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GAZA/059: Waffengang und Widerstand - eine Sache der Auslegung ... (Amnesty International)


Amnesty International - 25. Juli 2014

Israel/Gaza: Fragen und Antworten zum aktuellen Gaza-Konflikt



25. Juli 2014 - Inwiefern verletzen sowohl die israelischen Streitkräfte als auch die bewaffneten palästinensischen Gruppen humanitäres Völkerrecht? Was sind ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen? Was kann die Staatengemeinschaft tun? Antworten von Amnesty International auf Fragen zum Gaza-Konflikt.


Wie steht Amnesty International zur Resolution des UN-Menschenrechtsrats vom 23. Juli 2014? Was muss als Nächstes passieren?

Amnesty International begrüßt die Resolution S-21/1 mit dem Auftrag zur Bildung einer Untersuchungskommission. Der Wortlaut erlaubt der Kommission, Verletzungen des internationalen Rechts durch alle beteiligten Konfliktparteien zu untersuchen. Die Untersuchungskommission bietet eine wichtige Chance, den Teufelskreis anhaltender Straflosigkeit für Verletzungen des internationalen Rechts in Israel und den besetzen palästinensischen Gebieten zu durchbrechen.

Um effektiv zu sein, muss die Untersuchungskommission gründlich, unabhängig und unparteiisch arbeiten, und Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht durch alle Konfliktparteien untersuchen. Sie muss mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet werden und uneingeschränkten Zugang zu allen relevanten Gebieten erhalten.

Amnesty International fordert alle Staaten - einschließlich aller EU-Mitgliedstaaten, die sich bei der Abstimmung im UN-Menschenrechtsrat der Stimme enthalten haben - auf, mit der Untersuchungskommission wo immer nötig zusammenzuarbeiten.

Welches sind nach humanitärem Völkerrecht die wichtigsten Verpflichtungen, die die Konfliktparteien während der Kampfhandlungen einhalten müssen?

Während eines bewaffneten Konflikts müssen alle Parteien - sowohl staatliche als auch nicht-staatliche bewaffnete Einheiten - das humanitäre Völkerrecht respektieren. Das humanitäre Völkerrecht definiert klare Verhaltensregeln für alle Konfliktparteien mit dem Ziel, die Zivilbevölkerung in einem bewaffneten Konflikt zu schützen. Zudem sind Staaten auch während eines bewaffneten Konflikts dazu verpflichtet, internationale Menschenrechtsnormen einzuhalten.

Gemäß dem humanitären Völkerrecht müssen alle Parteien in einem bewaffneten Konflikt zwischen militärischen Zielen und der Zivilbevölkerung und zivilen Einrichtungen unterscheiden. Nur Erstere dürfen direkt angegriffen werden. Absichtliche Angriffe auf Zivilpersonen oder zivile Objekte - wie Wohnhäuser, medizinische Einrichtungen, Schulen, Regierungsgebäude -, welche nicht zu militärischen Zwecken genutzt werden, sind verboten und stellen Kriegsverbrechen dar. Unterschiedslose und unverhältnismäßige Angriffe (das heißt Angriffe, bei welchen die zivilen Opfer oder die Zerstörung ziviler Objekte in keinem Verhältnis zu den erwarteten militärischen Vorteilen stehen) sind ebenfalls verboten.

Alle Parteien müssen die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um bei einem Angriff den Schaden an Zivilpersonen und zivilen Einrichtungen zu minimieren. Dazu gehört, dass die Zivilbevölkerung im Voraus in angemessener Frist vor Angriffen gewarnt wird. Ein Angriff muss gestoppt oder unterbrochen werden, wenn sich herausstellt, dass es sich um ein ziviles Ziel handelt oder dass der Angriff unverhältnismäßig ist. Auch müssen die Konfliktparteien alle erforderlichen Vorkehrungen treffen, um die Zivilbevölkerung auf ihrem eigenen Gebiet vor den Auswirkungen von Angriffen zu schützen. Beispielsweise müssen Konfliktparteien vermeiden, die Zivilbevölkerung in Gefahr zu bringen, indem sie Munition in dicht bevölkerten zivilen Gebieten lagern und von dort aus Angriffe ausführen.

Welche typischen Verletzungen internationaler Rechtsnormen durch israelische Streitkräfte im Gazastreifen hat Amnesty International beobachtet, seit Israel am 8. Juli 2014 die Operation "Protective Edge" lancierte?

Israelische Streitkräfte haben Angriffe ausgeführt, denen Hunderte von Zivilistinnen und Zivilisten zum Opfer fielen. Dabei verwendeten sie sowohl Präzisionswaffen wie etwa aus Drohnen abgefeuerte Raketen, aber auch zielungenaue Artilleriemunition, um dicht besiedelte Wohngebiete wie Shuja'iyyeh zu beschießen. Sie haben auch Tausende von Wohnhäusern direkt angegriffen. Israel scheint Wohnhäuser von Familien, die mit der Hamas in Verbindung gebracht werden, als legitime militärische Ziele zu betrachten - ein Standpunkt, der nicht mit dem humanitären Völkerrecht vereinbar ist.

Im ganzen Gazastreifen wurden mehrere medizinische Einrichtungen und nicht-militärische Regierungsgebäude zerstört oder beschädigt. Die UN berichtete, dass eine Schule im al-Maghazi Flüchtlingslager im Zentrum von Gaza, in der Vertriebene Obdach gesucht hatten, mindestens zweimal von israelischen Streitkräften bombardiert wurde.

Eine weitere Schule in Beit Hanun, im Norden Gazas, in der vertriebene Familien untergebracht waren, wurde am 24. Juli von einem Angriff getroffen. Mindestens 15 Zivilpersonen kamen dabei ums Leben, viele weitere wurden verletzt. Die UN hat in diesem Fall eine sofortige Untersuchung gefordert.

Auch wenn die israelischen Behörden behaupten, sie würden die Zivilbevölkerung in Gaza jeweils warnen, zeigt sich immer wieder, dass dies nicht im Sinne einer "wirksamen Warnung" gemäß humanitärem Völkerrecht geschieht. Angriffe durch Israel haben außerdem zu massiven Vertreibungen der palästinensischen Zivilbevölkerung innerhalb des Gazastreifens geführt.

Wie stellt sich Amnesty International zu den wahllosen Raketenangriffen auf Israel durch bewaffnete palästinensische Gruppen aus dem Gazastreifen? Verletzen weitere Handlungen von bewaffneten palästinensischen Gruppen in Gaza seit dem 8. Juli 2014 das humanitäre Völkerrecht?

Nach Angaben der israelischen Armee haben der militärische Flügel der Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen zwischen dem 8. und 18. Juli über 1700 Raketen nach Israel abgefeuert. Dutzende weitere kommen jeden Tag dazu. In Israel wurden bisher drei Zivilpersonen getötet. Wohnhäuser und andere zivile Einrichtungen in Israel wurden beschädigt. Das humanitäre Völkerrecht verbietet den Gebrauch von Waffen, die unterschiedslos wirken. Die Raketen, welche aus dem Gazastreifen nach Israel abgefeuert werden, können nicht zielgenau ausgerichtet werden. Ihre Verwendung verletzt deshalb humanitäres Völkerrecht.

Das Abfeuern von zielungenauen Raketen und Mörsergranaten gefährdet auch die palästinensische Zivilbevölkerung innerhalb des Gazastreifens und in der West Bank. Auch lassen Aussagen einiger Führer bewaffneter palästinensischer Gruppen darauf schließen, dass diese keine Skrupel haben, die israelische Zivilbevölkerung anzugreifen. Im Gegenteil: Sie führen solche Angriffe in der vollen Absicht aus, israelische Zivilpersonen zu töten und zu verletzen. Angriffe, welche direkt auf die Zivilbevölkerung gerichtet sind, und wahllose Angriffe, welche zivile Tote oder Verletzte zur Folge haben, stellen Kriegsverbrechen dar.

Erfüllt das israelische Militär seine Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht zum Schutz der Zivilbevölkerung, wenn die BewohnerInnen eines bestimmten Gebietes im Gazastreifen vor einem Angriff auffordert werden, das Gebiet zu evakuieren?

Die effektive und frühzeitige Warnung von Zivilpersonen ist nur eine der vorgeschriebenen Präventionsmaßnahmen, welche den Schaden an der Zivilbevölkerung minimieren sollen. Die von den israelischen Streitkräften ausgesprochenen Warnungen genügten in vielen Fällen den elementaren Kriterien einer "wirksamen Warnung" nicht: Warnungen müssen so rechtzeitig erfolgen, dass die Zivilbevölkerung ausreichend Zeit bleibt, um vor den bevorstehenden Angriffen zu fliehen. Es müssen sichere Zufluchtsorte benannt und sichere Fluchtwege eingerichtet werden.

In jedem Fall entbindet jedoch eine frühzeitige Warnung die Streitkräfte nicht von ihrer Verpflichtung, Zivilpersonen zu verschonen und alle erforderlichen Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um zivile Opfer und Schäden an zivilen Einrichtungen zu vermeiden.

Die anhaltende militärische Blockade des Gazastreifens durch Israel und die Schließung des Übergangs bei Rafah durch die ägyptischen Behörden seit Beginn der Kampfhandlungen bedeuten zudem, dass die Zivilbevölkerung in Gaza nicht in die Nachbarländer fliehen kann.

Die israelischen Behörden behaupten, dass die Hamas und andere bewaffnete palästinensischen Gruppen in Gaza palästinensische Zivilpersonen als "menschliche Schutzschilde" missbrauchen. Hat Amnesty International Beweise, dass dies während der momentanen Kampfhandlungen vorkam?

Amnesty International beobachtet und untersucht solche Berichte, hat aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Beweise, dass im aktuellen Konflikt palästinensische Zivilpersonen durch die Hamas oder andere bewaffnete palästinensische Gruppen absichtlich zur "Abschirmung" spezifischer Einrichtungen oder militärischen Personals oder Materials vor israelischen Angriffen verwendet wurden.

In früheren Konflikten hat Amnesty International dokumentiert, dass bewaffnete palästinensische Gruppen, in Verletzung des humanitären Völkerrechts, Munition in Wohngebieten gelagert und von dort aus zielungenaue Raketen abgefeuert hatten.

Im aktuellen Konflikt sind auch Meldungen aufgetaucht, wonach die Hamas die Zivilbevölkerung dazu gedrängt haben soll, israelische Aufforderungen zur Evakuierung zu ignorieren. Das kann aber auch im Bestreben geschehen sein, Panik und Fluchtbewegungen zu minimieren. In jedem Fall wäre eine solche Aufforderung nicht gleichzusetzen mit der Aufforderung an Zivilpersonen, als "menschliche Schutzschilde" für Kämpfer, Munition oder militärische Ausrüstung in ihren Häusern zu bleiben. Zudem hätten die israelischen Streitkräfte, selbst wenn solche "menschliche Schutzschilde" aufgestellt würden, noch immer die Pflicht, die Zivilbevölkerung zu schützen.

Berichten zufolge sollen die israelischen Streitkräfte bei ihrer gegenwärtigen Operation im Gazastreifen sogenannte "Flechette"-Munition verwendet haben. Was sagt Amnesty International zum Gebrauch solcher Waffen? Hat das israelische Militär auch früher schon Flechettes im Gazastreifen verwendet?

"Flechettes" sind 3.5 cm lange spitze Stahlprojektile. Zu 5000 bis 8000 Stück in Granaten verpackt, werden sie üblicherweise von Panzern aus abgeschossen. Die Granaten explodieren in der Luft und streuen die Projektile in einem konischen Muster über ein Gebiet von ca. 300 mal 100 Metern. Flechettes wurden für die Abwehr von Masseninfanterie-Angriffen oder den Kampf gegen große Einheiten in offenem Gelände konzipiert. Angewendet in dicht besiedeltem Gebiet, stellen sie eine überaus große Gefahr für die Zivilbevölkerung dar.

Lokale Menschenrechtsgruppen haben über Fälle berichtet, in denen Zivilpersonen im Gazastreifen durch Flechette-Munition getötet oder verletzt wurden. Amnesty International konnte während der aktuellen Kampfhandlungen bisher keine konkreten Fälle verifizieren, hat jedoch in früheren Konflikten, etwa während der Operation "Cast Lead", die Verwendung von Flechette-Waffen durch israelische Streitkräfte dokumentiert. Dabei kamen Zivilpersonen ums Leben, darunter auch Kinder.

Der Gebrauch von Flechette-Waffen ist nach dem humanitären Völkerrecht nicht per se verboten. Jedoch sollten diese Waffen nie in dicht besiedelten Gebieten eingesetzt werden.

Was fordert Amnesty International aktuell von der internationalen Gemeinschaft?

Amnesty International fordert den UN-Sicherheitsrat auf, ein Waffenembargo gegen Israel, die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen zu verhängen, bis ein effektiver Überwachungsmechanismus eingerichtet wird, der sicher stellt, dass gelieferte Waffen, Munition und andere militärische Ausrüstung und Technologie nicht zu schweren Menschenrechtsverletzungen und Verletzungen des humanitären Völkerrechts eingesetzt werden.

Gleichzeitig fordert Amnesty International alle Staaten (namentlich die wichtigsten Waffenlieferanten, etwa die USA für Israel) auf, jegliche Lieferungen von Waffen, Munition und militärischem Material oder Technologie an alle am Konflikt beteiligten Parteien umgehend einzustellen, solange eine substanzielle Gefahr besteht, dass diese für schwerwiegende Verletzungen des humanitären Völkerrechts oder der Menschenrechte eingesetzt werden. Die Aussetzung von Rüstungslieferungen sollte alle indirekten Exporte über Drittländer mit einschließen, ebenso den Transfer militärischer Ersatzteile und Technologien sowie Vermittlungs-, Finanz- oder Logistik-Dienstleistungen im Zusammenhang mit solchen Lieferungen.

Die Staaten sollten den Bericht der UN-Untersuchungskommission über den Gaza-Konflikt von 2009 (so genannter Goldstone-Bericht) und den kommenden Bericht der jetzt vom Menschenrechtsrat mandatierten Untersuchungskommission als Grundlage nutzen, um Verstöße gegen das Völkerrecht gemäß dem Prinzip der universellen Rechtsprechung vor ihren nationalen Gerichten zu untersuchen und zu verfolgen.


Der vorliegende Text basiert auf diesem englischsprachigen Dokument mit Fragen & Antworten zum aktuellen Gaza-Konflikt.

http://www.amnesty.org/en/library/asset/MDE15/017/2014/en/e916c6f0-4729-48a8-bcf8-22ac8484df17/mde150172014en.pdf

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Quelle:
Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V.
URL: http://www.amnesty.de/2014/7/31/israelgaza-fragen-und-antworten-zum-aktuellen-gaza-konflikt?destination=node%2F2817
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2014