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DISKURS/004: Welches Bildungssystem braucht die Einwanderungsgesellschaft? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2010

Welches Bildungssystem braucht die Einwanderungsgesellschaft?

Von Lale Akgün


In der Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Einwandererfamilien wurden in den letzten Jahren punktuell einige Fortschritte erzielt. Dennoch ist der Bildungserfolg von Migrantenkindern weiterhin dramatisch gering. Für die Kohäsion in einer Einwanderungsgesellschaft der Zukunft ist es daher dringend erforderlich, auch die strukturellen Defizite zu beseitigen.


Das deutsche Schulsystem ist für die Einwanderungsgesellschaft dysfunktional. Zu dieser gleichermaßen bestürzenden wie weit reichenden Erkenntnis kommt nicht nur Georg Auernheimer, bis 2006 Professor für Interkulturelle Pädagogik an der Universität Köln, sondern kommt jeder, der die Pisa 2000-Studie oder die Daten des Statistischen Bundesamtes zu den Schulabschlüssen von Kindern aus Einwandererfamilien zur Hand nimmt. Der Bildungserfolg der "Migrantenkinder" ist dramatisch gering, sie fallen allzu oft durch die Maschen des Systems - diese Tatsache gehört, zehn Jahre nach der ersten Pisa-Studie, zum Common Sense. Ebenso wie die Erkenntnis, dass die Gründe für das Schulversagen der Kinder aus Einwandererfamilien nicht in deren kulturellem Hintergrund, sondern in der sozialen Selektivität unseres Bildungssystems zu verorten sind.

Allgemein akzeptiert ist auch, dass wir angesichts der demografischen Entwicklung dringend etwas gegen diese Selektivität unternehmen müssen. Heute bestreitet kaum noch jemand, dass wir in einer Einwanderungsgesellschaft leben. Im Jahre 2030, wenn die heute 12-Jährigen in der Mitte ihres Lebens stehen, werden sie in einer Fifty-Fifty-Gesellschaft leben, was das Verhältnis von Eingewanderten und Einheimischen anbelangt. Von Minderheiten und Mehrheit wird dann, auch angesichts der Tatsache, dass wir in Zukunft mehr, und nicht weniger Einwanderung brauchen, nicht mehr die Rede sein können. Die Weichen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Fifty-Fifty-Einwanderungsgesellschaft werden im Bildungssystem gelegt. Bildung ist und bleibt die wichtigste Ressource für die Integration - so viel ist also klar.


Fortschritte gibt es

Angesichts der vielfältigen Maßnahmen, die im Zuge der Debatte um die Pisa-Ergebnisse unternommen wurden, könnte man nun fragen, wo eigentlich das Problem liegt? Haben nicht Bund, Länder und Kommunen, genauso wie einzelne Schulen und Lehrer, bereits viel unternommen, um die Entkoppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg im deutschen Bildungssystem zu erreichen? Tun sie nicht schon ihr Bestes, um Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien besonders zu fördern?

Tatsächlich: Die sprachliche Frühförderung in Kindergarten, Vorschule und Schule ist ausgebaut und verbessert worden. Alle Bundesländer haben mittlerweile Rahmenrichtlinien für die interkulturelle Bildung erstellt, die Länder fördern die Einstellung von Lehrkräften mit Migrationshintergrund, die interkulturelle Kompetenz der Lehrer wird gestärkt, viele Schulen arbeiten an der Erstellung interkultureller Leitbilder. Schulen arbeiten verstärkt mit Migrantenorganisationen und enger mit den Eltern zusammen. Es sind Projekte wie "Mama lernt Deutsch" entstanden. Vielerorts gibt es Modellversuche für einen wissenschaftlich fundierten Islamunterricht. Schließlich ist in der vergangenen Legislaturperiode der Rechtsanspruch auf einen Hauptschulabschluss eingeführt und bereits zuvor ein Ganztagsschulprogramm aufgelegt worden. Alles in Butter, könnte man also denken.


"Minimax-Gesellschaft"

Sind wir auf dem richtigen Weg? Ja und Nein. Ja, denn Vieles von dem, was Schulen, Lehrer, Eltern, Kommunen, Länder und Bund auf den Weg gebracht haben, geht in die richtige Richtung. Es sei in diesem Zusammenhang auch angemerkt, dass - bei allen Systemdefiziten - nicht nur in den letzten zehn Jahren, sondern bereits seit den 60er Jahren, also in den letzten Jahrzehnten, die von einer "Realitätsverleugnung" in Sachen Einwanderungsgesellschaft geprägt waren, Schulen und Lehrer riesige Integrationsleistungen erbracht haben.

Aber so gut gemeint und so sinnvoll die einzelnen Maßnahmen sind - die wesentlichen Defizite des Bildungssystems können sie nicht beheben. Denn die fehlende Chancengleichheit liegt nicht im mangelnden Wollen oder Können einzelner Schulen oder einzelner Lehrer begründet. Weder Schüler noch Lehrer sind daran schuld. Schon gar nicht ist der Islam dafür verantwortlich - auch wenn einige sich das wünschen würden.

Soziale Selektion und institutionelle Diskriminierung bestehen weiter fort, weil sie in der Struktur des Systems begründet liegen.

Diese beiden großen strukturellen Defizite bestehen weiterhin, weil wir als Gesellschaft aufgehört haben, uns über die großen, das heißt die grundlegenden und strukturellen, Fragen zu verständigen. Die Wirkung all der guten Einzelmaßnahmen muss verpuffen, weil sie nicht auf den fruchtbaren, sondern auf den verkrusteten Boden des überkommenen Systems fallen.

Die erste große Frage lautet, in welcher Gesellschaft, das heißt in welcher Einwanderungsgesellschaft wir leben wollen. Dabei geht es nicht nur um das Negativszenario einer ethnisch, religiös und sozial zerklüfteten Gesellschaft. Auch wie eine Einwanderungsgesellschaft im Positiven aussehen soll, welche Rolle Sprache, Kultur, Religion und soziale Gerechtigkeit jeweils spielen und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen sollen - das ist, auch im internationalen Maßstab, in Einwanderungsgesellschaften höchst unterschiedlich definiert.

Die deutsche Einwanderungsgesellschaft des Jahres 2030 sollte m.E. eine sein, die durch ein hohes Maß an sozialer Kohäsion und Integration, gepaart mit einem hohen Grad an kultureller, religiöser und lebensweltlicher Heterogenität, geprägt ist. Ideelle Grundlage des Zusammenlebens würde ein herkunfts- und kulturübergreifendes Wir-Gefühl auf der Basis eines lebendigen Verfassungspatriotismus sein.

Ich nenne diese Gesellschaft gerne die "Minimax-Gesellschaft". Dies ist eine Gesellschaft, in der minimale soziale Unterschiede zwischen den Menschen bestehen und maximale kulturelle Unterschiede als Bereicherung begriffen werden. Dies ist eine Gesellschaft, in der es sehr wohl horizontale Differenzen in den Bereichen Kultur und Lebensweise gibt, in der aber die vertikalen Differenzen in Bezug auf den sozialen Status und die wirtschaftlichen Ressourcen so gering wie möglich gehalten werden.

Eine Bildungspolitik für die Minimax-Gesellschaft, die es schaffen will, soziale Unterschiede einzuebnen, die Chancen des Einzelnen in der Gesellschaft zu maximieren und gleichzeitig kulturelle, sprachliche und religiöse Selbstbestimmung auf der Grundlage des geteilten Verfassungspatriotismus zu fördern, muss sich an den Grundsätzen Gleichheit und Anerkennung orientieren. Damit sind sowohl die Grundsätze einer interkulturellen Pädagogik als auch eines Programms der gesamtgesellschaftlichen Integration in der Einwanderungsgesellschaft beschrieben. Um Gleichheit und Anerkennung zu realisieren, brauchen wir vor allem eines: strukturelle Reformen im Bildungssystem; und zwar weit reichende.


Soziale Gleichheit und Kultur der Anerkennung

Die erfolgreichen Pisa-Länder zeigen uns, wie solche Bildungssysteme konkret aussehen können. Eine verpflichtende Vorschule ab dem 2. Lebensjahr, in welcher der Erwerb der Landessprache und die Einübung kultureller Praktiken möglich sind. Ein Anspruch für zweisprachig aufwachsende Kinder auf bilinguale Alphabetisierung, gemeinsames Lernen mindestens bis zur 9. Klasse und ein flächendeckendes Ganztagsschulsystem. Das sind wichtige Merkmale des schwedischen und norwegischen Schulsystems, die laut Georg Auernheimer dazu führen, dass beide Länder, was den Schulerfolg und das Leistungsniveau anbelangt, weit vor der Bundesrepublik Deutschland liegen. Zudem lernen Kinder in beiden Ländern sehr viel länger gemeinsam und damit werden nicht nur die schwachen und durchschnittlichen Schüler, sondern auch die Leistungsstarken besser gefördert.

Nun ist es bekanntlich nicht möglich, Bildungssysteme einfach zu kopieren. Aber der Vergleich mit den Skandinaviern macht sehr deutlich, was wir auch in Deutschland brauchen: nicht mehr und nicht weniger als den Abschied vom dreigliedrigen Schulsystem und die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen. Wir brauchen mehr und längeres gemeinsames Lernen, mehr Vorschulen, mehr und bessere bilinguale Sprachförderung. Damit sind die grundlegenden Parameter einer Strukturreform beschrieben, mittels derer es gelingen könnte, die Mittelschichtlastigkeit des deutschen Bildungssystems endlich zu überwinden. Ein "Ja" zu mehr Gleichheit im Bildungssystem der Einwanderungsgesellschaft muss ein "Ja" zur Strukturreform bedeuten. Erst hierdurch werden auch Maßnahmen aus dem Bereich der Anerkennung, also der Förderung von sprachlicher, kultureller und religiöser Heterogenität wirklich greifen können. Nur durch neue Strukturen, die institutionelle Diskriminierung überwinden, kann der notwendige, fruchtbare Boden geschaffen werden, auf dem die interkulturelle Öffnung des Schulsystems ihre nachhaltige Wirkung entfaltet.

Soziale Gleichheit und kulturelle Anerkennung. Und von beidem so viel wie möglich - auf dem Boden des Grundgesetzes. So lauten, auf eine kurze Formel gebracht, die Anforderungen an das Bildungssystem einer Einwanderungsgesellschaft. Wenn es denn eine Einwanderungsgesellschaft sein soll, die sich durch soziale Gerechtigkeit und Kohäsion ebenso auszeichnet wie durch kulturelle Freiheit.

Sicher, größtenteils sind wir schon auf dem richtigen Weg. Aber es reicht eben nicht. Den strukturellen Defiziten unseres Bildungssystems kommen wir nur durch eine radikale Strukturreform nach skandinavischem Vorbild unter den Prämissen von Gleichheit und Anerkennung bei.

Einwanderung, Multikulturalität und Globalisierung aktualisieren dabei zu einem Gutteil nur die alte Forderung nach der großen egalitären Bildungsreform, die schon seit den 70er Jahren eingeklagt wird. Ja, der Ruf nach dieser Reform ist uralt. Aber deshalb verliert er noch lange nicht an Gültigkeit. Im Gegenteil!

Lale Akgün (* 1953) war bis 2009 SPD-MdB. Im Krüger Verlag erschien 2008: Tante Semra im Leberkäseland: Geschichten aus meiner türkisch-deutschen Familie.
lale_akguen@hotmail.com


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2010, S. 40-42
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. April 2010