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HOCHSCHULE/1518: Universität konstruktiv gestalten (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1 - 2010

Universität konstruktiv gestalten

Von Gabriele Gien


"Ganz Ohr" war im November das Motto der Hochschulleitung rund um den Bildungsstreik, bei dem auch in Eichstätt Studierende Forderungen aufstellten. Doch statt Konfrontation gab es - schon lange vor dem Streik - Kommunikation, so dass erste Änderungen bereits auf dem Weg sind.


Während an fast allen deutschen Universitäten und in den Bildungsinstitutionen der Nachbarländer die Bildungsstreiks über mehrere Tage und Wochen andauerten, haben wir an der KU das "Kommunikationsproblem" Bologna bereits vor einem Jahr erkannt und begonnen, empirisch begleitete Kommunikationsprozesse mit den Studierenden zu initiieren, so dass dort - anstelle eines Streikes - die Initiative "Ganz Ohr" öffentlich und konstruktiv fortgeführt und umgesetzt werden konnte. Dabei gestalteten und gestalten nicht nur Studierende untereinander, sondern auch Studierende mit Dozierenden, Akteuren verschiedener Standorte, FH und Uni, Fakultäten untereinander in gemeinsamen Arbeitsgruppen Universität und Bologna nach ihren Vorstellungen. Sie sind so Mit-Akteure und verantwortungsvoll Handelnde in einem Prozess, der von internationalen auf nationale und standortspezifische Arbeits- und Lernbedingungen einwirkt.

Im Folgenden soll kurz skizziert werden, zu welchen Ergebnissen und "Bolognaformatierungen" wir auf der Grundlage empirisch begleitender Untersuchungen, Diskussionen und daraus resultierenden Handlungen gekommen sind. Neben einer qualitativ-quantitativen Studie mit 1000 Studierenden zu Kriterien exzellenter Lehre wurde eine Untersuchung zu Lehr-/Lernprozessen in den modularisierten Studiengängen der KU mit 1.200 Studierenden durchgeführt (z.B. Workloaderhebungen, Nachhaltigkeit, zeitl. Belastung), deren Auswertung in Teilbereichen abgeschlossen ist. Wer mehr als zehn Stunden am Tag in einer Institution verbringt, möchte diese mitgestalten und Universität nicht nur als Lern-, sondern auch als Lebensraum sehen. In einer ersten Befragung der Studierenden vor Ort wurden "ideale Faktoren" der Lernumgebung nach ihrer Wichtigkeit und nach der Umsetzung am eigenen Standort abgefragt und sollen nun schrittweise implementiert werden. Ein erstes Zeichen des "Lebensraumes" Universität setzt die Hochschulleitung, indem sie den Studierenden den schönsten Raum im Kapuzinerklosters als "Studi-Haus" zur Verfügung stellt, an das ein Mutter/Vater/Kind-Café mit geschütztem Spielraum angegliedert sein wird und so die KU noch familienfreundlicher wird. Im Zentrum der Ausbildung soll "das Studienziel" Persönlichkeit stehen. Dazu gehören Betreuungsangebote wie Schreibwerkstatt und zentrale Beratungen, z.B. bei Prüfungsangst, aber auch kognitiv entlastende Angebote wie "Theaterworkshops", Poetry Slams oder Creative Writing Courses sowie die Möglichkeit, soziales, studienbezogenes Engagement zu einem Teil in Creditpoints einzubringen (z.B. Leseprojekte mit Migrationskindern). Fast alle der lebensraumgestaltenden und sozialfördernden Angebote werden von den Studierenden selbst umgesetzt und zum Teil auch aus Studiengebühren finanziert. Um den Erstsemestern den Einstieg auch sozial zu erleichtern haben sich Patenschaften und Sprachtandems gebildet.

Im Zuge der Modularisierung war es uns bislang noch nicht konsequent gelungen, ausgehend von fachlichen, nationalen und europäischen Qualifikationsrahmen Kompetenzen zu formulieren und gleichzeitig Bildungsinhalte so zu reduzieren, dass tatsächlich ein prozesshafter Erwerb von Kompetenzen möglich ist. Aus diesem Grund haben wir an der KU ein fachunabhängiges Bolognateam aus Studierenden, Dozierenden und Externen (künft. Arbeitgebern) eingesetzt, die die einzelnen Fächer (auf Wunsch) bei der Neugestaltung der Module beraten. Formulierungsempfehlungen der Arbeitsgruppe wurden im Februar vom Senat einstimmig befürwortet und sollen bis spätestens zum Wintersemester greifen. Gerade im Bereich der Wahlmodule kreieren Studierende mehr forschungsbasierte oder anwendungsbezogene Wahlmodule selbst, häufig auch eingebunden in soziales Engagement.

In diesem Kontext werden auch lange tradierte "Veranstaltungstypen" wie die Einführungsveranstaltungen auf den Prüfstand gestellt, die gerade in den ersten beiden Semestern einen Großteil der (inhaltslastigen) Veranstaltungen ausmachen. Innerhalb der empirischen Untersuchungsreihe "Bologna" wurde die "Nachhaltigkeit" solcher Überblicksveranstaltungen überprüft - mit dem erschreckenden Ergebnis, dass dort "Gelerntes" kaum länger als ein Semester behalten wird (ausgenommen sind die eher methodenbasierten Einführungen). Aus diesem Grund "experimentieren" gerade einige Fächer mit Basisveranstaltungen, die durch grundlegende Problem-/Fragestellungen faszinieren, in denen Studierende Fragen stellen und nicht nur auf Antworten des Dozenten warten. Diese Seminare haben Studierende "Porsche - Seminare" genannt, hier soll man auf den Geschmack kommen, das Fahrgefühl genießen und nicht Handbücher auswendig lernen. Gleichzeitig werden dort grundlegende Kompetenzen wie problemlösendes Denken, Recherchieren, im Team arbeiten, etc. an exemplarischen Fragestellungen, und Inhalten angebahnt. Dazu gehört auch das Einbinden in forschungsbezogene Fragestellungen und Projekte von Anfang an.

Wer jeden Tag acht bis zehn Stunden in Veranstaltungen verbringt, benötigt Rhythmisierungen bei den Veranstaltungsformaten. Neben Vorlesung, Übungen und traditionellen Seminaren (oft referatsbasiert), sollen Teamteaching-Projekte, Vorlesungen mit onlinebasierten Diskussionen, virtuelle Seminare, Projektveranstaltungen Studierende nicht nur geistig, sondern auch körperlich in Bewegung bringen. Um auch das Repertoire der Dozierenden anzureichern gibt es eine KU-Bolognareihe mit Inputreferaten und "Best-Practice" Beispielen. Auftakt dazu ist ein Bologna-Tag, der im Lauf des Sommersemesters stattfinden wird.

Um den individuellen Neigungen und persönlichen Profilbildungen einzelner Studierender nachzukommen werden - sofern es die Kapazitäten erlauben - Modulpools angeboten, aus denen Module ausgewählt werden können, alternativ bestimmt jedes Fach einzelne Module oder Modulbausteine, die auch mit anderen Fächern "geswitcht" werden können, um eine zu enge Führung mit wenig differenzierenden Angeboten zu verhindern. In einigen kleineren Fächern gibt es Modulkooperationen mit benachbarten Universitäten / Fachhochschulen. Auch die Möglichkeit, eine vorgegebene Anzahl von Vorträgen, Tagungen, mit einem begleitenden Reflexionsportfolio gegen Modulbausteine einzulösen, besteht - solange Profilbildung gewährleistet ist. Hier sind die Studierende bei der Auswahl der Gastdozenten oder thematischen Vorschlägen mitbeteiligt. Eine Arbeitsgruppe beschäftigt sich gerade mit der sehr offenen Variante des "Build your own Bachelor", der erst im Laufe des Studiums an Profilierung uns Spezialisierung gewinnt.

Ein Hauptkritikpunkt der streikenden Studierenden war die hohe zeitliche Belastung durch Anwesenheitspflicht, Vor- und Nachbereitung und die Vielzahl der Prüfungen. Da diese Fragestellungen im Kontext betrachtet werden müssen, besteht hier erhöhter Kommunikationsbedarf. Als wir ein Semester lang die angenommene "Zeit" für die Workloads im Vergleich mit der tatsächlichen untersucht haben, stellte sich heraus, dass dabei oft völlig unrealistische Einschätzungen der Arbeitszeit zugrunde lagen. So wurde bei "Lesezeiten" von der Rezeptionszeit des Dozierenden ausgegangen, Studierende brauchten aber oft bis zu einem Drittel mehr Arbeitszeit. Durch eine Rückmeldung an den Dozierenden (künftig z,B. im Rahmen der Evaluation) wird die Workloaderhebung zunehmend realistischer und die Studierenden werden entlastet. In keinem Bolognadokument ist außerdem die Rede von Anwesenheitspflicht. Wenn ein Studierender durch Ablegen und Bestehen einer Prüfung gezeigt hat, dass er die nötigen Kompetenzen erworben hat, darf ihm die Anerkennung der Note (entgegen der z. Teil vorherrschenden Praxis) nicht verwehrt werden. Da viele Module aber ein bis zwei ECTS auf "Anwesenheit" gewähren, scheint diese Lösung zum Teil paradox. Wir haben diesen Terminus nun durch Kontakt-/Selbststudium ersetzt und so ist es - bis auf Ausnahmefälle, die Anwesenheit tatsächlich erfordern - den Studierenden selbst überlassen, wie sie diese Kompetenzen erwerben. Schwierig ist es allerdings, wenn in einer Veranstaltung keine Anwesenheitspflicht besteht, aber auch keine Prüfung vorgesehen ist, daher müssen diese beiden Komponenten zusammen gedacht werden.

Im Rahmen der Evaluation wurden Studierende auch nach der Einschätzung und Präferenz verschiedener Prüfungsformen in der Relation zum eigenen Lernzuwachs befragt. Hier stellte sich an unserer Universität heraus, dass viele Studierende bei außergewöhnlicheren Prüfungsformen angaben, diese noch nicht kennengelernt zu haben. Das bedeutet, dass hier offensichtlich auch Fortbildungsbedarf für Dozenten besteht. Hier werden nun im Rahmen von Fortbildungen neue Prüfungsformen vorgestellt und diskutiert (vgl. hierzu auch die diesj. Jahrestagung des Bolognazentrums der HRK). Nimmt man die neuen Forderungen von HRK/ KMK ernst, soll pro Modul nur noch eine Prüfung stattfinden, die vor allem Kompetenzen exemplarisch abfragen soll. Um diese Forderung pragmatisch umzusetzen, ist es sinnvoll, Veranstaltungen einzelner Module nicht über zu viele Semester zu ziehen (was übrigens auch für einen Auflandsaufenthalt) ungünstig ist) und sich Gedanken darüber zu machen, wie kompetenzorientierte Prüfungsformen aussehen könnten (also nicht nur inhaltsbezogenen Multiple Choice Tests). Da Prüfungsformen sich unmittelbar auf die Struktur von Veranstaltungen auswirken, sollten sowohl die kompetenzorientierte Prüfungsform als auch die Vorbereitung auf die Prüfung und die Feedbackkultur im Kontext unterschiedlicher Veranstaltungsformate und unterschiedlicher Kompetenzniveaus reflektiert werden.

Generellen Vorrang bei allen Überlegungen sollte die Persönlichkeitsentwicklung der Studierenden als Ziel der Universitäten haben. Denn egal, welchen Beruf sie wählen, dies ist die Basis für das verantwortliche Agieren in einer globalisierten Welt. Aus diesem Grund ist es Aufgabe der Universitäten, wertebewusste Absolventen in ihr Berufsleben zu entlassen, die an der Gestaltung der Welt Anteil haben und über die notwendige Kompetenz verfügen, Verantwortung für andere und sich selbst zu übernehmen. Die Universitäten müssen deshalb ihren Studierenden Möglichkeiten anbieten, ihr Wissen durch zusätzliche Qualifikationen wie Flexibilität, Kreativität, Innovationsfähigkeit, Toleranz, etc. zu ergänzen. Es sind eben diese Befähigungen, die es Menschen erlauben, Fachwissen in ethische, globale Zusammenhänge einzubetten, daraus die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen und Verantwortung zu übernehmen. Durch unsere gemeinsamen Bestrebungen haben wir das Gefühl, dass allmählich das Wort "Muße" wieder an Bedeutung gewinnt und Dozierende und Studierende beginnen, sich (genussvoll) in Fragestellungen und Projekte zu vertiefen, an denen sie selbst grundlegendes Interesse haben und das Studium nicht nur als Verlängerung ihrer Schullaufbahn sehen. Dadurch, dass wir es geschafft haben, Bologna als Prozess zu begreifen, den wir auf der Grundlage empirischer Daten, vor allem als Kommunikationsprozess verstehen, in dem Studierende und Lehrende neue Rollen übernehmen, sehen wir den nächsten Jahren mit Zuversicht entgegen - wohl wissend, dass sich in einem Prozess fortlaufend etwas ändert.


Prof. Dr. Gabriele Gien ist seit November vergangenen Jahres Vizepräsidentin der KU für Studium und Lehre sowie seit Oktober Inhaberin des Lehrstuhls für Didaktik der Deutschen Sprache und Literatur.


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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1/2010, Seite 14-15
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität,
Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU,
85071 Eichstätt
Tel.: 08421 / 93-1594 oder -1248, Fax: 08421 / 93-1788
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2010