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BERICHT/055: Bildung in Deutschland - Dynamiken und Herausforderungen (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2014 - Nr. 107

Bildung in Deutschland - Dynamiken und Herausforderungen

Von Marcus Hasselhorn und Hans-Peter Füssel



Der Bericht "Bildung in Deutschland 2014" belegt eine positive Entwicklung: Zwischen 2006 und 2012 wurden in Deutschland mehr und höhere Bildungsabschlüsse erreicht. Dennoch sieht die Autorengruppe Bildungsberichterstattung in fünf Bereichen Verbesserungsbedarf, etwa bei den Ganztagsangeboten oder der Inklusion.


Im Juni 2014 hat die Autorengruppe Bildungsberichterstattung (siehe Infokasten) im Auftrag von Bund und Ländern den nunmehr fünften Bericht über den Stand der Bildung in Deutschland vorgelegt. Der Bericht bezieht sich auf alle Bildungsbereiche von der Familie über die frühkindliche Bildung, die Schulbildung, die berufliche Ausbildung, die Hochschulbildung bis hin zur Weiterbildung. Er basiert auf einem Bildungsverständnis, das die individuelle Ebene ebenso einschließt wie die gesellschaftliche, das sich am Leitgedanken von "Bildung im Lebenslauf" orientiert und einem stringenten empirischen Indikatorenansatz auf der Basis amtlicher Daten folgt. Durch die Verwendung von Indikatoren, wie zum Beispiel Aussagen über die Bildung in der Familie oder Übergänge und Wechsel im Schulwesen, können systematische und wiederholbare Informationen gewonnen werden.


Die Bildungsbeteiligung steigt, aber noch immer bestehen herkunftsbedingte Unterschiede

Bei den übergreifenden Ergebnissen, die der Bildungsbericht enthält, lässt sich im Vergleich zu den Vorjahren ein hoffnungsvoller Wandel im Bildungsverhalten der Bevölkerung feststellen. Die Beteiligung an Bildung steigt deutschlandweit. Sie ist besonders stark ausgeprägt bei den unter 3-Jährigen: Hier stieg die Quote der Beteiligung an institutioneller Bildung zwischen 2006 und 2013 von 13,6 auf 29,3 Prozent. Diese Steigerung kommt insbesondere dadurch zustande, dass sich die Bildungsbeteiligung der 2-Jährigen in diesem Zeitraum von 26,6 auf 53,9 Prozent verdoppelte.

Aber nicht nur die Bildungsbeteiligung, sondern auch die Qualität der erreichten Bildungsabschlüsse verbesserte sich. Dies belegt der deutliche Trend zu höheren Schulabschlüssen: So sank zwischen 2006 und 2012 die Quote derjenigen ohne regulären Schulabschluss von 8,0 auf 5,9 Prozent, während im gleichen Zeitraum der Anteil derjenigen mit einem mittleren Schulabschluss von 46,2 auf 53,6 Prozent und die Quote derer mit einer allgemeinen Hochschulreife gar von 29,6 auf 42,3 Prozent anstieg.

Bei all dieser positiven Dynamik darf jedoch nicht übersehen werden, dass nach wie vor große herkunftsbedingte Unterschiede bezüglich Bildungsbeteiligung und Bildungserfolg bestehen. Dies belegen Daten des Nationalen Bildungspanels (NEPS), das deutschlandweit Bildungsprozesse und Kompetenzentwicklung von der frühen Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter untersucht. Demnach finden sich schon vor dem Eintritt in die Schule sehr deutliche Unterschiede in der Nutzung von Bildungsangeboten zwischen den Kindern von Eltern mit hoher Schulbildung und solchen mit niedrigerer Schulbildung. Der Einstieg Jugendlicher aus Zuwanderungsfamilien oder aus Familien mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit in eine der regulären Formen der beruflichen Bildung (im Dualen System oder im Schulberufssystem) gelingt im Vergleich zum Einstieg Jugendlicher deutscher Herkunft immer noch deutlich seltener (53,5 gegenüber 75,6 Prozent). Und immer noch sind ein Drittel der jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund mit Anfang 30 ohne beruflichen Abschluss, während dies nur auf ein Zehntel der jungen Erwachsenen ohne Migrationshintergrund zutrifft.

Vor dem Hintergrund dieser durchaus positiven Entwicklungen bei gleichzeitigem Weiterbestehen von Problemlagen identifiziert die Autorengruppe des Bildungsberichts fünf zentrale Handlungsfelder beziehungsweise Herausforderungen für das Bildungswesen in Deutschland.

Das erste Handlungsfeld ist eine Qualitätsoffensive in der frühkindlichen Bildung. Der quantitative Ausbau des frühkindlichen Bildungsangebots - insbesondere auch im Bereich der unter 3-Jährigen - ist in den letzten Jahren weitgehend erfolgreich gelungen. Nun bedarf es einer Diskussion um die Qualität der frühkindlichen Bildung und darauf bezogener Standards. Diese sollten sich nicht nur auf institutionelle Ressourcen wie die Qualifikation des Personals oder den Personalschlüssel beziehen, sondern auch auf die Frage, welche pädagogischen Konzepte dafür geeignet sind, frühzeitig herkunftsbedingten Ungleichheiten entgegenzuwirken.

Die zweite Herausforderung sind fehlende Standards für Ganztagsangebote in Schule und Hort. Unabhängig von der Frage, ob in offener oder gebundener Form, also freiwillig oder verpflichtend, werden Ganztagsangebote im Schulbereich in Deutschland zukünftig eher die Regel als die Ausnahme sein. Dadurch wird eine Diskussion über Gestaltungskonzepte und schultyp- sowie regionenübergreifende Standards für Ganztagsangebote immer dringlicher. Die Autorengruppe Bildungsberichterstattung benennt einige Voraussetzungen dafür, dass in dieser Diskussion tragfähige und erfolgreiche Standards gefunden werden. Dazu gehören die Verständigung über das zukünftige Verhältnis der Schularten und Bildungsgänge des allgemeinbildenden Schulwesens ebenso wie die systematische Einbeziehung außerschulischer Akteure (zum Beispiel Vereine, die Jugendhilfe oder Musikschulen).


Fast die Hälfte der Hauptschulabsolventinnen und -absolventen beginnt nach dem Abschluss keine Ausbildung

Das dritte Handlungsfeld ist der Übergang von der allgemeinbildenden Schule zur Berufsausbildung. Noch immer treten 43 Prozent der Absolventinnen und Absolventen von Hauptschulen nach ihrem Schulabschluss keine Berufsausbildung an, sondern verbleiben im sogenannten Übergangssystem, das aus berufsvorbereitenden Angeboten wie dem Berufsvorbereitungsjahr besteht. Weitere Verbesserungen von Berufsorientierung und -vorbereitung in allgemeinbildenden Schulen sowie institutionelle Kooperationen entlang der ganzen Prozesskette von der Sekundarstufe I, den weiterführenden Schulen, in eine vollqualifizierende Berufsausbildung scheinen daher unerlässlich zu sein. Dabei gilt es, institutionenübergreifende Gestaltungskonzepte und stabile Koordinationsformen zwischen allgemeinbildenden und beruflichen Schulen, zwischen freien Trägern, Arbeitsagenturen und Betrieben zu vereinbaren.

Die vierte Herausforderung besteht im Verhältnis von beruflicher Bildung und Hochschulbildung. Inzwischen beginnen deutlich mehr junge Menschen ein Hochschulstudium als eine Berufsausbildung. Erstmals waren im Jahr 2013 mehr Zugänge in der Hochschulausbildung als im Dualen System der beruflichen Bildung festzustellen. Dies birgt die Gefahr einer dysfunktionalen Konkurrenz zwischen diesen beiden Sektoren bei gleichzeitig rückläufigen Zahlen von Schulabgängerinnen und Schulabgängern. Hier gilt es Überlegungen anzustellen, wie eine institutionelle und curriculare Flexibilisierung beider Ausbildungssysteme und eine Erhöhung der Durchlässigkeit zwischen ihnen erreicht werden können (zum Beispiel durch die Anerkennung von an Hochschulen erworbenen Creditpunkten im Dualen System).

Das fünfte Handlungsfeld schließlich ist die Inklusion. Bund und Länder haben sich verpflichtet, das Bildungssystem in Deutschland im Sinne des Art. 24 der UN-Behindertenrechtskonvention so weiterzuentwickeln, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Zugang zu einem inklusiven und hochwertigen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen oder in Ganztagsschulangeboten haben. Diese Verpflichtung trifft in Deutschland auf ein historisch gewachsenes Bildungssystem, das versucht, die optimale Förderung von Menschen mit Behinderungen durch institutionelle Differenzierung zu erreichen. Trotz erfolgreichen Bemühens in den Bundesländern, den Anteil von integrativen Schulen in jüngster Zeit deutlich zu erhöhen, ist die Förderschulbesuchsquote kaum zurückgegangen. Insbesondere im Schulbereich gilt es zu klären, wo welche Schülerinnen und Schüler inkludiert werden, wo Sondereinrichtungen für temporären oder auch dauerhaften Besuch beibehalten werden sollten und wie und in welchen Schritten die Umsetzung erfolgen soll.


DIE AUTOREN

Prof. Dr. Marcus Hasselhorn ist Geschäftsführender Direktor des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), Direktor der Institutsabteilung "Bildung und Entwicklung" sowie "Scientific Coordinator" und Sprecher des vom DIPF koordinierten Forschungszentrums IDeA (Center for Research on Individual Development and Adaptive Education of Children at Risk). 2007 wurde er auf die Professur für "Psychologie mit dem Schwerpunkt Bildung und Entwicklung" am DIPF und an der Goethe-Universität Frankfurt am Main berufen. Zuvor war der Entwicklungspsychologe unter anderem Professor in Göttingen und Dresden. Marcus Hasselhorn ist Sprecher der Autorengruppe Bildungsberichterstattung für den Bildungsbericht 2014.
Kontakt: hasselhorn@dipf.de

Prof. Dr. Hans-Peter Füssel ist Mitarbeiter am DIPF in der Abteilung "Struktur und Steuerung des Bildungswesens". Der Jurist hatte zudem von 2007 bis zum Ende des Wintersemesters 2013/14 eine Professur für "Steuerungsprobleme moderner Bildungssysteme" an der Humboldt-Universität zu Berlin inne.
Kontakt: fuessel@dipf.de


INFOKASTEN
  Die Autorengruppe Bildungsberichterstattung

Der Bericht "Bildung in Deutschland" wird seit 2006 alle zwei Jahre von Bund und Ländern in Auftrag gegeben, um die Veränderungen und Herausforderungen des deutschen Bildungswesens von der frühkindlichen Bildung bis zur Weiterbildung im Erwachsenenalter zu untersuchen. Der Bericht wird unter Federführung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) von einer unabhängigen Autorengruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorgelegt, die ihn gemeinsam mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erstellen. Der diesjährigen Autorengruppe gehörten folgende Personen an: Prof. Dr. Marcus Hasselhorn (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, DIPF; Sprecher), Prof. Dr. Martin Baethge (Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen an der Georg-August-Universität, SOFI), Prof. Dr. Hans-Peter Füssel (DIPF), LRD Heinz-Werner Hetmeier (Statistisches Bundesamt, Destatis), Prof. Dr. Kai Maaz (DIPF), Prof. Dr. Thomas Rauschenbach (Deutsches Jugendinstitut, DJI), Prof. Dr. Ulrike Rockmann (Statistische Landesämter, StLÄ), Prof. Dr. Susan Seeber (Universität Göttingen), Prof. Dr. Horst Weishaupt (DIPF), Prof. Dr. Andrä Wolter
(HU Berlin/Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung, DZHW)


DJI Impulse 3/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2014 - Nr. 107, S. 4-6
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos bestellt und auf Wunsch auch abonniert werden unter vontz@dji.de.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2014