es noch verfrüht ist, seine Topographie insgesamt zu erkennen. Die historische Relevanz der Wahl von Barack Obama hat noch unbekannte Schrägen, aber seine Wahl ist weder, noch kann sie sein, eine Erlösung; und wenn wir die akzentuierten Identifikationswege, die er vorschlägt ("Wir sind alle vereint"), oder die wir vorschlagen ("Er ist einer von uns"), unterschreiben, riskieren wir, daran zu glauben, dieser politische Augenblick kann die Antagonismen, die das politische Leben festlegen, insbesondere die des politischen Lebens in diesen Zeiten, überwinden. Es gab immer gute Gründe die "nationale Einheit" nicht als ideal zu umarmen und Misstrauen vor der absoluten und perfekten Identifizierung mit irgendeinem politischen Führer zu bewahren. Nach allem hing der Faschismus teilweise von dieser vollständigen Identifizierung mit dem Führer ab und die Republikaner nehmen am gleichen Typ Kampagne, die auf die Inszenierung eines politischen Effekts zielt, teil, wenn sich z.B. Elizabeth Dole mit folgenden Worten ans Publikum richtet: "Ich liebe Sie alle und jeden einzelnen von Ihnen".

Über die Politik der euphorischen Identifizierung nachzudenken, wird wichtiger als noch nie, angesichts der Wahl von Obama und in Betracht ziehend, dass die erhaltene Unterstützung für ihn mit der Unterstützung von konservativen Angelegenheiten übereinstimmt. In gewisser Weise erklärt dies seinen "universellen" Erfolg. In Kalifornien gewann er mit 60 % der Stimmen, aber ein bedeutender Teil der für ihn Stimmenden wählte auch gegen die Ehe von Homosexuellen (52 %). Wie ist diese klare Trennung zu verstehen? Als erstes müssen wir uns daran erinnern, dass Obama nicht explizit das Recht auf Eheschließung zwischen zwei homosexuellen Menschen unterstützte. Außerdem, wie Wendy Brown aufzeigte, warnten die Republikaner davor, dass die Wählerschaft nicht so für die "moralischen" Themen motiviert ist, wie sie es in jüngsten Wahlprozessen war; die Gründe hinter der erdrückenden Stimme für Obama scheinen grundlegend ökonomische zu sein und die sie erklärende Logik scheint strukturierter um die neoliberale Rationalität, als um die religiösen Fragen zu sein.

Dies ist zweifellos einer der Gründe, warum die Idee scheiterte, Palin die Funktion zuzuweisen, die Mehrheit der Wählerschaft mit der Diskussion über moralische Fragen aufzurütteln. Aber wenn die "moralischen" Themen, wie Waffenkontrolle, Rechte im Zusammenhang mit der Abtreibung und die Rechte Homosexueller, nicht so entscheidend waren wie in der Vergangenheit, vielleicht deswegen, weil sie perfekt in einem anderen Bereich des politischen Denkens aufgehoben sind.

In anderen Worten, wir sehen uns neuen Konfigurationen der politischen Überzeugungen gegenüber, die es ermöglichen, gleichzeitig dem Anschein nach divergierende Visionen aufrechtzuerhalten: Jemand könnte zum Beispiel bei gewissen Themen nicht mit Obama übereinstimmen, aber ihm seine Stimme gegeben haben. Dies wurde mit dem Aufkommen des Bradley-Gegeneffektes [1] deutlich, als die Wähler ihren Rassismus auf sich nehmen konnten und tatsächlich auf explizite Weise auf sich nahmen, aber sie sagten, dass sie auf alle Fälle für Obama stimmten. Unter den zu vernehmenden Anekdoten sind Sätze wie "Ich weiß, dass Obama Muslim und Terrorist ist, aber ich werde ihn trotzdem wählen; wahrscheinlich ist es für die Wirtschaft besser". Diese Wähler konnten ihren Rassismus bewahren, für Obama stimmen und entgegengesetzte Überzeugungen behalten, ohne sie lösen zu müssen.

Zu den gewichtigen ökonomischen Gründen kamen andere, weniger vom Empirischen der Wahlergebnisse her erkennbare Faktoren. Wir dürfen die Kraft der Desidentifizierung in diesem Wahlprozess nicht unterschätzen, das Gefühl des Widerwillens, weil George W. Bush die USA vor der ganzen Welt "repräsentierte", die Schande über unsere Folterpraktiken und illegalen Festnahmen, den Ekel darüber, den Krieg auf der Basis von falschen Beweisen begonnen zu haben und den Rassismus gegen den Islam gepredigt zu haben, die Beunruhigung und der Horror über die Tatsache, dass die bis ins Extreme geführte ökonomische Deregulierung eine Weltwirtschaftskrise schuf.

Trat Obama schließlich als ein besserer Repräsentant der Nation trotz oder wegen seiner Rasse hervor? In dieser Repräsentationsfunktion ist er gleichzeitig schwarz und nicht schwarz (manche sagen, dass "er nicht genügend schwarz ist" und manche, dass "er zu schwarz ist"); folglich kann er Wähler anziehen, die nicht nur einen Weg zur Lösung ihrer Ambivalenz zu dem Thema entbehren, sondern die es nicht einmal wünschen, einen zu haben. Dessenungeachtet erscheint die öffentliche Figur, die es dem Volk erlaubt, seine Ambivalenz zu bewahren und zu schminken, wie eine Figur der "Einheit": Es gibt keinen Zweifel daran, dass sie eine ideologische Funktion erfüllt. Diese Momente sind intensiv imaginär, was ihnen aber keine politische Kraft entzieht.

Das Interesse an der Person Obamas wuchs entsprechend den sich nähernden Wahlen: sein Ernst, seine Bedächtigkeit, seine Fähigkeit nicht die Beherrschung zu verlieren, seine Art eine gewisse Gelassenheit gegenüber den Angriffen und der brutalen politischen Rhetorik zu bewahren, sein Versprechen der Wiederherstellung einer Version der Nation, die in der Lage ist, die aktuelle Schande zu überwinden. Das Versprechen ist natürlich verführerisch. Aber was würde geschehen, wenn das blinde Anhängen an Obama, den Glauben an die Möglichkeit förderte, die ganze Unstimmigkeit gehe zu überwinden, die Einheit sei wirklich möglich? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine gewisse, unvermeidliche Enttäuschung erleben werden, wenn dieser charismatische Führer zeigt, dass er fehlbar ist, dass er bereit ist, nachzugeben, oder sogar die Minderheiten zu verraten? Tatsächlich hat er es in gewisser Weise schon getan, aber viele von uns drücken unsere Befürchtungen darüber weg, um das extreme Fehlen von Ambivalenz in diesem Augenblick zu genießen, eine unkritische Euphorie zur Schau stellend, obgleich wir die Lektion schon gelernt haben müssten.

Nach allem ist es schwierig Obama als einen Mann der Linken zu definieren, unabhängig von dem "Sozialismus", den ihm seine konservativen Gegner unterstellen. In welchem Mass wird sein Handeln von Parteipolitik, ökonomischen Interessen und Staatsmacht begrenzt werden? In welchem Mass ist es nicht schon kompromittiert? Wenn wir im Laufe seines Mandats den Sinn der Unstimmigkeit zu überwinden suchen, werden wir die kritische Politik zugunsten einer Euphorie, deren absonderliche Dimensionen Konsequenzen haben werden, über Bord geworfen haben. Vielleicht können wir dieses imaginäre Moment nicht vermeiden, aber wir sollten nicht vergessen, dass es nur vorübergehend ist. Wenn es erklärte Rassisten gibt, die sagten "Ich weiß, dass er Muslim und Terrorist ist, aber ich werde genauso für ihn stimmen", gibt es bestimmt unter der Linken, die sagen "Ich weiß, dass er den Kampf für die Rechte der Homosexuellen verriet, ich weiß, dass er Palästina verriet, aber er ist weiterhin unsere Errettung". Ich weiss es genau, aber: Das ist die klassische Formulierung der Verleugnung. Mit welchen Mitteln halten wir widersprüchliche Überzeugungen wie diese aufrecht und maskieren sie? Um welchen politischen Preis?

Es gibt keinen Zweifel daran, dass der Erfolg Obamas wichtige Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation des Landes haben wird und es scheint vernünftig anzunehmen, dass wir eine neue Logik der ökonomischen Regulierung sehen werden und eine ökonomische Einstellung ähnlich der europäischen Sozialdemokratie; in der Außenpolitik werden wir zweifellos eine Erneuerung der multilateralen Beziehungen erleben, eine Änderung um 180 Grad in Bezug auf die unheilvolle Neigung zur Zerstörung der multilateralen Übereinkommen, die wir während der Bush - Regierung erlebten. Und ohne Zweifel werden wir auch in allgemeinen Begriffen eine liberalere Tendenz sehen, was die sozialen Themen betrifft, obwohl es wichtig ist, daran zu erinnern, dass Obama sich weder zugunsten der universellen Gesundheitsversorgung aussprach, noch explizit das Recht der homosexuellen Heirat unterstützte. Es gibt auch nicht viele Gründe zur Hoffnung, dass er eine gerechte Außenpolitik in den Beziehungen der USA zum Mittleren Osten formuliert, obwohl es bestärkt zu wissen, dass er Rashid Khalidi [2] kennt.

Die unbestreitbare Relevanz der Wahl Barack Obamas ist insgesamt mit der Überwindung der unausgesprochen auferlegten Schranken gegen die Erfolge der schwarzen Bevölkerung in den USA verbunden; er inspirierte, wird inspirieren und die schwarze Jugend rühren; gleichzeitig wird er eine Änderung der Selbstdefinition des Landes beschleunigen. Wenn die Wahl Obamas ein Indiz des Willens der Mehrheit der Wähler ist, dass dieser Mann "sie repräsentiert", dann versteht man, dass das "wir" sich neu konstituiert: Wir sind eine Nation vieler Rassen, gemischtrassig und Obama bietet uns die Gelegenheit, anzuerkennen, wer wir sind, was wir sein werden und so würde es scheinen, dass sich jene gewisse Teilung zwischen der Funktion der Repräsentation der Präsidentschaft und der Funktion des repräsentierten Volkes überwunden haben würde. Sicherlich handelt es sich um einen Augenblick der Euphorie, aber kann er andauern? Sollte er?

Welche Konsequenzen mag diese fast messianische, Obama verliehene, Erwartung haben? Der Erfolg dieser Präsidentschaft erfordert eine gewisse Enttäuschung und die Fähigkeit, diese Enttäuschung zu überwinden: Der Mensch wird wieder menschlich, er wird sich weniger mächtig, als wir möchten, zeigen und die Politik wird aufhören, ein Fest ohne Ambivalenzen und Behutsamkeit zu sein; tatsächlich wird die Politik zeigen, weniger eine messianische Erfahrung zu sein und mehr eine Quelle zur gründlichen Debatte, der öffentlichen Kritik und dem notwendigen Antagonismus. Die Wahl von Obama bedeutet, dass das Terrain für die Debatte und den Kampf einen Schlag ins Steuer tat und ohne Zweifel ist es ein fruchtbareres Terrain. Aber das bedeutet nicht das Ende des Kampfs. Das zu denken wäre unsinnig, auch nur vorübergehend. Wir werden bestimmt mit einigen der Maßnahmen, die er ergreift und nicht ergreift, übereinstimmen und nicht übereinstimmen. Aber wenn die anfängliche Erwartung die ist, dass er die personifizierte "Erlösung" ist, und sein wird, dann werden wir ihn gnadenlos bestrafen, wenn er uns enttäuscht (oder wir werden Möglichkeiten finden, die Enttäuschung zu verleugnen oder zu verdrängen, um die Erfahrung der Einheit und Liebe ohne Ambivalenzen aufrechtzuerhalten).

Obama muss schnell handeln, um eine weitreichende und dramatische Enttäuschung zu verhindern. Vielleicht ist die einzige Möglichkeit einen Krach (eine Enttäuschung mit schlimmen Ausmaßen, die den politischen Willen gegen ihn wenden würde) zu verhindern, dass er in den ersten zwei Monaten an der Macht entscheidende Maßnahmen ergreift. Die erste wäre, Guantánamo zu schließen und Wege zu finden, die Festgenommenen vor legitime Gerichte zu bringen; die zweite wäre, einen Plan zum Rückzug der Truppen aus dem Irak zu schmieden und zu beginnen, ihn umzusetzen. Die dritte wäre, seine kriegerischen Erklärungen, den Krieg in Afghanistan zu intensivieren, zurückzunehmen und nach diplomatischen und multilateralen Lösungen zu suchen. Es ist klar, ergreift er nicht diese Maßnahmen, entzieht ihm die Linke die Unterstützung und wir werden die Neugestaltung der Teilung unter den liberalen Falken und der Linken, die gegen den Krieg ist, sehen.

Wenn er Leute wie Lawrence Summers zur Besetzung von Kabinettsposten ernennt und die gescheiterte Wirtschaftspolitik von Clinton und Bush fortsetzt, wird der Messias als falscher Prophet verachtet. Wir brauchen kein unmögliches Versprechen, sondern eine Reihe konkreter Taten, die damit anfangen könnten, die enorme, von dem Bush - Regime begangene, Aufhebung der Justiz zurückzunehmen; wenn er weniigstens das nicht macht, wird das zu einer dramatischen und weitreichenden Desillusionierung führen. Die Frage ist, welches ist das genaue Maß der Desillusion, das gebraucht wird, um eine kritische Politik wiederzuerlangen und welche noch dramatischere Eigenart von Desillusion wird uns von dem intensiven politischen Zynismus der letzten Jahre zurückgegeben werden. Man muss ein bisschen von der Illusion wegkommen, um sich daran erinnern zu können, dass die Politik nicht so viel mit der Person und dem unmöglichen und schönen Versprechen, das sie repräsentiert, zu tun hat, als mit den konkreten Veränderungen in der politischen Praxis, die, mit der Zeit und nicht ohne Schwierigkeiten, die günstigen Bedingungen für eine größere Gerechtigkeit konstruieren werden.


Anmerkungen:

[1] In der politischen Kultur der USA wird das Phänomen, nach dem die Kandidaten einer Rassenminderheit bessere Ergebnisse bei den Umfragen, als an den Urnen haben, Bradley-Effekt genannt. Benannt ist die Theorie nach Tom Bradley, dem afroamerikanischen Bürgermeister von Los Angeles, der 1982 die Wahlen zum Gouverneur von Kalifornien verlor.

[2] Professor für Moderne Arabische Studien des Lehrstuhls Edward Said an der Columbia Unievrsity, Autor u.a. von Palestinian Identity: The Construction of Modern National Consciousness (1997). Die Gegner Obamas im Wahlkampf nutzten die Tatsache aus, dass sie sich begegnet hatten als sie beide Professoren an der Chaicago University waren, um zu behaupten, Obama sei anti-Israeli.


Quelle: Uncritical Exuberance? Judith Butler's take on Obama
http://angrywhitekid.blogs.com/weblog/2008/11/uncritical-exuberance- judith-butlers-take-on-obama.html
Originalartikel veröffentlicht am 5.11.2008

Über den Autor
Judith Butler (1956) gehört zu den Akademikerinnen der Europäischen Universität für Interdisziplinäre Studien in Saas-Fee, Schweiz, und ist Professorin des Lehrstuhls Maxine Elliot in Rhetorik und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität von Kalifornien, Berkeley.

Isolda Bohler und Fausto Giudice sind Mitglieder von Tlaxcala, dem Übersetzernetzwerk für sprachliche Vielfalt. Diese Übersetzung kann frei verwendet werden unter der Bedingung, daß der Text nicht verändert wird und daß sowohl der Autor, die Übersetzerin, der Prüfer als auch die Quelle genannt werden.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2009