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GAZA/060: Waffengang und Widerstand - Gesichter, Tränen, kein Entrinnen ... (Martin Lejeune)


Hilferuf aus dem Gazastreifen

Tagebuchaufzeichnungen eines Journalisten aus Gaza Stadt vom 22. bis 31. Juli 2014

von Martin Lejeune



Gaza-Stadt - Donnerstag 31. Juli 2014

Seit dem 22. Juli bin ich im Gazastreifen und ich kann einfach nicht glauben, was hier passiert. Ich erlebe die schlimmsten Tage meines Lebens. Alle Menschen in Gaza erleben die schlimmsten Tage ihres Lebens. Denn so massiv wie in dieser Woche waren noch keine Angriffe auf Gaza. Hinter diesen Worten verbergen sich menschliche Tragödien. Die humanitäre Katastrophe in Gaza hat einen neuen Höhepunkt erreicht.

Der Krieg in Gaza ist ein Krieg gegen Zivilisten. Das sage nicht nur ich, sondern auch die Menschen in Gaza und die Journalisten, mit denen ich spreche, von denen einige so ziemlich sämtliche Kriege der letzten zehn Jahre abgedeckt haben (Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, etc...). Was hier passiert, hat eine besondere Qualität.

Überall schlagen Raketen ein. In Wohnhäuser, in denen Familien leben, in Moscheen, in denen Menschen beten. Am frühen Abend des 30. Juli bombardierte ein F16-Kampfjet das Wohnhaus, das bis dahin schräg gegenüber von unserem Haus stand. Wir saßen gerade auf dem Balkon, als die Rakete 50 Meter entfernt einschlug. Kurz zuvor hörte ich noch einen Esel hysterisch wiehern, als ob er den Angriff schon ahnte und uns warnen wollte.

Trümmer fliegen in schneller Geschwindigkeit gegen unsere Hausmauer und verfehlen uns nur knapp. Wir sitzen plötzlich inmitten einer Staubwolke. Der Staub bedeckt meine Brillengläser und meinen Laptop. Der Staub knirscht zwischen meinen Zähnen. Es dauert etwa eine halbe Minute bis sich der Rauch legt. Jetzt sehe ich den Vater, mit dem ich mich vorhin noch auf der Straße unterhalten habe, wie er sich mit seinen Kindern hinter einem Bagger verschanzt, um Deckung zu finden, falls ein zweiter Schlag folgt. Der Bagger steht auf einem Parkplatz gegenüber unserem Haus und gehört einem Bauunternehmer. Ich laufe sofort zu den Trümmern des bombardierten Wohnhauses und sehe die Verletzten. Ich habe die Familie schon mehrmals in unserer Straße spazierengehen sehen. Ich filme mit meinem Handy, wie die Rettungswagen eintreffen und die Verletzten ins Krankenhaus bringen. Auf der Straße liegen Steine, Scherben, umgekippte Strommasten.

Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Palästinenser in den Trümmern eines komplett zerstörten Hauses.
Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Seitdem ich hier bin, wurden jeweils am hellichten Tag bei unbedecktem Himmel und bei freier Sicht zahlreiche zivile Ziele bombardiert. Zum Beispiel eine Mädchengrundschule der Vereinten Nationen in Beit Hanoun, in der sich Hunderte Flüchtlinge aufhielten, und dies, obwohl die UN zuvor die GPS-Koordinaten der Schule dem Generalkommando der israelischen Streitkräfte durchgegeben hatte. Ich erinnere schon gar nicht mehr die genaue Zahl der Toten und habe auch kein Internet, um es zu recherchieren. Auch wurde ein Park im Schatti-Flüchtlingslager, vor dessen Eingang acht Kinder spielten, die alle durch den Angriff getötet wurden, bombardiert. Und am späten Nachmittag des 30. Juli fielen der Bombardierung eines Marktes im Norden des Gazastreifens 17 Menschenleben zum Opfer. 160 Palästinenser wurden verletzt, die dort gerade ihre Einkäufe erledigten. Diese Aufzählung von Massakern an der Zivilbevölkerung ließe sich beliebig lang fortsetzen, da seit dem 8. Juli bereits um die 1000 Zivilisten getötet wurden. Ich kann nicht verstehen, weshalb die israelischen Streitkräfte so etwas tun. Weshalb werden offenbar gezielt zivile Ziele und große Menschenansammlungen bombardiert?

Ich weiß, daß die israelischen Streitkräfte darauf hinweisen, daß die Hamas die Bevölkerung als Schutzschild mißbrauche. Angeblich würden Menschen von der Hamas in Häuser zurückgetrieben, wenn sie vor Bombardements fliehen. Es wird auch von Krankenhäusern berichtet, deren Dächer als Abschußbasen für Raketen gegen Israel dienen sollen. Ich kann nur von dem berichten, was ich sehe. Und dort, wo ich Zeuge von Bombardements geworden bin, gab es keine Hamas-Raketen. Und daß Hamas Menschen als Schutzschild mißbrauche, habe ich weder beobachten können noch bestätigt bekommen. Und keine Tunnel. Alle Menschen, mit denen ich bisher gesprochen habe, bestreiten, daß von Seiten der Hamas Zwang ausgeübt wurde, ihre Häuser nicht zu verlassen. Das wäre bei über 200.000 Menschen, die schon aus ihren Häusern geflüchtet sind, auch gar nicht möglich.

Die genaue Kenntnis der zu attackierenden Ziele dürfte durch die allgegenwärtigen Aufklärungsdrohnen, die gestochen scharfe Bilder liefern, vorhanden sein. Weshalb töten die Bomberpiloten immer wieder vorsätzlich Frauen und Kinder? Welchen ethischen Maßstäben folgen diese Herren der Lüfte über Leben und Tod? Sie sitzen in den modernsten Kampfjets, die jemals entwickelt wurden und brüsten sich mit "zielgenauen Schlägen". Daß in einem Krieg Soldaten Soldaten töten müssen, ist durch das Völkerrecht legitimiert, aber Zivilisten gezielt zu attackieren, so wie die Familie in unserem Nachbarhaus, die Kinder im Park, die Flüchtlinge in der UN-Schule, das ist rechtlich durch keine Kriegsordnung gedeckt. Die Menschen im Gazastreifen fragen sich, weshalb deutsche und westeuropäische Regierungschefs diese Verstöße gegen internationale Konventionen nicht scharf verurteilen. Das sind Kriegsverbrechen, die hier jeden Tag im Gazastreifen durch die israelischen Streitkräfte verübt werden.

Auch Krankenhäuser, ein Wasserwerk und das einzige Kraftwerk des Gazastreifens wurden bombardiert. In unserem Viertel im Zentrum von Gaza-Stadt, das "Beverly Hills" genannt wird und bis vor drei Wochen noch über eine ziemlich intakte Infrastruktur verfügte, hat niemand mehr fließendes Wasser. Wir waschen uns mit Wasser aus Plastikflaschen, die wir im Tante-Emma-Laden um die Ecke kaufen. Wir haben seit der Nacht auf den 29. Juli, in der das Kraftwerk bombardiert wurde, keinen Strom und kein Internet mehr. Das Festnetztelefon ist tot. Das Handy ist das einzige Kommunikationsmittel, das noch funktioniert, was natürlich auf Dauer sehr kostspielig ist. Diesen Text schreibe und versende ich im Al-Deira-Hotel, das über einen eigenen Generator verfügt und in dem die französische Nachrichtenagentur AFP ihr eigenes WLAN-Netz hat.

Es gibt kein Brot mehr im Gazastreifen. Es gibt nirgendwo mehr Brot zu kaufen. Wir essen das Brot, das die Ehefrau meines Gastgebers Maher zu Hause backt, im Innenhof unseres Hauses in einem selbstgebauten Ofen, den sie mit Holzkohle befeuert. Wir tunken das Brot in Olivenöl und Za'tar, eine Paste aus Thymian, Sesam und Salz. Das essen wir jeden Tag. Selbst wenn es noch Brot zu kaufen gäbe, hätten wir kein Geld, um es bezahlen zu können. Seit Beginn des Krieges gibt es kein Bargeld mehr an den Geldautomaten, sind die Banken geschlossen, wurde das Finanzministerium komplett zerstört, funktionieren EC- und Kreditkarten nicht mehr. Wenn wir Mehl und Öl kaufen gehen im Laden um die Ecke, lassen wir anschreiben, so wie das alle derzeit tun müssen.

Es gibt kein öffentliches Leben mehr im Gazastreifen. Alle Behörden und Büros, fast alle Geschäfte und Restaurants sind geschlossen. Die Menschen gehen nur aus dem Haus, falls unbedingt nötig. Die Strände und Parks sind menschenleer. Die letzten vier Kinder, die am Strand Fußball spielten, sind von einer israelischen Rakete getötet worden. Es war kein Hamas-Kämpfer oder Raketenabschußrampen in der Nähe, berichteten Augenzeugen übereinstimmend.

Ich wohne in einem zweistöckigen Haus um die Ecke der am 29. Juli zerbombten Al-Amin-Moschee. Zehn Menschen lebten in dem Haus, bevor der Krieg begann. Jetzt sind es 70, die sich die zwei Wohnungen im Haus teilen. Meine Gastgeber haben 60 Flüchtlinge aus dem Norden des Gazastreifens, der dem Erdboden gleichgemacht wurde, bei sich aufgenommen. Die Männer müssen im Hauseingang und im Hausflur schlafen, die Wohnungen sind den Kindern und Frauen vorbehalten. Auf so engem Raum mit fremden Menschen zusammen zu leben und nebeneinander zu schlafen ist für alle nicht leicht, und Privatsphäre gibt es gar keine. Auch liegen die Nerven blank nach dreieinhalb Wochen Dauerbombardement, von dem ich ja nur anderthalb Wochen mitbekommen habe. Trotzdem verhalten sich alle 70 Bewohner der zwei Wohnungen immer ruhig und rücksichtsvoll, sind solidarisch und teilen das wenige miteinander, was sie noch haben: das selbstgebackene Brot, den Handy-Akku, die letzte Zigarette, ein Stück Seife zum Waschen. Ich war gestern in einem Kindergarten in unserem Viertel, in dem nachts 80 Menschen pro Gruppenraum schlafen.

Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Badende Jungen in einem Springbrunnen in Gaza-Stadt.
Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Palästinenser sind so schlau wie die Libanesen, intelligent wie die Iraker, starke Kämpfer wie die Algerier und gastfreundlich wie die Syrer. Vielleicht ist es diese Vielzahl an guten Eigenschaften, die es den Menschen in Gaza ermöglicht, mit dieser schweren Situation umzugehen, ohne zu resignieren. Trotz seit dreieinhalb Wochen anhaltender Bombardierung aus der Luft, zur See und zu Land spielen die Kinder noch tagsüber auf der Straße, singen die Frauen beim Brotbacken noch ihre Lieder, leisten die Männer noch immer Widerstand. Maher, mein Gastgeber, erklärt: "Unseren Willen zu leben und zu kämpfen können keine Raketen und Granaten brechen."


Gaza-Stadt - Montag 28. bis Dienstag 29. Juli 2014

Dieser Text handelt von Ereignissen, die ich zwischen Montag 17.00 Uhr und Dienstag 05.00 Uhr erlebte.

Eine Spielzeugpistole schwimmt in einer Blutpfütze. In einer anderen Blutlache liegt ein Paar Sandalen, das einem der acht Kinder gehörte, die bis vor wenigen Minuten noch lebten und in dem kleinen Park des Schatti-Flüchtlingslagers vielleicht gerade Fangen spielten oder Fußball. Durch die Wasserrinne auf der Straße rinnt Blut. Die Bäume haben keine Blätter mehr. Sie liegen auf der Straße, auf den Dächern der zerstörten Autos, in den Blutlachen. Das Blut, das die grünen Blätter rot färbt, ist von acht toten Kindern und von drei Erwachsenen, die am späten Montagnachmittag gegen 17.00 Uhr Ortszeit bei einer starken Explosion am Eingang des Parks gestorben sind. Mindestens weitere 40 Personen wurden zum Teil sehr schwer verletzt. Der Ort der Explosion ist ein Ort des Grauens, an Häuserwänden kleben Überreste menschlichen Gewebes. Ein Vater rennt mit einer Plastiktüte in der Hand zu dem Rettungswagen, in dem seine tote Tochter liegt. Der Vater zeigt dem Sanitäter Gehirnmasse seiner Tochter, indem er den Boden der Plastiktüte behutsam anhebt. "Nimm das mit für die Bestattung", sagt er zum Sanitäter. Ein anderer Vater trägt seinen toten Sohn zu der Ladefläche eines Pritschenwagens. Er wird von Männern begleitet, die den Tekbir "Allahu Akbar", "Gott ist groß", rufen und dabei Handyfotos von der verstümmelten Leiche aufnehmen. Anwohner versuchen, eine schreiende Frau, die ihre Schwester verloren hat, zu beruhigen. Ein Mann liegt bewußtlos auf der Straße. Ein Arzt versucht, ihn wiederzubeleben. Szenen eines ganz normalen Nachmittags in Gaza-Stadt. Die Palästinenser machen einen israelischen Luftangriff für die Explosion am Park verantwortlich, ein Sprecher des israelischen Militärs bestreitet dies und macht eine fehlgeleitete Rakete der Hamas für das Massaker verantwortlich.

Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Spielzeugpistole in einer Blutlache.
Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Wenige Stunden später: eine ganz normale Nacht in Gaza-Stadt. F16-Kampfjets donnern mit gewaltigem Lärm im Tiefflug über Gaza-Stadt, ihr Schall findet seinen Widerhall zwischen den Wänden der Hochhäuser, die noch stehen. Etwa alle 30 Sekunden feuern sie eine Rakete ab. Das omnipräsente Sirren der Kampfdrohnen, die über unserem Viertel, die über jedem Viertel des Gazastreifens kreisen, klingt wie das Motorenbrummen, das aus den Fernsehlautsprechern einer Formel-Eins-Übertragung schallt.

Es ist dies wirklich eine imponierende Darbietung militärischer Zerstörungskraft, deren Dauerbeschuß zur Luft, zu Land und zur See die Bevölkerung des Gazastreifens in dieser Nacht kollektiv in Todesangst versetzt. Eine wahrlich außergewöhnliche Aufbietung des Waffenarsenals der israelischen Streitkräfte, einer der modernsten Streitkräfte der Welt.

Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich nicht im Al-Deira-Strandhotel am Strand von Gaza, in dem die ausländischen Korrespondenten Schutz suchen. Ich bin im Wohnhaus einer muslimischen Familie im Zentrum von Gaza-Stadt. Ich höre, wie in den Nachbarwohnungen unseres Hauses kleine Babys ohne Unterbrechung schreien, verängstigte Kinder in den Armen ihrer Mütter weinen, die Erwachsenen fluchen.

Die Bombardierungen begannen um 23.30 Uhr Ortszeit mit heftigen Fliegerangriffen auf das Flüchtlingslager Bureij im Zentrum des Gazastreifens. Seit 01.00 Uhr stehen wir im Zentrum von Gaza-Stadt unter Feuer. Im Zentrum einer kleinen Stadt, die mit ihren Hunderttausenden Einwohnern zu den am dichtesten besiedelten Gebieten der Welt gehört. Meine Freunde und ich verbarrikadierten uns im Wohnzimmer und hören, wie die Einschläge der Raketen immer näher in unsere Richtung kommen.

Nach ein paar Stunden hält es mich nicht mehr auf meinem Stuhl und ich gehe auf den Balkon im zweiten Stock. Was ich sehe, sind nicht mehr die Straßen von Gaza-Stadt, wie ich sie kenne. Vor meinen müden Augen erstreckt sich eine Trümmerlandschaft, breitet sich das Panorama eines Infernos aus. Unzählige militärische Leuchtstoffkugeln machen den nächtlichen Himmel über Gaza zum hellichten Tag und weisen den Raketen der Kampfjets ihren Weg zum Ziel.

Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Militärische Leuchtstoffkugeln machen den nächtlichen Himmel über Gaza zum hellichten Tag.
Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Das Licht der langsam gen Boden gleitenden Leuchtstoffkugeln durchdringt die pilzformartigen Staubwolken, die nach jedem Raketeneinschlag aus Richtung des jeweils zerstörten Hauses in die Höhe schießen. Bei jeder Explosion in unserer Nähe bebt das Fundament unseres Hauses, wackelt der Sims des Balkons, auf dem ich stehe; ertönen die Alarmanlagen der Autos, die vor dem Haus parken. Die Hunde bellen wie verrückt, aufgescheuchte Esel, die hier im Gazastreifen alltägliches und allgegenwärtiges Transportmittel sind, laufen ziellos durch die Straßen und kreischen noch lauter als die Babys.

All diese Geräusche des Krieges und Schreie der Angst vermischen sich mit dem Heulen der Sirenen der Rettungswagen zu der Symphonie einer Großstadt im Krieg, deren wiederkehrendes Leitmotiv der tosende Donner der Raketen ist und deren Komponist irgendein die Zerstörung berechnender Oberbefehlshaber in Jerusalem.

Morgens um fünf, als das Dauerbombardement noch anhält, wird auch noch das Krähen des Hahnes in unserm Hof in die Symphonie miteinstimmen. Hoffentlich als finaler Schlußakt. Noch mehr Raketeneinschläge verkraften wir nicht. Die Kinder, und auch mancher Erwachsene, zittern schon die ganze Nacht am ganzen Leib. Maher, meinem Gastgeber, läuft der Angstschweiß den Rücken hinunter. Sein Hemd ist klatschnaß.

Jetzt schlägt wieder eine Rakete nur wenige Hunderte Meter von uns entfernt ein. Sie trifft die Al-Amin-Moschee, die ich gestern noch fotografiert habe und die direkt neben dem Haus des palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas (Fatah) liegt. "Ich gehe in der Al-Amin-Moschee jeden Tag beten", sagt Maher. "Jetzt muß ich auf die Al-Furqan-Moschee ausweichen, die jedoch deutlich weiter von unserem Haus entfernt liegt. Wenn die Al-Furqan-Moschee nicht auch heute nacht zerbombt wurde."

Später erfährt Maher durch den Telefonanruf eines Freundes, daß in dieser Nacht auch das Haus von Ismael Haniya, des früheren palästinensischen Ministerpräsidenten und Hamas-Führers, zerstört wurde sowie das Finanzministerium. "Das hat Israel gemacht, damit die Hamas ihren Angestellten in der Verwaltung und in den Sicherheitsdiensten kein Gehalt mehr zahlen kann." In einer Liveschalte des Fernsehsenders Al Jazeera sind viele Kinder und Frauen mit starken Verbrennungen und schweren Verletzungen zu sehen, die von selbstlosen Rettungskräften oder Nachbarn ins Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt gebracht wurden. Frauen und Kinder, die in dieser Nacht nur friedlich schlafen wollten.

Inzwischen ist uns klar, daß dies doch keine ganz normale Nacht ist in Gaza-Stadt. "Es sind die heftigsten Angriffe seit Beginn des Krieges vor drei Wochen und sogar die intensivste Bombardierung während aller drei Gaza-Kriege seit Dezember 2008", konstatiert Maher mit leerem Blick. So verzweifelt habe ich ihn noch nie erlebt. Daß die Intensität der Bombardierung dieser Nacht mit keiner Nacht, die Gaza jemals zuvor erlebt hat, zu vergleichen ist, beobachtet auch der Al-Jazeera-Korrespondent, der gerade aus der Lobby des Al-Deira-Strandhotels dem um Fassung ringenden Moderator in Al Doha ein Telefoninterview gibt.

An Schlaf ist in dieser Nacht nicht zu denken in Gaza. Alle bangen um ihr Leben, alle fürchten sich vor den nächsten Luftschlägen, alle sorgen sich um ihre Verwandten und Freunde. "Hayak Allah!", rufen die Mitglieder meiner Gastfamilie jedes Mal aus, wenn eine Rakete in den Boden kracht: "Gott stehe uns bei!" Und nach jedem Bombenanschlag erzählen mir die Jungs, ob dies nun das Geschoß eines F16-, eines F-22-Fliegers oder eines Kriegsmarineschiffes war.

Morgen früh werden die Menschen von Gaza, die diese Nacht überlebt haben werden, die Toten zählen. Wie jeden Morgen. Bei Nacht kann niemand aus dem Haus gehen, ohne sein Leben zu riskieren. Er wäre sofort im Visier der Drohnen, welche die Umgebung nach möglichen Zielen auskundschaften und die genauen Zielkoordinaten in Sekundenschnelle an die Bomberpiloten übermitteln. "Sobald die Angriffe beendet sind, können wir in unserer Nachbarschaft nach Verletzten in den zerstörten Häusern suchen", sage ich zu Maher, der gerade den Schlauch der Wasserpfeife an seinen Freund weiterreicht. Er schaut mich ernst an und widerspricht: "Sie werden niemals aufhören, uns anzugreifen. Sie wollen uns bekämpfen, bis wir alle tot oder vertrieben sind. Das ist hier ein Völkermord."

Jetzt, am Dienstagmorgen, auf dem Weg in das Al-Deira-Strandhotel, um diesen Text zu senden, wird das Ausmaß der Zerstörung dieser Nacht deutlich. Überall auf den Straßen liegen Scherben und Trümmer. Jetzt sehe ich auch die völlig zerstörte Al-Amin-Moschee.

Ich habe die ganze Nacht alle ARD-Sender aus dem Inferno in Gaza-Stadt angerufen. Der MDR in Halle an der Saale war der einzige Sender, der mich erhörte. MDR, ihr habt gute Arbeit geleistet.

Heute morgen erreicht mich diese E-Mail eines MDR-Redakteurs:

"Ihre Informationen von vergangener Nacht haben auf jeden Fall Eingang in unsere Nachrichtenblöcke gefunden. In den Meldungen wurden Sie zitiert:
Israel hat seine Angriffe im Gazastreifen in der Nacht dramatisch ausgeweitet. Gaza-Stadt liegt seit Stunden unter schwerem Beschuss durch Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe und Artillerie. Fernsehbilder zeigen Brände und ganze Serien von Explosionen. Unter anderem sollen die Zentrale des Hamas-Fernsehens, eine Moschee und das Haus des früheren palästinensischen Ministerpräsidenten Hanija getroffen worden sein. Ein deutscher Journalist in Gaza sprach am ARD-Infonacht-Telefon von den schwersten Angriffen seit Kriegsbeginn. Ein solches Inferno habe er noch nie erlebt. Auch andere Orte des Gazastreifens wurden bombardiert. Nach palästinensischen Angaben gab es Dutzende Tote und Verletzte. Die Hamas ihrerseits feuerte wieder Raketen auf Israel. In Tel Aviv und anderen Städten gab es Luftalarm."
Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Eine Frau der Hilfsorganisation 'Islamic Relief' nutzt die Feuerpause, um die Flüchtlinge mit Lebensmitteln und Medikamenten zu versorgen.
Foto: © 2014 by Martin Lejeune


Gaza-Stadt - Sonntag 27. Juli 2014

Hunderte Muslime beten in engen Reihen in der Kirche des Sankt Porphyrios-Klosters der Erzdiözese Gaza. Die 150 muslimischen Familien sind aus den umkämpften Gebieten des Gazastreifens geflüchtet und haben in dem griechisch-orthodoxen Kloster Zuflucht gefunden. Weil am Freitag auf den Straßen gekämpft wird, versammeln sie sich zum Freitagsgebet in der Kirche. "Muslime und Christen leiden gleichermaßen unter der Bombardierung von Gaza", sagt eine 32-jährige muslimische Frau, die aus dem völlig zerstörten Viertel Shajaiya ins Kloster geflüchtet ist. "Ich fühle mich den Christen tief verbunden in diesen schweren Stunden", sagt sie und hält ihr neugeborenes Baby im Arm, das am dritten Tag des Krieges zur Welt kam und Issa, Jesus, heißt. Am Samstag dann nutzte die im Gazastreifen sehr aktive Hilfsorganisation Islamic Relief die Feuerpause, um 700 mittellose Flüchtlinge in der Kirche mit Lebensmitteln, Wasser, Decken und Medikamenten zu versorgen. Vor dem Innenhof des Klosters steht ein Lkw der Hilfsorganisation, der Überlebenspakete liefert. Rami Mahani, Manager der Humanitären Nothilfe von Islamic Relief, warnt vor einer humanitären Katastrophe im Gazastreifen: "Seit Beginn der Angriffe vor fast drei Wochen gibt es 200.000 Flüchtlinge. Diese während des Ramadan bei Rekordtemperaturen um 35°C und der anhaltenden Blockade des Gazastreifens ausreichend zu versorgen, ist nahezu unmöglich." Während der Waffenruhe zeigt sich das wahre Ausmaß der Zerstörungen. Die oberen Stockwerke eines Wohnhauses in der Umar-al-Mukhtar-Straße, der Hauptstraße von Gaza-Stadt, sind vollständig zerstört. Das zerbombte Haus heißt Bursch Assalam, Friedensturm. Autofahrer, die am Samstag während der Waffenruhe die Zerstörungen in Gaza besichtigen, müssen zuerst einen hohen Schuttberg vor dem Haus umfahren. In diesem Haus wurden am 21. Juli sieben Deutsche und fünf Palästinenser getötet, als zur Zeit des Fastenbrechens um 19:45 Uhr eine Rakete der israelischen Streitkräfte einschlug. Die Toten von Gaza haben Namen: Ibrahim Kilani, 53, seine Frau Taghreed, 45, ihre Kinder Yasin Ibrahim, 9, Yaser, 8, Elyas, 4, und Sawsan, 11. Die Kilanis stehen auf der Liste der Todesopfer, die das Gesundheitsministerium von Gaza seit Beginn des Krieges am 8. Juli führt, an 555. bis 561. Stelle. Die Toten von Gaza hatten ein Leben: Ibrahim war ein angesehener Architekt und in viele große Bauprojekte im Gazastreifen involviert. Hatem Ragab, 52, von Beruf Ingenieur im Ministerium der Kommunalverwaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde, ist Ibrahims Freund. Beide Familien mußten aus ihrer heftig umkämpften Heimatstadt Beit Lahia im Norden des Gazastreifens nach Gaza-Stadt fliehen, wo sie sich in Sicherheit wähnten. Hatem, der als Nachbar die Bombardierung des Friedensturms hautnah miterlebte, ist wütend: "12 Menschen, Zivilisten, wurden hier kaltblütig von Israelis ermordet. Im Friedensturm waren keine Kämpfer." Das stimmt. Das moderne Hochhaus steht im Reichen-Viertel des Gazastreifens, das Beverly Hills genannt wird. Hier leben Geschäftsmänner mit Kontakten in die Emirate oder eben auch ein erfolgreicher deutscher Architekt. "Die Eigentümer sind um das Wohl ihrer Luxusimmobilien besorgt", bestätigt ein Anwohner, "sie würden niemals einem Kämpfer Unterschlupf bieten." Der Angriff auf Beverly Hills zeigt, daß es im wahrsten Sinne des Wortes keinen einzigen Ort in Gaza gibt, der sicher ist. "Wir sind den Israelis schutzlos ausgeliefert. Wir haben keine Bunker, in denen wir vor den Bomben der F16-Kampfjets, der Kriegsschiffe und der Artillerie Schutz finden und es gibt kein Nachbarland, in das wir fliehen können." Alle Grenzen von Gaza sind seit acht Jahren zu. Hatem bestätigt, daß alle getöteten Kilanis Deutsche sind. "Warum verurteilt Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht die Ermordung unschuldiger Zivilisten in Gaza?", fragt Hatem.

Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Das zerstörte Hochhaus 'Friedensturm' in Gaza-Stadt.
Foto: © 2014 by Martin Lejeune

"1032 Palästinenser wurden bisher durch die israelische Offensive getötet, mindestens 75 Prozent von ihnen sind Zivilisten", sagt Ashraf al-Qidra, Sprecher des Gesundheitsministeriums in Gaza.

Recherchen in der Notaufnahme des Al-Shifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt belegen, daß der Anteil der Zivilisten unter den Kriegsopfern hoch ist. Dr. Youssef Abu Rysh, Leiter der Notaufnahme, arbeitet seit Beginn der Angriffe am 8. Juli im Al-Shifa-Krankenhaus und schläft jeden Tag nur für drei Stunden auf einer Matratze in seinem Büro. "Sehen Sie sich die Toten und Verletzen der Angriffe hier bei uns an. Es werden fast nur unbeteiligte Kinder und Frauen getötet. Das sind alles Kriegsverbrechen, die von unabhängigen internationalen Experten untersucht werden müssen", fordert Abu Rysh. Obwohl der Schichtbetrieb außer Kraft gesetzt wurde und sämtliche Mediziner und Krankenpfleger des Hospitals im Dauer-Notdienst sind, können die Ärzte nicht schnell genug allen schwer Verletzten helfen. "Es sterben Patienten im Krankenhaus, weil wir nicht genug Personal und medizinisches Gerät haben, um allen rechtzeitig zu helfen", klagt Abu Rysh. "Nicht nur die aktuellen Angriffe, auch die Folgen der achtjährigen Blockade töten die Menschen", kritisiert der Arzt. In den Fluren des Hospitals liegen schwer Verletzte und sogar Tote nebeneinander. Ein Mädchen im Kindergartenalter mit schweren Verletzungen an den Beinen, ein Junge, kaum acht Jahre alt, mit starken Verbrennungen, dessen Körper nach verbrannter Haut riecht, warten hier auf einen freien Platz im Operationssaal. Weil auch das Leichenschauhaus des Krankenhauses überfüllt ist, müssen die beiden Verletzten neben einer toten Frau liegen. Die beiden sind zwei von 200 Verletzten aus der UN-Schule in Beit Hanun im Norden des Gazastreifens, die am Donnerstag von mindestens einem Geschoß eines israelischen Panzers getroffen wurde, wie ein AFP-Fotograf bezeugt. In der Schule in Beit Hanoun sollen sich Augenzeugenberichten nach ausschließlich Zivilisten aufgehalten haben. "Ist dieses Mädchen eine Hamas-Kämpferin, ist dieser Junge ein Kämpfer des Islamischen Dschihads? Haben sich diese Kinder in einem Tunnel der Widerstandskämpfer versteckt? Nein, sie wurden in einer UN-Schule bombardiert", klagt Abu Rysh.

Die Grundschule in Beit Hanoun gehört zum UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA). Chris Gunness, Sprecher der UNRWA, vergleicht die Angriffe auf Gaza inzwischen mit den Auswirkungen eines "Tsunami". Er erzählt, die UNRWA habe in den Stunden vor dem Angriff auf die Schule die genauen GPS-Daten der Einrichtung an die israelischen Streitkräfte gemeldet, aber vergeblich versucht, mit der Armee eine Evakuierung zu koordinieren. "Wie können wir nachts noch ruhig schlafen, wenn in Gaza alptraumhafte Massaker wie das von Beit Hanoun geschehen?", fragt Gunness. Das ist für den Vertreter einer UN-Mission, die normalerweise höchstens indirekt Vorwürfe gegen die israelischen Streitkräfte erhebt, schon ein deutliches Signal an die Öffentlichkeit.

"Weißt Du, was das Gefährlichste ist im Gazastreifen?", fragt ein Taxifahrer, der gerade ein verletztes Kind ins Al-Shifa-Krankenhaus gebracht hat. "Kinder", antwortet er. "Die Israelis konzentrieren ihren Beschuß auf unsere Kinder. Also halte Dich von Kindern fern", rät er dem Besucher im Gazastreifen. Was wie Irrsinn klingt, daß Kinder das Gefährlichste im Gazastreifen wären, ist statistisch nachweisbar. 40 Prozent der getöteten palästinensischen Zivilisten sind Kinder. Samantha Maurin, Sprecherin von Ärzte ohne Grenzen in Paris, die derzeit im Al-Shifa-Krankenhaus vier Mediziner ihrer Organisation betreut, bezeugt: "Wir haben hier bisher nur verwundete Frauen und Kinder gesehen." Ihre Stimme klingt vorwurfsvoll. Auf einem Flur zwischen der Notaufnahme und dem Operationssaal beschreibt sie die Arbeitsbedingungen der Ärzte von Gaza: "Ich muß den palästinensischen Ärzten vor Ort meinen Respekt zollen. Sie arbeiten in 40-Stunden-Schichten, sie sind gestreßt, müde und haben kein Privatleben mehr. Trotzdem beschweren sie sich nicht und arbeiten auf einem unglaublich hohen, professionellen Niveau. So einen Einsatz habe ich noch nie erlebt. Und trotzdem schaffen sie es nicht, allen Verletzten zu helfen."

Verletztes Kind wird ärztlich versorgt - Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Ein Opfer des Angriffs auf die UN-Schule in Beit Hanoun.
Foto: © 2014 by Martin Lejeune


Gaza-Stadt - Dienstag 22. bis Samstag 26. Juli 2014
(in einer Übersetzung der Redaktion Schattenblick aus dem Englischen)

Am 26. Juli tötete israelisches Panzerfeuer, kurz bevor ein zwischen Israel und Hamas vereinbarter, zwölfstündiger Waffenstillstand in Kraft trat, 18 Palästinenser einer einzigen Familie im südlichen Gazastreifen. Der Sprecher des Gesundheitsministeriums in Gaza, Ashraf Al-Qidra, erklärte, daß die 18 Mitglieder der Familie Al-Najar seit Donnerstag in ihrem Haus in der Ortschaft Khuzaa östlich von Khan Younis festsaßen und daß noch viele weitere durch israelischen Panzerbeschuß getötet wurden.

In ganz Gaza wurden die Leichen von mindestens 35 weiteren Palästinensern aus dem Schutt geborgen, was die Anzahl der Toten auf 900 erhöhte. Al-Qidra erklärte, man habe die Opfer in den ersten drei Stunden des Waffenstillstands geborgen. 13 Leichen wurden in Shejaiya, im Osten von Gaza-Stadt, geborgen, 13 weitere in Deir al-Balah und Nusseirat, im Zentrum Gazas, und neun im Norden von Gaza.

73 Prozent der 900 bislang getöteten Palästinenser sind Zivilisten, 15 Prozent von ihnen Mitglieder bewaffneter Gruppen und 12 Prozent sind unbekannt. (Gerade einmal 5 Prozent der bislang getöteten Israelis sind Zivilisten und 95 Prozent Soldaten.)

In Gaza zu "leben", ist gefährlich.

Aus Gaza zu berichten, muß demzufolge auch gefährlich sein.

Während wir die Einschläge von Missiles und Raketen hören, den ununterbrochenen Lärm der Drohnen und Kampfjets, steigt genau in dieser Minute die Zahl der Toten. Die Vereinigung der Auslandspresse (FPA) in Israel verurteilt die vorsätzliche offizielle und inoffizielle Hetze gegen Journalisten, die unter sehr schwierigen Umständen versuchen, über das aktuelle Kriegsgeschehen zu berichten, sowie gewaltsame Versuche, Journalisten und TV-Teams daran zu hindern, ihrer Nachrichtentätigkeit nachzugehen. "Wir billigen Beschimpfungen nicht, gleich von welcher Seite sie kommen, und richtiggehende Angriffe auf Journalisten sind absolut inakzeptabel", erklärt die FPA in einer am 23. Juli veröffentlichten Stellungnahme. Am 22. Juli, dem Tag, an dem ich in Gaza ankam, nahm die israelische Verteidigungsarmee (IDF) das Al-Jazeera-Büro in Gaza-Stadt unter Beschuß. Die Büros liegen im 11. Stock eines bestens bekannten Geschäftsgebäudes.

Die IDF entschuldigte sich und behauptete, es sei ein Versehen gewesen, man werde den Vorfall untersuchen. Am selben Tag wurde Firas Khatib von BBC Arabic mitten in einer Live-Übertragung auf der israelischen Seite der Grenze physisch angegriffen und mißhandelt. Am 20. Juli wurde der palästinensische Nachrichtenkameramann Khaled Hamad Berichten zufolge bei israelischen Artillerieangriffen auf das Wohnviertel Shuja'iyya in Gaza getötet. Er trug eine deutlich mit "Presse" markierte Weste. Der Journalist Kareem Tartouri wurde am gleichen Tag bei einem weiteren Angriff getötet. Das Haus des Reporters Mahmoud al-Louh, der für die Radiostation Al-Ashab arbeitet, wurde bombardiert.

Korrespondenten, die durch Israel nach Gaza reisen wollen, müssen beim Presseamt der Regierung in Jerusalem, das vom Büro des Premierministers beauftragt ist, einen Presseausweis beantragen.

Der Antrag erfordert die Unterschrift unter ein Zensurformular. Der Antragsteller muß folgendes unterschreiben:

"1. Alles schriftliche Material, Fotos und Aufnahmen, die sich mit Fragen der Sicherheit und der Verteidigung befassen und im Ausland veröffentlicht werden sollen, müssen dem Zensurbüro vorgelegt werden. Schriftliches Material muß in zweifacher Ausfertigung vorgelegt und kann per Fax geschickt werden.

2. Korrespondenten, die kurz vor der Ausreise stehen, müssen dem Zensor alle Fotos vorlegen. Aufzeichnungen, Artikel und Berichte, die diese mitnehmen wollen, die sich irgendeiner Form auf die Sicherheit des Staates Israel beziehen, einschließlich der von der IDF verwalteten Territorien.

Solches Material sollte dem Zensurbüro in einem Umschlag oder Paket eingereicht werden. Es wird vom Zensor in Gegenwart des Korrespondenten mit einem Stempel versehen. Dieses Verfahren soll die Notwendigkeit jeder weiteren Zensur oder jede Verzögerung zum Zeitpunkt der Ausreise aus dem Land vermeiden.

3. Um die Prozedur für die Korrespondenten zu erleichtern, die Telefon, Fax und Internet für die internationale Weitergabe dringender Nachrichten benutzen, verlangt die militärische Presse- und Kommunikationszensur lediglich die vorherige Vorlage der Nachrichten, die ins Ausland geschickt werden sollen, die einen Bezug auf die Verteidigungsstruktur des Staates oder der von der IDF verwalteten Territorien beinhalten.

Zu diesen Themen muß der/die Korrespondent/in den Inhalt der Nachricht, die er/sie übermitteln möchte, in zweifacher Ausfertigung schriftlich vorlegen, bevor die Übermittlung stattfindet. Dies wird noch einmal betont, um Unannehmlichkeiten für die Korrespondenten zu vermeiden, die diesen Anweisungen zuwiderhandeln und versuchen, Beiträge zu übermitteln, die dem Zensor in Übereinstimmung mit der obigen Klausel 3 im Vorwege hätten vorgelegt werden müssen und die nicht vom Zensor freigegeben wurden. Sollte dies geschehen, ist es dem Zensor gestattet, Maßnahmen zu ergreifen, um die Übermittlung verbotener Nachrichtenbeiträge zu verhindern."

Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Merkblatt für einheimische und ausländische Korrespondenten in Israel.
Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Darüber hinaus muß man eine Verpflichtungserklärung und einen Haftungs- und Anspruchsverzicht unterschreiben, daß man sich "über die Tatsache im klaren ist, daß weder das israelische Verteidigungsministerium noch die IDF eine irgendwie geartete Verantwortung für einen Schaden oder eine Verletzung übernehmen, die der Person oder dem Besitz des Reporters durch Militäroperationen in und um Gaza oder auf andere Weise zugefügt werden, während der Reporter sich dort aufhält oder infolge seines Aufenthaltes in Gaza oder seiner Einreise nach Gaza."

Jetzt müssen Sie die Grenzüberquerung nach Gaza mit dem Büro für die "Koordinierung von Regierungsaktivitäten in den Territorien" koordinieren. Die für den Grenzübergang Erez - der sich im Norden des Gazastreifens befindet und derzeit die einzige Möglichkeit für Journalisten, die nach Gaza einreisen wollen, darstellt - zuständige operierende Behörde ist das Verteidigungsministerium.

Als Journalist müssen Sie Ihre Anfrage, Datum und Uhrzeit der Ankunft am Checkpoint eingeschlossen, an das Büro des Sprechers der Gaza-Koordinierungs- und -Verbindungsbehörde der IDF schicken. Daß man das bevorzugte Datum und die Uhrzeit Ihrer Ankunft wissen will, heißt nicht, daß Sie nach Gaza einreisen können, wann immer Sie wollen. Theoretisch ist der Checkpoint von 8.00 früh bis 16.00 und freitags von 8.00 bis 14.00 Uhr geöffnet. Dennoch entscheidet, praktisch gesehen, das Büro des Sprechers der Gaza-Koordinierungs- und -Verbindungsbehörde der IDF, ob Sie passieren können und wann man Ihnen mitteilt, wann Sie es können. In meinem Fall teilten sie mir um 1.00 nachts mit, daß ich um 10.00 morgens passieren könne.

Unglücklicherweise war ich in jener Nacht ziemlich weit vom Gazastreifen entfernt auf einem Besuch in Nazareth im Norden Israels, wo 15.000 Bürger gegen die Militäroperationen in Gaza protestierten. Um Mitternacht protestierten die Menschen immer noch vor der Polizeistation in Nazareth, weil die Polizei während der Demonstration 29 Bürger verhaftet hatte.

Glücklicherweise checkte ich meine E-Mails zufällig gerade rechtzeitig, um noch fristgerecht an der Grenze anzukommen. Die Straße zwischen dem Kibbuz Yad Mordechai und dem Grenzübergang Erez war auf militärischen Befehl geschlossen, Journalisten, die sich zuvor hatten registrieren lassen, durften diese jedoch zeitweise benutzen.

Die israelische Grenzkontrolle in Erez stempelte ihr Ausreisesiegel zwischen die Visa des Libanon und Syriens.

Das Büro des Sprechers der Gaza-Koordinierungs- und -Verbindungsbehörde erwähnte in der E-Mail, die es mir früher am Tag, um 1.00 Uhr, geschickt hatte, daß man für eine Transportmöglichkeit auf der palästinensischen Seite von Erez aus über eine sichere Route zum Hanouda-Platz in Gaza-Stadt sorgen würde. Man muß dazu wissen, daß es keine sichere Route gibt, weil dieses Gebiet unter Beschuß liegt.

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Am Grenzübergang Erez: (li.) Schilder weisen den Weg nach Gaza.
(re.) Reporter schleust sich und sein Kamerastativ durch eine enge Drehtür in einem vergitterten Gang.
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Nach zweistündigem Warten am Terminal, in denen wir die Raketen beobachteten, die neben uns abgefeuert wurden, bedauerte der Sprecher der IDF, daß die Grenzüberquerung wegen des heftigen Feuers in der Region verschoben worden sei und am nächsten Tag vielleicht stattfinden werde. 20 Journalisten aus Brasilien, Frankreich, Kanada, Spanien, der Türkei, Südkorea, Deutschland und Palästina wurden gebeten, den Checkpoint wieder zu verlassen und nach Israel zurückzukehren. Samer Shalabi, der erste Palästinenser, der je Vorsitzender des FPA-Vorstandes wurde, protestierte gegen die Entscheidung der IDF. Statt den Checkpoint zu verlassen, machte er einige Telefonate, bis er einen Busfahrer aus dem Gazastreifen mit der erforderlichen Bereitschaft gefunden hatte, das Risiko auf sich zu nehmen, uns vom israelischen Checkpoint abzuholen und uns nach Gaza Stadt zu bringen. Für uns das Risiko einer Wegstrecke, für ihn jedoch das Risiko des doppelten Weges. Als der IDF-Sprecher hörte, daß der FPA-Vorsitzende einen Bus für uns organisiert hatte, weigerte er sich wegen des heftigen Beschusses in dem Gebiet noch immer, uns über den Checkpoint zu lassen.

Nach fünf Stunden, die wir auf dem Fußboden des Checkpoints wartend verbracht hatten, war dem IDF-Sprecher klar, daß wir uns weigerten, nach Israel zurückzukehren, und man ließ uns zu unserem Bus. (Später am selben Tag erhielt ich eine E-Mail der FPA, die darauf hinwies, daß "die Vereinbarung, die heute mit dem Bus getroffen wurde, in diesem Stadium nicht wiederholt werde.")

Bevor wir in den weißen Bus mit Namen "SWEETY TOURS" steigen konnten, mußten wir mit unserer Ausrüstung durch eine enge, stählerne Drehtür. Das ist der einzige Ausgang vom Checkpoint in den Gazastreifen. Auf der anderen Seite der Stahldrehtür traf ich einen Korrespondenten, der aus Gaza nach Israel zurückkehrte, mich ansah und sagte: "Willkommen in der Hölle." Gleichzeitig erhalte ich eine Textbotschaft des palästinensischen Mobiltelefonunternehmens Jawwal, die mich in Palästina willkommen heißt: "Marhaba, rieche den Jasmin und koste die Oliven". Ich rieche bloß Schießpulver und schmecke meine Schweißtropfen. Mein Telefon zeigt an: 32 °C, Luftfeuchtigkeit: 46 %.

Die Hölle zu betreten, erfordert kein Visum der Hamas. Der Grenzkontrollposten auf der palästinensischen Seite der Grenze wurde durch israelisches Feuer zerstört. Deshalb keine Gepäck- und Paßkontrolle. Während wir in dem weißen "SWEETY TOURS"-Bus sitzen, erleben wir die ganze Strecke über die Explosion von Raketen und schwarzen Rauch. Menschen verlassen ihre Häuser, rennen, halten sich nur eine gefaltete Matratze über den Kopf. Der Bus umfährt einen Leichnam, der auf der Straße liegt. Später sehe ich schwer verwundete Kinder und tote Frauen im Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt. Wirklich, Gaza ist die Hölle.

Der "SWEETY TOURS"-Bus unserer Gruppe hält an der Strandpromenade von Gaza-Stadt, wo sich die Hotels für Auslandskorrespondenten befinden. Alle Hotels am Strand sind ausgebucht und der Preis für die Zimmer ist dieser Tage nicht billig, auch wenn man ein Zimmer ohne Seeblick hat. Gaza-Stadt ist zur Zeit nicht der beste Platz, um seine Sommerferien zu verbringen, aber der Preis für ein Zimmer ist derselbe wie für ein Zimmer in einem Hotel an der Côte d'Azur. Kriegszeit ist die Zeit des großen Geschäfts für die Unterbringungsindustrie. In den Hotellobbys treffen die Journalisten ihre Mittelsmänner, ihre Sendeleiter, Produzenten, Stringer oder Vermittler. Es gibt viele Namen für Medienprofis, die in den Berichten nie erwähnt werden, die aber für die Arbeit in Gaza obgligatorisch sind. Gleich, ob Al Jazeera oder ARD, alle Netzwerke arbeiten mit lokalen Stringern, die eine offizielle Akkreditierung des Medienbüros der Hamas besitzen. Sie recherchieren Tatsachen, planen Interviews und buchen Studios. Sie verlangen einen Tagessatz, der von ihren Fähigkeiten und ihren Kontakten abhängt. In die Hölle zu gehen, ist nicht kostenlos. Ich arbeite ohne Stringer. Ich wandere unabhängig durch die Straßen des Gazastreifens. Überall treffe ich Menschen, die zu kämpfen haben, die wirklichen Herausforderungen gegenüberstehen. Wenn man in Gaza ist, ist man immer am richtigen Ort, egal zu welcher Zeit. Es gibt den Kampf für Freiheit und Würde in jeder Straße und an jedem Ort in Gaza. Man braucht eigentlich einen Stringer, um darüber zu berichten. Aber die Hamas möchte Auslandskorrespondenten mit einem Stringer, dem sie vertraut, um sicherzugehen, daß man Gaza nicht auf eigene Faust erkundet.

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Straßenszene in Gaza mit einer dunklen Rauchwolke nach einer Explosion.
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Ich wohne nicht in einem Hotel, ich schlafe in einem Haus auf dem Fußboden. Wie jeder andere in Gaza. Es gibt zum Beispiel einen Kindergarten im Zentrum von Gaza-Stadt. Sein Besitzer beherbergt 1000 Binnenflüchtlinge, die auf dem Fußboden der Gruppenräume schlafen.

Anna, die für eine Zeitung in Katalonien aus Gaza berichtet, sagt, es sei zu gefährlich, sich in einem privaten Haus aufzuhalten, weil es angegriffen werden könnte. Ich bin der Meinung, daß es in einem Hotel nicht sicherer ist als in einem Privathaus, weil auch ein Hotel, aus Versehen zum Beispiel, angegriffen werden könnte. Am Ende unserer Unterhaltung sind wir uns einig, daß der Aufenthalt in Gaza unter Feuer sowieso eine Lotterie darstellt. Es gibt keine Zuflucht in Gaza. Es gibt im wahrsten Sinne des Wortes keinen sicheren Platz in Gaza.


Postskriptum:

26. Juli, Erez ist üblicherweise am Samstag geschlossen.

Am 27. Juli schreibt die FPA: "Wir haben erfahren, daß die Situation in Gaza komplexer geworden ist und empfehlen aus diesem Grund, daß Journalisten ihre Hotels zu zweit oder zu dritt verlassen und vermeiden, allein auszugehen. Bitte tragen Sie Ihren Paß und gültigen internationalen (Unternehmens-) Presseausweis zu jeder Zeit bei sich."

Am 28. Juli ist der Übergang von Erez nach Gaza oder aus Gaza unmöglich.

Die nächste Gelegenheit für Journalisten, nach Gaza einzureisen oder auszureisen ist am 29. Juli.

Porträt - Foto: © 2014 by Martin Lejeune

Martin Lejeune
Foto: © 2014 by Martin Lejeune
Martin Lejeune ist freier Journalist und arbeitet unter anderem für ARD, dpa, Neues Deutschland und taz.

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Quelle:
Martin Lejeune
Freier Journalist, Berlin
derzeit: Gaza-Stadt
Der Tagebuchabschnitt "Gaza-Stadt - Dienstag 22. bis Samstag 26. Juli 2014"
erscheint in einer Übersetzung der Redaktion Schattenblick aus dem Englischen
Facebook: www.facebook.com/lejeune.berlin
Blog: martin-lejeune.tumblr.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2014