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SYRIEN/005: Wer kämpft gegen wen? (ZLV)


Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek - 15. Februar 2012

Wer kämpft in Syrien?

Karin Leukefeld, Damaskus - Mittwoch 15. Februar 2012


Das harte Vorgehen der syrischen Sicherheitskräfte gegen die junge Protestbewegung im März und April 2011 hatte zwei Entwicklungen zur Folge. Teilnehmer der ländlichen Protestbewegung bewaffneten sich und der friedliche Protest für eine politische Veränderung in Syrien wurde verdrängt. Rasch wurden aus Jordanien, Libanon und der Türkei Waffen, Munition und Kommunikationstechnologie (Satellitentelefone) ins Land geschmuggelt, die militärische Eskalation und der Medienkrieg nahmen ihren Lauf.

In den Städten und Provinzen von Homs, Idlib, Deraa und in einigen Satellitenstädten, die die Hauptstadt Damaskus umringen, sind bewaffnete Akteure unterschiedlicher Couleur in einen mörderischen Kampf verbissen, der auf allen Seiten mit hohem Blutzoll bezahlt wird. Die Zivilbevölkerung ist zur Geisel geworden. Die Menschen schließen sich ein oder fliehen vor den Kämpfen, sofern es ihnen möglich ist. Fortschrittliche oppositionelle Kräfte finden kein Gehör.

Auf staatlicher Seite sind Teile der syrischen Streitkräfte in direkte Kämpfe mit der bewaffneten Gegenseite eingebunden. Es gibt die bewaffneten Kräfte unterschiedlicher Geheimdienste und des Innenministeriums. Zum Einsatz kommt außerdem eine als »Schabiha« (Geister) bekannt gewordene Miliz, die direkt im Dienst des Machtapparates im »System Assad« steht. Entgegen wiederholter Vorwürfe, die Armee werde gegen friedliche Demonstranten eingesetzt, kommt sie nach Aussage von Beobachtern verschiedener Seiten ausschließlich gegen bewaffnete Gruppen zum Einsatz.

Offiziell wird Fahnenflucht eingeräumt, weshalb im Herbst 2011 eine umfassende Amnestie für Deserteure verkündet wurde, sofern sie nicht in Gewalttaten verwickelt waren. Desertierende Offiziere gibt es kaum. Von den Soldaten, die desertieren, gingen die meisten einfach nach Hause, weil sie nicht an den Kämpfen teilnehmen wollten, erklärt ein Beobachter unter Berufung auf militärische Kreise. Diejenigen, die sich der »Freien Syrien Armee« oder anderen bewaffneten Gruppen anschließen, seien sunnitische Muslime, die den Kampf gegen »die alawitische Vorherrschaft« unterstützten, den die (in Syrien verbotene) Muslimbruderschaft bereits Ende der 1970er Jahre aufgenommen hatte.

Von verschiedenen diplomatischen und humanitären Kreisen in Damaskus wird der bewaffnete Aufstand gegen das »System Assad« und dessen Machtapparat »zu 80 Prozent als religiös fundamentalistisch« von Seiten sunnitischer Muslime eingestuft. Dazu zählen Kämpfer der »Freien Syrischen Armee«, über deren Stärke nur spekuliert werden kann, und Kämpfer der Muslimbruderschaft, die zumeist aus der Türkei eingeschleust werden. Al Kaida ähnliche Gruppen und dogmatische Salafisten, die aus dem Libanon, Jordanien und Irak eingeschleust werden, zählen ebenfalls dazu. Salafisten sind eine Abspaltung des Wahabitentums, das in Saudi Arabien und Katar zu Hause ist. Salafisten bezeichnen Schiiten - zu denen auch die Alawiten gezählt werden - als »Ungläubige« und als »verlängerter Arm der Islamischen Republik Iran« und der libanesischen Hisbollah.

Die restlichen 20 Prozent der bewaffneten Kämpfer setzen sich aus Milizen, Beduinen und Söldnern zusammen, die für ihre Teilnahme am bewaffneten Aufstand bezahlt werden oder am Schmuggel von Waffen oder anderem verdienen. Kriminelle nutzen das Geschehen vor allem durch Entführungen auf eigene Rechnung aus. Bewaffnete Angehörige von Großfamilien oder Stämmen tragen langjährige Streits untereinander oder mit den staatlichen Sicherheitskräften aus.

Die Finanzierung der bewaffneten Gruppen wird - nach Aussage der »Freien Syrischen Armee« - von reichen Geschäftsleuten aus den Golfstaaten getragen. Plünderungen und Zerstörungen werden aus Orten wie Zabadani gemeldet, nachdem dort bewaffnete Kräfte die Kontrolle übernahmen.

In Homs, Idlib und Jisr as-Shoughour, aber auch aus der südlichen Provinz Deraa gibt es deutliche Hinweise für einen konfessionellen Konflikt. Sunnitische Milizen entführen, drangsalieren und töten Alawiten oder Schiiten, die ebenfalls Milizen gebildet haben und zurückschlagen. Allein in Homs wurden im Laufe der letzten Monate mehr als 100 alawitische Frauen entführt und bis zu zwei Monaten festgehalten, um Lösegeld oder die Freilassung von Mitstreitern zu erpressen. Viele der Frauen wurden vergewaltigt, gequält oder getötet. Milizen der betroffenen Familien oder Bevölkerungsgruppen rächen sich, indem sie sunnitischen Frauen das Gleiche antun.

Seit der Machtübernahme des »Systems Assad« gilt eine rigorose Trennung von Religion, ethnischer Zugehörigkeit und Politik in Syrien. Das konnte nicht verhindern, daß die konfessionelle Zugehörigkeit im aktuellen Konflikt immer mehr in den Vordergrund tritt. Aus Kreisen der Opposition wird dem herrschenden »System« vorgeworfen, es wolle mit der Warnung vor einem konfessionellen Bürgerkrieg die Bevölkerung gegen die Aufständischen aufbringen. Ein Gesprächspartner in Damaskus kommentierte das mit den Worten: »Die einzige Hoffnung der Regierung ist es, die säkulare Karte zu spielen«.


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2012