Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → BILDUNG

FRAGEN/002: Die soziale Seite der Bildung - "Mittlere Reife ist die Mindestkompetenz" (DJI)


DJI Bulletin 2/2010, Heft 90
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Die soziale Seite der Bildung
»Mittlere Reife ist die Mindestkompetenz«


Der Göttinger Soziologe Martin Baethge über die Bildungsdefizite junger Menschen in Deutschland, das notwendige Umdenken bei der Berufsausbildung und die Arbeitswelt von morgen


DJI: Herr Professor Baethge, die hochindustrialisierten Länder befinden sich im Übergang von der Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft. Eine Vielzahl von flexiblen Arbeitsformen entsteht. Die Arbeitswelt wird unsicherer. Wie können junge Menschen darauf vorbereitet werden?

BAETHGE: Eine gute Bildung ist auch in Zukunft die wichtigste Voraussetzung für Arbeit und gesellschaftliche Teilhabe. Wer gut ausgebildet und bereit ist, sich weiterzubilden, kann von den Entwicklungen sogar profitieren. Der demografische Wandel und eine steigende Nachfrage nach Fachkräften sind ja bereits Realität, auch wenn der Bedarf an jungen Arbeitskräften je nach Region und Berufsfeld sehr unterschiedlich ausfällt.

DJI: Früher hieß es immer, eine Berufsausbildung sei die Garantie für einen Arbeitsplatz. Was bedeutet für Sie »gute Bildung«?

BAETHGE: Wir müssen die jungen Menschen darauf vorbereiten, dass sie nicht mehr lebenslang einen einzigen Beruf ausüben werden. Es muss die Perspektive gelten, auf breite Berufsfelder statt auf spezielle Berufe auszubilden. Zudem müssen wir den Jugendlichen ein anderes Wissen über Entwicklungsdynamiken auf dem Arbeitsmarkt mitgeben. Denn sie müssen in der Lage sein, nicht nur auf Veränderungen zu reagieren, sondern diese auch selbst mitzugestalten. Selbstqualifizierung und Weiterbildung werden künftig eine große Rolle spielen.

DJI: Sie meinen, wir werden alle zu Arbeitsnomaden, die zwischen verschiedenen Tätigkeitsfeldern, Beschäftigungsformen und Weiterbildungsangeboten hin- und herpendeln?

BAETHGE: Nein, zumindest wäre das eine ganz fatale Entwicklung. Denn eines muss jedem Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft klar sein: Es gibt auch ein Zuviel an Flexibilität - und das gilt insbesondere für Dienstleistungsberufe, in denen heute bereits etwa 80 Prozent der Menschen in Deutschland beschäftigt sind und in denen künftig noch mehr arbeiten werden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es macht doch wenig Sinn, wenn eine Erzieherin ständig die Einrichtung wechselt oder nur stundenweise angestellt ist. Denn sie kann keine kontinuierliche Beziehung zu den Kindern aufbauen, und das geht zu Lasten der Kinder. Ähnliches gilt auch für Pflegeberufe.

DJI: Ausgerechnet in den sozialen Berufen ist allerdings ein verstärkter Trend erkennbar, dass Fachkräfte nur noch befristet oder in Teilzeit angestellt werden.

BAETHGE: Die Arbeitsbedingungen in der Erziehungs-, Gesundheits- und Pflegebranche sind in der Tat ein großes Problem. Ebenso müssen die Berufsausbildungen in deren verschiedenen Tätigkeitsfeldern verbessert werden. Denn schon jetzt nehmen - auch in der Krise - die offenen Stellen zu. Der Nationale Bildungsbericht 2010 zeigt, dass der Anteil der Menschen, die mit dem »Dienst am Menschen« ihr Geld verdienen, bis 2025 noch weiter expandieren wird. Spätestens von 2014 an werden deutliche Mängel in den Sozial- und Gesundheitsdienstberufen entstehen - in jenen, die Hochschulabschluss erfordern, aber auch in jenen, die eine Qualifikation unterhalb des Hochschulniveaus voraussetzen. Überraschend sind demgegenüber die relativ geringen Zuwächse bei den technisch-naturwissenschaftlichen Berufen, die in der öffentlichen Diskussion der vergangenen Jahre und auch heute eher im Zentrum standen und stehen.

DJI: Das Gesundheits- und Sozialwesen wird oft als der Jobmotor der Zukunft gepriesen. Gerade in diesen Wachstumsbranchen ist die Bezahlung aber eher schlecht.

BAETHGE: Das gilt nicht generell. Es kommt darauf an, in welcher Relation man das sieht. Krankenpfleger und Krankenschwestern gehören im Vergleich zu ähnlich qualifizierten Fachkräften anderer Branchen sogar zum oberen Viertel, wenn es um das Gehalt geht. Sie werden also in dieser Relation nicht schlecht bezahlt, und sie haben eine größere Arbeitsplatzsicherheit als eine ganze Reihe anderer gewerblicher Fachkräfte ...

DJI: ... und schlechtere Arbeitszeiten.

BAETHGE: Das stimmt. Wenn wir nicht zu anderen Organisationsformen kommen, die auch den Menschen - und es sind ja vor allem Frauen betroffen - in sozialpflegerischen Berufen normale kulturelle und soziale Teilhabe ermöglichen, werden wir die Stellen nicht besetzen können. Es geht dabei vor allem darum, intelligente Lösungen zu entwickeln, wie professionalisierte Gesundheitsdienste mit familiengebundenen Tätigkeitsprofilen verbunden werden können. Gerade in der Pflege kann durch eine professionelle Anleitung von Familienangehörigen oder geringer Qualifizierten viel erreicht werden. Es müssen also auch neue Berufsbilder und Ausbildungen geschaffen werden.

DJI: Sie fordern im Bildungsbericht 2010 einen Ausbau der schulischen Berufsausbildungen. Passt das duale Berufsbildungssystem, in dem einzelne Betriebe selbst ausbilden, nicht mehr in unsere Zeit?

BAETHGE: So pauschal kann man das nicht sagen. Im Bildungsbericht fordern wir verstärkte schulische Ausbildungsanstrengungen, weil viele Sozial- und Gesundheitsdienstberufe traditionell schulisch ausgebildet werden. Wir sagen nichts gegen die duale Ausbildung. Es geht nicht um Betrieb oder Schule, sondern um mehr theoretische Lernanteile und breitere Ausbildungscurricula. Die jungen Menschen sollten nicht auf einen speziellen Beruf festgelegt werden, sondern sich breitere berufliche Grundlagen aneignen können, die sie später noch spezialisieren können.

DJI: Bereitet die Schule ausreichend auf die anspruchsvoller werdende Ausbildungswelt vor?

BAETHGE: Nein, aus meiner Sicht nicht. Damit die jungen Menschen in der veränderten Ausbildungswelt bestehen können, ist es notwendig, ihr kognitives Niveau anzuheben - wenigstens auf den Mittleren Schulabschluss. Die Mittlere Reife ist für mich heute die Mindestkompetenz. Falls Jugendliche diese nicht auf Anhieb erreichen, sollten sich Arbeits- und Lernphasen künftig abwechseln. Das heißt, die jungen Leute müssen notfalls sukzessiv an den mittleren Abschluss herangeführt werden, auf dem sie dann weiter beruflich aufbauen können. Denkbar ist auch, dass es nicht nur einen einheitlichen Abschluss für einen Beruf gibt, sondern differenzierte Lehrabschlüsse, die leistungsschwachen Schülern einerseits den beruflichen Einstieg ermöglichen, ihnen andererseits aber auch die Chance bieten, später einen neuen Lernabschnitt anzuhängen, um sich nach und nach weiter zu qualifizieren.

DJI: Sie sprechen von tiefgreifenden Umwälzungen.

BAETHGE: In der Tat, aber dieser Umbruch im Ausbildungssystem ist im Interesse von Jugendlichen und Wirtschaft überfällig. Wir können es uns nicht leisten, junge Menschen einfach durch das Raster fallen zu lassen. Denn unsere Prognosen zeigen: Bis zum Jahr 2025 wird die Zahl der Geringqualifizierten die Nachfrage um 1,3 Millionen übersteigen. Andere Länder wie beispielsweise Dänemark machen es längst vor, wie man auch Schüler und Schülerinnen mit Förderbedarf so begleiten kann, dass sie eine Ausbildung beginnen und auch abschließen können.

DJI: In Deutschland bietet derzeit das sogenannte Übergangssystem jenen Jugendlichen eine Alternative, die nach der Schule den Einstieg in die Ausbildung noch nicht meistern.

BAETHGE: Das Hauptproblem des heutigen Übergangssystems ist, dass es nicht genügend mit dem vollqualifizierenden Berufsbildungssystem verzahnt ist. Häufig können Jugendliche später nicht auf das Gelernte aufbauen. Diese fehlende Perspektive demotiviert sie natürlich auch stark. Ein weiteres Problem ist, dass das System nicht zwischen wirklich förderbedürftigen und marktbenachteiligten jungen Menschen unterscheidet. Ziel muss es sein, das System auf diejenigen zu reduzieren, die wirklich zusätzliche Förderung benötigen, da sie mit dem Lerntempo in der Schule nicht mithalten konnten. Wenn wir es schaffen, das Übergangssystem in den nächsten zehn Jahren auf ein Drittel zu reduzieren, dann wäre das ein großer Fortschritt.

DJI: Und was soll mit den zigtausend Altbewerbern geschehen, die bislang einfach keine passende Ausbildung gefunden haben?

BAETHGE: Für sie sind in den kommenden Jahren groß angelegte Nachqualifizierungs- und Weiterbildungsprogramme notwendig - trotz der leeren Staatskassen. Denn wie soll ansonsten der Bedarf an Fachkräften gerade im mittleren Qualifikationsbereich gedeckt werden? Mehr als die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland, exakt 53 Prozent, sind heute Fachkräfte im mittleren Ausbildungssektor - und ihr Anteil wird sich bis 2025 nicht verringern.

DJI: In Deutschland sind heute etwa 900.000 junge Menschen Hartz-IV-Empfänger. Wird sich die Situation durch den demografischen Wandel entspannen?

BAETHGE: Die Zahl der Jugendlichen, die trotz eines erfolgreichen Schulabschlusses keinen Ausbildungsplatz finden, wird voraussichtlich abnehmen, da sich schlichtweg die Zahl der Bewerber und Bewerberinnen reduzieren wird. Die anderen gilt es zu fördern, damit sie nicht in die Arbeitslosigkeit rutschen. Hinzu kommt, dass es sehr starke regionale Unterschiede beim Ausbildungsangebot geben wird. Manche Jugendliche werden für ihre Ausbildung - wie schon im letzten Jahrzehnt - auch größere Entfernungen in Kauf nehmen müssen.

DJI: Früher sind viele Jugendliche aus dem Osten in den Westen abgewandert. Wird sich die Situation durch den demografischen Wandel umkehren, weil es im Osten mehr Chancen auf einen Ausbildungsplatz gibt?

BAETHGE: Die Aussichten auf einen Ausbildungsplatz werden durch den stärkeren Rückgang der Bewerber und Bewerberinnen im Osten deutlich besser. Auch Jugendliche aus Westdeutschland sollten die sich hier bietenden Chancen wahrnehmen - allerdings bin ich da nicht sehr optimistisch. Ich rechne eher damit, dass wir schon in den nächsten Jahren zunehmend Nachwuchsprobleme im Osten erhalten. Es geht ja auch um die Frage, welche weiteren beruflichen Perspektiven sich den jungen Menschen dort bieten und ob sie im Osten auch attraktive Lebensbedingungen vorfinden. Wenn betroffene Bundesländer junge Menschen aus dem Westen anlocken wollen, um ihre Wirtschaftsstandorte zu retten, reicht es also nicht aus, nur mit offenen Studien- oder Ausbildungsplätzen zu winken.

DJI: Angesichts schrumpfender Etats haben die Bundesländer beim Bildungsgipfel im Juni 2010 das gemeinsam vereinbarte Ziel infrage gestellt, ab 2015 jeden zehnten Euro vom erwirtschafteten Gesamtvermögen in Bildung und Forschung zu stecken. Sind die Herausforderungen ohne zusätzliches Geld zu meistern?

BAETHGE: Wir haben dazu keine exakten Berechnungen gemacht, können aber zeigen, dass in verschiedenen Bereichen wie der frühkindlichen Bildung, dem Übergang in Ausbildung und der Weiterbildung höhere finanzielle Mittel eingesetzt werden müssen. Fest steht: Prophylaktisch in die Qualifizierung von jungen Menschen zu investieren, ist um ein Vielfaches ökonomischer als Fachkräftemangel und gleichzeitige Arbeitslosigkeit. Wir werden vor diese Alternative gestellt. Wenn Deutschland das bereits 2008 erklärte Ziel erreicht, die jungen Menschen ohne Ausbildung bis zum Jahr 2025 von 17 auf 8,5 Prozent zu reduzieren, hätten wir viel geschafft. Es wird also auch darum gehen, das vorhandene Geld an der richtigen Stelle einzusetzen.

Interview: Birgit Taffertshofer


Professor Dr. Martin Baethge ist Präsident des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) an der Georg-August-Universität in Göttingen. Er gehört der neunköpfigen Autorengruppe an, die für den Nationalen Bildungsbericht verantwortlich ist. Außerdem ist der Soziologe Mitherausgeber mehrerer Zeitschriften zur Arbeitsmarkt- und Berufsbildungsforschung. Im Mittelpunkt seiner Forschungsarbeit stehen unter anderem die Arbeits-, Berufs- und Qualifikationsforschung (besonders im Dienstleistungssektor) sowie die Berufsbildungs und Weiterbildungsforschung im internationalen Vergleich.


*


Quelle:
DJI-Bulletin Heft 2/2010, Heft 90, S. 25-27
Herausgeber:
Deutsches Jugendinstitut e.V. (DJI)
Nockherstraße 2, 81541 München
Tel.: 089/623 06-0, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de/bulletins

Das DJI-Bulletin erscheint viermal im Jahr.
Außerdem gibt es jährlich eine Sonderausgabe in
Englisch. Alle Hefte sind kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2010