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USA/282: Die USA in der Weltordnung des 21. Jahrhunderts (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2009

Die USA in der Weltordnung des 21. Jahrhunderts

Von Herfried Münkler


Ist die US-amerikanische Dominanz an ihrem Ende angelangt? Schwingt das Pendel jetzt zurück zu den "natürlichen" Zentren der Weltwirtschaft in Asien? Oder erfinden sich die USA neu? Die hysterieanfällige Extrapolation rein ökonomischer Daten blendet wichtige Kriterien aus. Eine gründliche Beschäftigung mit der Geschichte von Imperien ist da eine bessere Einübung in weltpolitische Prognosefähigkeit.


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Das Ende des "amerikanischen Jahrhunderts" ist schon einige Male ausgerufen worden, aber jedes Mal haben sich die Vereinigten Staaten nach einer kurzen Phase politischen oder ökonomischen Schwächelns wieder erholt und eine weltpolitische Rolle gespielt, die ihnen kurz zuvor keiner mehr zugetraut hätte. Die amerikanische Verfassung eröffnet nun einmal die Möglichkeit, dass sich das Land mit jedem Präsidentenwechsel "neu erfindet", gleichsam wieder von vorne angefangen werden kann. So können sich auch die Hoffnungen derer, die sich eben noch enttäuscht oder feindselig von den USA abgewandt haben, aufs Neue der westlichen Vormacht zuwenden und von ihr die Lösungen der drängendsten weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Probleme erwarten. Der jüngste Wechsel von George W. Bush zu Barack Obama hat das einmal mehr bestätigt. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass sich das vorerst ändern wird. Die USA werden der Adressat periodisch auflodernder Hoffnungen auf eine "bessere Welt" bleiben, und allein das ist ein Machtfaktor, der alles übertrifft, was potenzielle Konkurrenten den Vereinigten Staaten entgegenzusetzen haben.

Während der letzten Jahre war viel vom unaufhaltsamen Aufstieg Chinas und Indiens die Rede, verbunden mit Prognosen über ein wirtschaftliches Wachstum, wonach China die USA schon bald einholen werde. Damit gehe eine Verlagerung des weltwirtschaftlichen Zentrums aus dem atlantischen in den pazifischen Raum einher, jedoch nicht infolge einer Schwerpunktverlagerung innerhalb der USA, wie dies zeitweilig vorhergesagt wurde, sondern infolge des Bedeutungsverlustes der USA und einer Neuverteilung der weltwirtschaftlichen Schwergewichte. Mit ihr würden die Strukturen, die bis ins 17./18. Jahrhundert galten, wieder in Kraft gesetzt: Ost- und Südasien waren damals das Zentrum und der Motor der Weltwirtschaft, und der atlantische Raum spielte allenfalls die Rolle eines Nebenzentrums, das nur um den Preis eines permanenten Gold- und Silberabflusses an den Reichtümern Ost- und Südasiens zu partizipieren in der Lage war. Das ist der harte Kern der Gegenprognose: Das Pendel schwingt zurück zu den "natürlichen" Zentren der Weltwirtschaft, und im Gefolge dessen wird es zu einer ökonomischen wie politischen Marginalisierung Europas und der USA kommen. Daran, so die Vertreter der "Weltsystem"-theorien, könnten auch die militärischen Anstrengungen des Westens nichts ändern.

Die Gegenüberstellung der periodischen Neuerfindung der USA, in der weltweite Hoffnungen auf die Losung globaler Fragen mobilisiert werden, und der barsche Bescheid über die sich gleichsam naturgesetzlich vollziehende Verlagerung der weltwirtschaftlichen Zentren nach China und Indien machen deutlich, wie prekär Prognosen über die Rolle der USA in der Weltordnung des 21. Jahrhunderts sind. Es steht nicht einmal fest, auf der Grundlage welcher Daten die Prognose zu erstellen ist bzw. in welchem Verhältnis die unterschiedlichen Daten miteinander verbunden werden können. Die einen sagen den unaufhaltsamen Niedergang der USA voraus, während andere nahelegen, dass die USA auch zukünftig noch den Erwartungshorizont der Menschen prägen und die politischen Aufbruchsstimmungen beherrschen werden. Und natürlich ist die Frage nach der Rolle der USA in einer zukünftigen Weltordnung unlöslich verbunden mit der Frage nach der Zukunft des Kapitalismus, in dessen Zeichen sich der Aufstieg der USA zur dominierenden Weltmacht vollzogen hat. So viele Fragen, so viele Antworten - aber welche davon hat die größte Plausibilität?


Wirtschaftliche Riesen und politische Zwerge

Im Anschluss an Michael Manns Geschichte der Macht ist davon auszugehen, dass ein weltpolitischer Akteur, erst recht der Garant einer Weltordnung, über mehrere Sorten von Macht verfügen muss. Innerhalb dieses Portfolios der Machtsorten spielen politische, ökonomische, militärische und kulturelle Macht eine zentrale Rolle. Sie sollten in tendenziell gleichem Maße vorhanden sein, wobei zeitweilige Defizite einer Machtsorte durch stärkere Inanspruchnahme einer anderen ausgeglichen werden können. Werden solche Ungleichgewichte jedoch zum Dauerzustand, so erwächst daraus eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit des betreffenden Akteurs. Nun fällt jedoch auf, dass sämtliche Prognosen, die von einer Ablösung der USA durch China bzw. China und Indien ausgehen, sich ausschließlich auf ökonomische Daten stützen. Implizit gehen sie offenbar davon aus, dass ökonomische Potenz zwangsläufig politische, militärische und kulturelle Macht hervorbringt. Das ist ein Irrtum, dem schon der Vulgärmarxismus erlegen ist. Ob wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in ökonomische Macht oder aber in eine allgemeine Prosperität überführt wird, ist das Ergebnis einer politischen Entscheidung; erst recht ist es eine politische Entscheidung, ob wirtschaftliche Kraft genutzt wird, daraus politische und militärische Macht zu entwickeln, und die Verfügung über kulturelle oder zivilisatorische Attraktivität hat zwar manches mit wirtschaftlicher Prosperität zu tun, kann aber nicht daraus "abgeleitet" werden. Die Zuwachsprognosen der Ökonomen sind also - abgesehen davon, dass sie, wie die jüngste Entwicklung gezeigt hat, alles andere als zuverlässig sind - höchst ungeeignet, um daraus Annahmen über das zukünftige weltpolitische Gewicht eines Landes abzuleiten. Das zeigt allein der Rückblick auf die Rolle Japans oder der Bundesrepublik Deutschland in den 70er und 80er Jahren: Wirtschaftliche Riesen können politische Zwerge sein.

Man muss die politische Rolle, die einem wirtschaftlich möglich ist, auch spielen wollen. Man muss bereit sein, die damit verbundenen zusätzlichen Kosten zu übernehmen. Dass dies erhebliche Lasten sind, haben die USA im 20. Jahrhundert mehrfach erfahren müssen, und einige Male hat sich die Neigung zum politischen Isolationismus mehr als deutlich gezeigt. Es war das auf die Gründerväter, den Frontier-Mythos und vieles andere zurückgehende politische und kulturelle Selbstverständnis des Landes, das die amerikanischen Eliten davon abgehalten hat, diesen isolationistischen Neigungen zu folgen. Dass es in China oder Indien etwas Vergleichbares gibt, ist nicht zu erkennen. Man darf es eher bezweifeln. Eine weltpolitische Rolle spielt sich jedoch nicht von selbst; für sie genügt nicht nur die Fähigkeit, sondern es bedarf auch der Entschlossenheit, sie zu spielen. Das zeigt sich bei der EU seit mehr als einem Jahrzehnt. Diese Entschlossenheit fehlt jedenfalls bei den Eliten Indiens, und bei denen Chinas ist sie nicht sonderlich ausgeprägt. Die Rolle einer regionalen Vormacht nimmt man in China gerne und mit wachsendem Selbstbewusstsein in Anspruch; keineswegs aber liebäugelt man mit einer globalen Führungsposition. Die Spitzenpolitiker der KP Chinas wissen sehr gut, welche Lasten mit dieser Rolle verbunden sind, und sie haben eine genaue Vorstellung davon, auf wie brüchigem Terrain sie sich angesichts der Modernisierungsverwerfungen und sozialen Krisen im eigenen Land bewegen. Geschickt nützen sie politische Fehler der USA aus und dringen in Bereiche vor, in denen die USA in Misskredit geraten sind. Aber das ist etwas völlig anderes als die Reklamation einer weltpolitischen Führungsposition. Nur ein auf Erregungserzeugung abonnierter Journalismus kann das miteinander verwechseln.

Es fehlt den Chinesen (und Indern) aber nicht nur der Wille zur Gestaltungsmacht der Weltordnung, sondern im Portfolio der Machtsorten letztlich auch die Fähigkeit dazu: die politische Macht mag zwar gewachsen sein, ist aber großräumlich begrenzt, und die militärische, vor allem aber die kulturelle Macht sind und bleiben auf lange Zeit defizitär. Das wäre erst anders, wenn man hierzulande erwarten würde, wer zur Elite gehören wolle, müsse eine Zeitlang in China studiert haben. Und ebenso weit sind wir von der Vorstellung entfernt, man müsse das Chinesische perfekt beherrschen, um in Wirtschaft und Wissenschaft eine gute Position einnehmen zu können. Genau das aber sind seit jeher die Faktoren, die zur nachhaltigen Formierung imperialer Räume mehr beitragen als die Bewegung von Legionen oder Flugzeugträgerverbänden. Die gründliche Beschäftigung mit der Jahrhunderte umfassenden Geschichte von Imperien ist eine bessere Einübung in weltpolitische Prognosefähigkeit als die hysterieanfällige Extrapolation ökonomischer Daten, deren Reihung selten mehr als ein Jahrzehnt umfasst. Der Blick auf die Geschichte der großen Mächte jedenfalls legt nahe, auch für das 21. Jahrhundert, zumindest für dessen erste Hälfte, von einer beherrschenden Rolle der USA in und bei der Ordnung der Welt auszugehen.


Ohne ordnungspolitische Alternative

Bleibt noch die leidige Frage nach der Zukunft des Kapitalismus. Der Übergang der imperialen Regulationsfunktion von Großbritannien auf die USA war mit der endgültigen Durchsetzung eines kapitalistischen Ordnungsmodells für die Verteilung strategischer Ressourcen, also Erdöl, Erdgas und wichtiger Bodenschätze, verbunden. Wer zahlungsfähig ist, erwirbt Rechte, während Gewalt und Eroberung keine Rechte gewähren. Gegen das kaiserliche Japan und Nazi-Deutschland haben die USA dieses Weltordnungsprinzip durchgesetzt, dessen Garant sie bis heute sind. Man kann gerechtigkeitstheoretisch gegen diese Ordnung vielerlei einwenden, und tatsächlich sind eine Reihe von Kompensationsformeln erfunden worden, um bestimmte Effekte der kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung abzufangen. Eine prinzipielle Alternative ist freilich nicht in Sicht. Eher geht es darum, das Vordringen alter Muster abzuwehren. In einigen der "neuen Kriege" hat sich die Gewalt als Zugriffsmodus auf Bodenschätze und strategische Ressourcen wieder etabliert. Das jüngste Beispiel ist Ostkongo. Die kapitalistische Ordnung besteht also nicht von selbst, sondern muss immer wieder verteidigt oder neu hergestellt werden. In dieser Rolle sind die USA unersetzlich. Und China oder Indien verfügen über keine ordnungspolitische Alternative dazu.


Herfried Münkler (* 1951) ist Professor am Institut für Politikwissenschaft der Humboldt-Universität in Berlin. Kürzlich bei Rowohlt Berlin erschienen: Die Deutschen und ihre Mythen.
herfried.muenkler@rz.hu-berlin.de


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

US-Brause in Kabul: der afghanische Präsident Karzai bei einer Werkseröffnung 2006.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2009, S. 32-35
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2009