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USA/292: Ein Jahr Barack Obama (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2010

Traum trifft auf Realität?
Ein Jahr Barack Obama

Von Dick Howard


Die Beliebtheit Barack Obamas liegt derzeit bei über 50%. Das ist einerseits zwar ein guter Wert, er spiegelt andererseits aber auch einen deutlichen Rückgang verglichen mit der Euphorie zu Beginn seiner Amtszeit wider. Gleichzeitig ist z.B. die Arbeitslosigkeit in den USA auf 10,2% gestiegen (so hoch wie seit 26 Jahren nicht) und das Jahresdefizit 2009 ist mit 1,4 Bill. Dollar (annähernd 12% des BSP) das höchste seit dem Zweiten Weltkrieg. Ist also der Traum angesichts der harten Realitäten schon ausgeträumt?


Barack Obama stürmte die politische Bühne 2004 mit einer bemerkenswerten Grundsatzrede vor der Jahrestagung der Demokraten in Boston. Die Rede trug den Titel "The Audacity of Hope" ("Hoffnung wagen"). Ein auffälliger, politisch atypischer Aspekt dieser Rede war Obamas wiederholter Hinweis auf seine eigene, persönliche Geschichte. Die Kombination des Persönlichen und des Politischen kehrte auch in seiner Kampagne 2008 und nach seiner Wahl regelmäßig wieder.

Warum diese Rückverweise auf sich selbst? Er beschwor die "Träume", die seine "unglaubliche" Familie vereinten, und beteuerte: "Ich stehe hier und weiß, dass meine Geschichte Teil der größeren amerikanischen Geschichte ist, dass ich in der Schuld all derer stehe, die vor mir kamen und dass in keinem anderen Land der Welt meine Geschichte überhaupt nur denkbar wäre." Und zum Abschluss seiner Antrittsrede 2008 beschwor er erneut die amerikanischen Werte, die es ermöglichten, dass "ein Mann, dessen Vater vor weniger als 60 Jahren in einem Restaurant wohl nicht bedient worden wäre, nun vor Ihnen steht, um den heiligsten Eid zu leisten."

Diese Passagen lassen darauf schließen, dass ein zentraler Pfeiler der politischen Macht Obamas in seiner Fähigkeit besteht, für die Amerikaner ihr eigenes Ideal zu verkörpern, das sie gerne wären - nicht nur als Individuen, sondern als Nation. Sein Reiz liegt nicht nur darin, dass er Rassenunterschiede überwindet, er beschwört auch gemeinsame Werte, die tief in der politischen Geschichte der Nation liegen. Obamas Wahl und sein rhetorischer Appell erinnern die Amerikaner daran, dass sie nicht nur einfach eine Masse von Individuen sind, sondern jeder von ihnen persönlich von den Menschenrechten auf "Leben, Freiheit und Streben nach (privatem) Glück", niedergelegt in der Unabhängigkeitserklärung, profitiert. Amerikaner, sagt er, sind gleichzeitig auch Bürger, die einen gemeinsamen Traum haben und den Wunsch nach Allgemeinwohl teilen. Obama rechtfertigt seine Gesetzesvorschläge nicht als Reaktion auf die durch die Finanzkrise entstandenen äußeren Umstände; sein Appell ist in einem strengeren Sinn politisch und richtet sich an das moralische Bewusstsein der Bürger und an ihre Solidarität mit ihren Mitmenschen.

Dieses unerwartete Zusammentreffen der Biografie eines Mannes und des idealen Selbstverständnisses einer Nation ist die wahre Grundlage der politischen Macht Obamas. Wie bei jedem erfolgreichen Politiker basiert Obamas Autorität auf seiner Fähigkeit, seinen politischen Einzelentscheidungen einen universalen Sinn zu geben und seine eigene persönliche Geschichte mit einer größeren, universelleren Geschichte zu verknüpfen. Dies verleiht ihm eine moralische Legitimation, die er nun in politische Aktion umsetzen muss.


Parteipolitik oder politische Moral?

Einen Monat nach seinem Amtsantritt hielt Barack Obama eine im ganzen Land übertragene Rede vor den beiden Häusern des Kongresses, in der er von den ökonomischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen sprach, mit denen seine Regierung konfrontiert ist. Mit seinem ambitionierten Programm versuchte er, die ihm hinterlassene Krise als Chance für eine groß angelegte Reform zu nutzen. Während seiner Wahlkampagne hatte er erklärt, dass dies Steuererhöhungen für die wohlhabendsten 5% der Bevölkerung bedeuten würde, teilweise, indem man 2010 die beiden massiven Steuersenkungen von George Bush auslaufen lassen würde, teilweise durch die Einführung neuer Steuern auf Hedgefonds und andere spekulative Unternehmen (sowie durch Reduzierung der enormen Kosten der Besetzung des Iraks). Seine Parteianhänger bekamen den Eindruck, als triebe er mit Unterstützung eines stark demokratisch dominierten Kongresses eine Art New Deal voran. Aber es kann durchaus auch gefährlich sein, die Vergangenheit als Ratgeber für die Zukunft heranzuziehen.

Es ist wichtig zu erkennen, dass die Rechtfertigung für diese Politik nicht rein fiskalisch und technisch ist; sondern vor allem moralisch und politisch. Obama prangerte wiederholt die Kluft zwischen den Vermögenden und dem Rest der Bevölkerung an, die ein Ausmaß erreicht hat wie seit 1928 nicht mehr (dem Jahr des großen Börsen-Crashs an der Wall Street). Obama meint, dies sei nicht nur moralisch falsch, sondern politisch ungerecht, sozial gefährlich und auch ökonomisch problematisch.

Der moralische Appell an die "Post-Parteipolitik", wie Obama es nennt, traf auf eiserne Ablehnung bei den Republikanern, die keinerlei Interesse an einem Kompromiss zeigten. Das sollte eigentlich auch nicht überraschen. Während die Demokraten die Dinge erledigt haben wollen, dafür auch zu Kompromissen bereit sind und mit jedem zusammenarbeiten, der gerade an der Macht ist, wollen die radikalen Republikaner von heute im Grunde genommen staatliches Handeln unterbinden und lehnen deshalb alle entgegenkommenden Maßnahmen ab und prangern die "Verschwendungssucht" und Ineffizienz von Regierungsprogrammen an. Obama scheint zu glauben, dass die einzigartigen politischen Wurzeln seiner Autorität es ihm erlauben, seine Widersacher zappeln zu lassen, vor den Augen einer Öffentlichkeit, die eine positive Führung erwartet.

Die republikanische Politik des "Nein" basiert auf populistischen Appellen, angeführt von Talkshow-Moderatoren im Rundfunk und politischen Kommentatoren der rund um die Uhr ausgestrahlten Fernsehprogramme. Diese fragen, warum "wir" für Banker, Finanzspekulanten und Autofabrikanten herhalten sollen. Dabei übersehen sie die Tatsache, dass die Republikaner in den letzten acht Jahren an der Macht waren. Trotz dieser populistischen Rhetorik zeigen die Umfragen fallende Werte für die Republikaner. Nichtsdestotrotz erinnert die Führung ihre Anhänger daran, dass in den Jahren nach dem Sieg von John F. Kennedy 1960 die Rückkehr zur Macht das Ergebnis eines langen, aber prinzipientreuen Ganges durch die Wüste war, bei dem die Pragmatiker und Kompromissler abgehängt wurden - was schließlich den Weg für Ronald Reagan freimachte.


Die Gesundheitsreform als Prüfstein

Im August segelte das Weiße Haus in unruhigere Gewässer: Die Republikaner holten zum Rundumschlag gegen die Gesundheitsreform der Demokraten aus. Obwohl viele der Angriffe einfach falsch oder stark übertrieben waren, büßte der Präsident durch seine ungenügende Reaktion an Zustimmung ein. Seine Position wurde auch durch die Ideologen unter seinen Unterstützern geschwächt, die - wie die Hardliner unter den Republikanern - in ihrer eigenen Vergangenheit nach einem Weg in die Zukunft suchten und den Geist des New Deal beschworen, indem sie forderten, die Reform solle eine sogenannte "public option" bei der Krankenversicherung enthalten, die von der Regierung kontrolliert wird. Wie wünschenswert diese Option abstrakt gesehen auch sein mag und wie stark ihre Symbolkraft auch für Demokraten des linken Flügels ist, so haben Studien doch gezeigt, dass die Auswirkung bei den Gesundheitskosten, die fast 16% des Bruttosozialprodukts betragen, in Wirklichkeit minimal wäre.

Als der Kongress aus den Sommerferien zurückkehrte, hatte sich der Ton des Präsidenten geändert. Er sprach kaum noch von Gerechtigkeit und moralischem Imperativ, sondern konzentrierte sich vielmehr auf die Notwendigkeit, die Reform dem Volk, einer Interessengruppe nach der anderen, zu "verkaufen". Obama mischte sich zwar aggressiv ein, aber diese Taktik war genau das Gegenteil der Strategie, die ihm die Präsidentschaft einbrachte. Anstatt an die Solidarität der Bürger zu appellieren, die ja eigentlich die Basis der Idee einer Krankenversicherung ist, sprach Obama das Eigeninteresse der Individuen (oder Gruppen) an. Ergebnis war, dass sich diverse Lobby-Gruppen zu Wort meldeten und ihr eigenes privates Recht forderten, das von gleichem Wert wie das Allgemeinwohl sei.


Das vergiftete Nobelgeschenk

Man kann sich gut vorstellen, was die fünf norwegischen Parlamentarier dazu bewogen hat, Barack Obama den Nobelpreis zuzusprechen. Sie gaben damit ein doppeltes politisches Statement ab: gegen Bush und für die von ihnen erhoffte Obama-Politik. Das war ein verfluchter Segen für einen Präsidenten, der gerade darüber entscheiden musste, ob er den Einsatz der Truppen in Afghanistan verstärken sollte und der bei seinen anderen Initiativen noch wenig Erfolg vorzuweisen hat. Die erste Reaktion des Präsidenten war würdevoll und ernst und suggerierte, dass der Preis ein weiterer Ansporn sein würde, die komplizierten Einzelinteressen in Verhandlungen zusammenzuführen, die von der Sache her nur in kleinen Schritten - wenn überhaupt - zum Ziel führen können. In der Zwischenzeit muss er sich der Herausforderung in Afghanistan stellen.

Einer der Gründe für Obamas Wahlsieg 2008 war seine Kritik am Irak-Krieg. Stattdessen sollte, so argumentierte er, Afghanistan die zentrale Säule des Kampfes (nicht "Krieges") gegen den Terrorismus sein. Obwohl er im Februar nach seiner Überzeugung handelte, dachte er noch Anfang November über die Forderung seines führenden Generals McCrystal nach, weitere Truppen zu entsenden und gleichzeitig die neue Antiaufstandstrategie einzuführen, die auf dem behaupteten Erfolg dieser Strategie im Irak beruht. Doch die offenkundige Fälschung der Wahlen in Afghanistan diskreditierte gleichzeitig die Militärstrategie, die von der Kooperation mit einem legitimen Partner abhängt. Was würde der Friedenspreisträger nun vorschlagen?

Der Kolumnist der Washington Post E. J. Dionne Jr. empfahl eine historische Analogie, die erklärte, wie Obama seinen Nobelpreis verdienen könnte. Als Eisenhower das Amt 1953 übernahm, war aus dem Kalten Krieg in Korea ein heißer geworden, bevor er sich zu einem Patt abkühlte. Der vom ehemaligen General zum Politiker avancierte Eisenhower verfügte über genügend Glaubwürdigkeit, um aggressive Vorschläge der Hardliner-Antikommunisten auszuschlagen und stattdessen eine Waffenruhe auszuhandeln, bei der beide Seiten sich als Sieger ausgeben konnten. Diese politische Entscheidung war Teil einer breiteren strategischen Vision: militärisch durch die Politik der "Zurückhaltung" und ideologisch durch Nutzung der sogenannten "soft power" demokratischer Werte, um den Brunnen auszutrocknen, aus dem der Feind seine Anhängerschaft schöpfte.

Es ist bezeichnend, dass Obama, als er am 1. Dezember endlich seine Pläne für Afghanistan verkündete, an die Autorität von Eisenhower erinnerte, indem er zu bedenken gab, dass "jeder Vorschlag im Licht einer weiteren Überlegung erwogen" werden müsse: der "Notwendigkeit, eine Balance in und zwischen den nationalen Programmen zu finden". Er führte ferner aus, dass die Entsendung von 30.000 weiteren Soldaten keine unlimitierte Verpflichtung sei, denn "wir müssen hier zu Hause unsere Kräfte sammeln. Unser Wohlstand ist das Fundament unserer Stärke". Angesichts der immensen Kosten für Amerikas Kriege erkannte Obama die Grenzen der amerikanischen Macht, und er besteht nun darauf, dass "unsere Truppenverpflichtung in Afghanistan nicht unbegrenzt sein kann - denn die Nation, an deren Aufbau ich am meisten interessiert bin, ist die unsere".


Was bringt das zweite Jahr?

Die entscheidende Frage ist einfach: Kann Obama Obama bleiben? Jetzt, da sich das erste Jahr seinem Ende zuneigt, muss der Präsident die Zwischenwahlen für einen neuen Kongress sowie ein Drittel des Senats im Auge haben. Als Inkarnation der Geschichte und Versprechen für die Zukunft Amerikas konnte er es sich leisten, über der täglichen Plackerei der politischen Deals zu stehen und abzuwarten, dass die Opposition (und seine Freunde) ihre jeweiligen Bedenken auf den Tisch legen und durch ihre eigenen Einwände widerlegen. Nun ist er an der Reihe. Verlässt er seinen Sockel, um sich in den politischen Kampf zu stürzen? Oder behält er seine moralische Autorität als Verkörperung eines Traums auch auf Kosten der sofortigen politischen Effizienz? Nach seiner Körpersprache und seinen Äußerungen, z.B. bei seiner West-Point-Rede zu Afghanistan, zu urteilen, ist sich Barack Obama selbst nicht sicher, welchen Weg er beschreiten wird.


Dick Howard (* 1943) lehrt politische Philosophie an der State University of New York in Stony Brook.
rhoward@ms.cc.sunysb.edu

Aus dem Englischen von Julia Máté.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2010, S. 13-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. März 2010