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GAZA/051: Waffengang und Widerstand - Hilfe-, Auf- und Weckruf (Al-Haq)


Al-Haq - Dienstag, 22. Juli 2014, 07:44 - Ref.: 77/2014

Sondersitzung des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen zu Palästina:
Die EU darf frühere Fehler bezüglich der Militärangriffe Israels auf den Gazastreifen nicht wiederholen



Baroness Ashton, Hohe Repräsentantin für Außen- und Sicherheitspolitik

Botschafter des Politischen und Sicherheitskomitees der EU

Vorsitzender der Arbeitsgruppe "Menschenrechte" des Rates

Vorsitzender der Arbeitsgruppe "Vereinte Nationen" des Rates


Ihre Exzellenzen,
Vorsitzender der Arbeitsgruppe "Menschenrechte" des Rates,
Vorsitzender der Arbeitsgruppe "Vereinte Nationen" des Rates,

Der Rat der Palästinensischen Menschenrechtsorganisationen (PHROC), eine Vereinigung von zwölf palästinensischen Menschenrechtsorganisationen, ist in höchster Sorge wegen der uneingeschränkten und ausgeweiteten militärischen Angriffe auf den besetzten Gazastreifen. Während die Operation "Schutzlinie" anfänglich mit Luftschlägen geführt wurde, hat Israel nun mit einer Bodeninvasion begonnen.

Am 14. Juli 2014 sandte der PHROC einen Brief an die EU, der die israelischen Angriffe auf palästinensische Zivilisten und das Ausmaß der an zivilen Einrichtungen verursachten Schäden darlegte, die sich auf Kriegsverbrechen belaufen könnten. Der PHROC hat zudem auf den Rechtsrahmen für Kampfhandlungen hingewiesen und die EU nachdrücklich gebeten, von allen Parteien zu fordern, daß sie sich an das Humanitäre Völkerrecht halten - das Prinzip der Differenzierung und der Verhältnismäßigkeit eingeschlossen. Insbesondere ruft der PHROC die EU auf, alle ihr zur Verfügung stehenden Maßnahmen zu ergreifen um die Verletzung des Humanitären Völkerrechts durch Israel zu beenden. Mittel, die der EU zur Verfügung stehen, sind unter anderem die Wahl deutlicher Worte der Verurteilung und eindeutiger politischer Schritte, der Beschluß restriktiver Maßnahmen wie Waffenembargos, das Aussetzen der politischen Zusammenarbeit, und auf eine Ratifizierung des Beitritts der Palästinenser zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs hinzuwirken. Wie dieser Brief weiter ausführlich darlegen wird, muß sich die EU zudem während der Sondersitzung des UN-Menschenrechtsrates (HRC) am 23. Juli 2014 aktiv beteiligen. In der Sondersitzung muß die EU die Bildung einer unabhängigen Kommission zur Untersuchung der Verletzungen des Völkerrechts unterstützen, die während der anhaltenden Kriegshandlungen begangen wurden. Wir betonen hiermit noch einmal, daß Israels Rechtfertigung, es handle sich um Selbstverteidigung, zurückgewiesen werden muß und daß der ständige Verweis von EU-Mitgliedstaaten auf dieses Recht, Israel nur noch rücksichtsloser gemacht hat.

Im Lichte des verheerenden Versagens der internationalen Gemeinschaft, wirklichen Druck auf Israel auszuüben, seine Handlungen in Übereinstimmung mit dem Humanitären Völkerrecht zu bringen, weitet Israel seine Militäroffensive aus und die Zahl der Toten unter den Palästinensern steigt weiter. Am 21. Juli um 13.00 Uhr haben palästinensische Menschenrechtsorganisationen 505 getötete Palästinenser - in überwiegender Mehrheit Zivilisten, darunter 130 Kinder - dokumentiert. Zudem wurden mindestens 2.665 Palästinenser verwundet. Israel fährt darüber hinaus fort, zivile Objekte zu bombardieren, darunter 4 Krankenhäuser, 45 Schulen und 16 NGOs. Israel setzt zudem unvermindert seine Praxis der "Warnbomben" ("ans Dach klopfen") und der ausgegebenen "vorgetäuschten Warnungen" fort. Letztere beziehen sich auf Vorfälle, in denen Israel Familien darüber informiert, daß man ihre Häuser bombardieren wird, ohne den Angriff wirklich durchzuführen. Solche Warnungen bringen Angst über die palästinensische Bevölkerung und erhöhen die täglich wachsende Zahl vertriebener Palästinenser. Am 20. Juli berichtete das Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNWRA), daß über 100.000 Palästinenser zur Zeit auf der Flucht sind und daß 84.000 von ihnen Zuflucht in Schulen der UNRWA gesucht haben.

Da der Menschenrechtsrat eine Sondersitzung zu Palästina vorbereitet, möchte der PHROC angesichts der aktuellen und vergangenen Herangehensweisen der EU gegenüber Israels Militärangriffen ernste Bedenken erheben.

Die Bedeutung eines EU-Konsenses beim Menschenrechtsrat

Am 23. Juli wird der UN-Menschenrechtsrat eine Sondersitzung zur Menschenrechtslage in den Besetzten Palästinensischen Territorien (OPT) abhalten. Diese Sitzung widmet sich den Rechtsbrüchen, die in Zusammenhang mit der Operation "Schutzlinie" begangen wurden, sowie den Vorschlägen zur Einrichtung und Entsendung einer eiligen und unabhängigen Untersuchungskommission, die eingebracht wurden. Eine solche Untersuchungskommission ist von extremer Bedeutung, da sie eine unabhängige Berichterstattung über die Verletzungen des Völkerrechts gewährleisten und konkrete Schritte abstecken würde, die Staaten und internationale Organe auf festgestellte Rechtsbrüche hin unternehmen müßten. PHROC ist jedoch in großer Sorge wegen möglicherweise abträglicher Positionsnahmen der EU und ihrer Mitgliedstaaten in dieser Sondersitzung, auch hinsichtlich ihrer Reaktion auf eine Untersuchungskommission. Diese Sorge gründet sich auf das frühere (Nicht-) Engagement der EU bei Sitzungen des Menschenrechtsrats, die sich allgemeiner mit Palästina befaßten, auf vergangene Versäumnisse der EU, den HRC zu nutzen um sicherzustellen, daß Israel seinen internationalen Verpflichtungen nachkommt, und auf ihre schändliche Unfähigkeit, sich hinsichtlich der UN-Reaktion auf die israelischen Militärangriffe auf eine Position zu einigen.

Im Januar 2009 wurde eine ähnliche Sondersitzung anberaumt, um über "die schweren Menschenrechtsverletzungen in den OPT", insbesondere angesichts der israelischen Militäroffensive im Gazastreifen mit Codenamen "Gegossenes Blei", zu beraten. Während dieser 22 Tage währenden Offensive wurden 1.400 Palästinenser getötet, davon waren 1172 Zivilisten, darunter 342 Kinder. Darüber hinaus wurden über 5.000 Palästinenser verletzt. Trotz eklatanter Völkerrechtsverletzungen und Beweisen für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit unterstützte kein EU-Mitglied die Gründung und Entsendung einer UNO-Untersuchungsmission. Genauso wenig unterstützten die EU-Mitglieder gemeinsam den Abschlußbericht und die Empfehlungen dieser Untersuchungsmission, die trotzdem eingerichtet worden war. Statt dessen stimmten EU-Mitglieder unerhörterweise dagegen, enthielten sich oder stimmten überhaupt nicht über die Bestätigung des Berichts der Untersuchungsmission ab. Die Positionen, die die EU-Mitgliedsländer zur Umsetzung des Berichts eingenommen haben, waren gleichermaßen enttäuschend.

Es ist zu unterstreichen, daß die Herangehensweise der EU an die Palästinenserfrage im HRC dem Strategischen Rahmen- und Aktionsplan der EU über Menschenrechte und Demokratie von 2012 zuwiderläuft, der eine EU verspricht, die sich "einsetzt für ein multilaterales Menschenrechtssystem, mit dem unparteiisch die Einhaltung der Menschenrechtsverpflichtungen überwacht und alle Staaten zur Rechenschaft gezogen werden können". Das EU-Dokument unterstreicht ferner "die führende Rolle des Menschenrechtsrates bei der Behandlung dringender Fälle von Menschenrechtsverletzungen, und aktiv zu einer erfolgreichen Arbeit des Rates [beizutragen]". Schwerwiegenderweise jedoch ist die Herangehensweise der EU dem HRC gegenüber teilweise der Grund dafür, daß Israel seine Kriegführung nicht geändert hat.

Die derzeitige Phase der Kriegshandlungen wiederholt in vielerlei Hinsicht vergangene Militärangriffe auf den Gazastreifen, darunter die "Operation Gegossenes Blei" und die "Operation Säule der Verteidigung" von 2012. Israel tötet unterschiedslos und unverhältnismäßig Zivilisten, schießt widerrechtlich auf Polizisten und Polizeistationen, setzt Warnbombardierungen ein, zerstört palästinensische Wohnhäuser und vertreibt Tausende Palästinenser, während es die Grenzen geschlossen hält.

Empfehlungen

In dem Versuch dafür zu sorgen, daß die Palästinenser nicht länger unter der Hand Israels leiden, ohne daß die EU wirksam Widerstand dagegen leistet, und um sicherzustellen, daß die EU ihre früheren Fehler hinsichtlich der israelischen Militäroperationen nicht wiederholt, appelliert die PHROC an die EU und ihre Mitgliedstaaten:

  1. aktiv in der Absicht an der 21. Sondersitzung des HRC teilzunehmen, die Verletzung des Völkerrechts zu beenden - die Unterstützung der Einrichtung und Entsendung einer unabhängigen UNO-Untersuchungsmission eingeschlossen;
  2. Israels Verpflichtungen als in Kriegshandlungen verwickelte Besatzungsmacht in Palästina klarzustellen;
  3. unverzüglich und uneingeschränkt Israels unterschiedslose und unverhältnismäßige Angriffe auf palästinensische Zivilisten und zivile Objekte zu verurteilen;
  4. zu fordern, daß sich alle Parteien an ihre Verpflichtungen unter dem Humanitären Völkerrecht halten, einschließlich des Prinzips der Differenzierung, der Verhältnismäßigkeit und der militärischen Erfordernis;
  5. Abstand davon zu nehmen, Israels Mißbrauch des Selbstverteidigungsarguments zu billigen;
  6. den Standpunkt einzunehmen, daß die Kernursache für die fortwährenden Feindseligkeiten in Israels aggressiver Besatzung und den sie begleitenden Verletzungen des Völkerrechts, einschließlich des Rechts der Palästinenser auf Selbstbestimmung, liegt;
  7. in Übereinstimmung mit dem eigenen Bekenntnis und gemäß den EU-Leitlinien zur Förderung der Einhaltung der Normen des Humanitären Völkerrechts unverzüglich alle zur Verfügung stehenden, auch restriktiven, Maßnahmen zu ergreifen, in dem Bemühen, Israels Einhaltung seiner rechtlichen Verpflichtungen zu gewährleisten;
  8. sicherzustellen, daß, wer das Völkerrecht gebrochen hat, zur Verantwortung gezogen wird - auch durch den Einsatz internationaler Gerichtsbarkeit;
  9. uneingeschränkt den Zugang der Palästinenser zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zu unterstützen, um die Zuständigkeit dieses internationalen Gremiums für die Verbrechen zu gewährleisten, die im Verlauf der derzeitigen Kriegshandlungen in der OPT begangen werden, zuvor bereits begangen wurden sowie fortgesetzt werden.

Hochachtungsvoll

Addameer Prisoners' Support and Human Rights Association
Sahar Francis, General Director

Aldameer Association for Human Rights
Khalil Abu Shammala, General Director

Al-Haq
Shawan Jabarin, General Director

Al Mezan Center for Human Rights
Issam Younis, General Director

Badil Resource Center for Palestinian Residency and Refugee Rights
Nidal Azza, General Director

Defence for Children International - Palestine Section
Rifat Kassis, General Director

Ensan Center for Human Rights and Democracy
Shawqi Issa, General Director

Hurryyat - Centre for Defense of Liberties and Civil Rights
Helmi Al-araj, General Director

Jerusalem Center for Legal Aid and Human Rights
Issam Aruri, General Director

Ramallah Center for Human Rights Studies
Iyad Barghouti, General Director

Women's Centre for Legal Aid and Counselling
Maha Abu Dayyeh, General Director

The Palestinian Center for Human Rights
Raja Sourani


Al-Haq, ist eine 1979 gegründete palästinensische Menschenrechtsorganisation mit Sitz in dr Stadt Ramallah in der Westbank Palästinas. Sie hat beratenden Status beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen, ist Mitglied der Internationalen Juristenvereinigung mit Sitz in Genf, Mitglied des EU-Mediterranen Menschenrechtsnetzwerks EMHRN, der Weltorganisation gegen Folter OMCT, der Internationalen Vereinigung für Menschenrechte FIDH, von Habitat International HIC und des palästinensischen Menschenrechtsnetzwerks PNGO.


Link zum englischsprachigen Original
http://www.alhaq.org/advocacy/targets/european-union/828-human-rights-council-special-session-on-palestine-the-eu-must-not-repeat-past-mistakes-regarding-israeli-military-attacks-against-the-gaza-strip

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Quelle:
Al-Haq, 22.07.2014
54 Main Street 2nd & 3rd Fl. - Opp. Latin Patriarchate
Saint Andrew's Evangelical Church - (Protestant Hall)
Ramallah, West Bank, Palästina
Telefon: +972 (2) 2954646/7/9, Fax: +972 (2) 2954903
Internet: http://www.alhaq.org
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juli 2014