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WESTSAHARA/068: Die MINURSO wird 20 Jahre (inamo)


inamo Heft 65 - Berichte & Analysen - Frühjahr 2011
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Westsahara: Die MINURSO wird 20 Jahre

Von Axel Goldau


Am 29. April wird die Mission der Vereinten Nationen für ein Referendum in der Westsahara MINURSO (Misión de las Naciones Unidas para el referéndum del Sáhara Occidental) 20 Jahre alt. Mit seiner Resolution 690 hat der Weltsicherheitsrat den Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen "Zur Lage der Westsahara" S/22462 vom 19. April 1991 gebilligt und das MINURSO-Mandat erteilt. Laut Charta der Vereinten Nationen, Kapitel V, Art. 24 (1), trägt der Weltsicherheitsrat "... die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und die internationale Sicherheit". Dies bedeutet, dass die Vereinten Nationen in der Westsahara den Weltfrieden und die internationale Sicherheit bedroht sehen - und das seit nunmehr 20 Jahren!

Flüchtlingsjugend beim Volleyballspiel im Lager Al-Aaiún. - © Axel Goldau, redaktion@kritische-oekologie.de

Flüchtlingsjugend im Lager Al-Aaiún
© Axel Goldau, redaktion@kritische-oekologie.de

Weltfrieden und internationale Sicherheit werden in der Westsahara unmittelbar von dem Königreich Marokko bedroht, das seit 1975 weite Teile des Gebietes besetzt hat und z.Zt. etwa 2/3 des Territoriums im Westen des Landes samt der etwa 1.000 km langen Küste und dem vorgelagerten, fischreichen Seegebiet kontrolliert. Mittelbar bedrohen aber auch alle diejenigen Frieden und Sicherheit, die "Realpolitik" betreiben und Marokko gewähren lassen sowie alle, die Produkte aus der Westsahara erwerben und Marokko dafür bezahlen. "Realpolitik" - also die faktische Anerkennung des Anspruchs Marokkos über das gesamte Gebiet - bedeutet Kriegspolitik; denn Marokko könnte mit friedlichen Mitteln niemals die Kontrolle über das gesamte Gebiet erlangen.(1)

Bedroht ist aber vor allem die Sicherheit der eigentlichen Bewohner der Westsahara, der Saharauis, seit Beginn der marokkanischen Besatzung. Anfangs schreckten die marokkanischen Aggressoren nicht davor zurück, zivile Flüchtlinge mit Napalm und Phosphor zu bombardieren und so aus ihrem Land zu vertreiben. Heute ist die Lage der Menschenrechte in den besetzten Saharagebieten eine der schlimmsten dieser Welt.(2) Das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte der UN führte 2006 eigene Recherchen zur Lage der Menschenrechte sowohl in den besetzten als auch den befreiten Teilen der Westsahara und den Flüchtlingslagern in Algerien durch. Den nie veröffentlichten Bericht hat die internationale Zivilgesellschaft zum Anlass genommen, den Weltsicherheitsrat aufzufordern, die Beobachtung der Lage der Menschenrechte ins MINURSO-Mandat mit aufzunehmen.

Am 30. April wird der Sicherheitsrat unter kolumbianischer Präsidentschaft erneut über die Westsahara und die MINURSO beraten. Und erneut wird die Forderung an den Rat herangetragen, die Lage der Menschenrechte im Mandatsgebiet zu beobachten und zu dokumentieren. (3) Bisher konnte sich Marokko auf seinen Verbündeten mit Veto-Recht im Sicherheitsrat, Frankreich, stets verlassen und wurde sogar fortlaufend über die Beratungen im Rat konsultiert, sodass Marokko faktisch als sechste Vetomacht mit im Sicherheitsrat saß. Aber die französische Außenpolitik ist in Verruf geraten: Noch kurz vor seiner Flucht hat Frankreich dem tunesischen Diktator polizeilich-militärische Unterstützung für die Niederschlagung der Revolte und zunächst auch politisches Asyl angeboten. Frankreichs Außenministerin, Michele Alliot-Marie, ist mittlerweile wegen persönlicher Vorteilsnahme aus ihren engen Beziehungen zum gestürzten tunesischen Regime zurückgetreten. Dass sie kurz vor Ben Alí's Flucht die Ausfuhr von Tränengas und anderem "Sicherheitsmaterial" noch genehmigt hatte, wurde ihr nicht zum Verhängnis. (4) Und es war der französische Staatspräsident höchst persönlich, der es 2007 gar nicht erwarten konnte, den damals gerade zum "guten Diktator" mutierten Qaddhafi mit Atomkraftwerken zu beliefern. Nicht ohne Grund fragen deshalb CSFR und BUND, was wohl wäre, wenn Qaddhafi mittels der "friedlichen Nutzung" französischer Atomkraft die Bombe gebaut hätte? (5)

Die Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit der marokkanischen Besatzung gehen keinesfalls nur von den "Sicherheitskräften" aus. Im Zusammenhang mit der Unabhängigkeit Ost-Timors deutet sich auch für die Westsahara eine "indonesische Lösung" an: Die Kolonialmacht hatte 1999 Siedler bewaffnet, die nach dem Unabhängigkeitsreferendum unter der timoresischen Bevölkerung wüteten. Seither wird hin und wieder auch von derartigen Übergriffen auf die saharauische Bevölkerung berichtet, die auf Grund marokkanischer Siedlungspolitik bereits zur Minderheit im eigenen Land gemacht worden ist. Bei Manuskriptabschluss Ende Februar haben marodierende Siedlerbanden nach Augenzeugenberichten saharauische Wohnviertel in Dakhla und deren Autos verwüstet, Menschen angegriffen und verletzt. Den marokkanischen "Sicherheitskräften" wird vorgeworfen, hier nicht zum Schutze der Angegriffenen einzuschreiten.

Mit der Erfolglosigkeit der Vereinten Nationen bei der Erfüllung ihres Dekolonisierungsauftrags und der Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts für die Saharauis gegenüber der marokkanischen Kolonialmacht steigt die Frustration und Enttäuschung der saharauischen Bevölkerung, und zwar diesseits und jenseits der "Mauer der Schande", die sich über 2.400 km durch die Wüste zieht, und den besetzten von dem befreiten Teil des Landes trennt. Seit Mai 2005 tragen die Menschen in den besetzten Gebieten ihren Unmut verstärkt auf die Straße: Die saharauische Intifada beginnt und soll bis heute noch andauern. Die Menschen haben das Vertrauen in die internationale Gemeinschaft verloren, die nicht willens ist, den Saharauis zu ihrem Selbstbestimmungsrecht zu verhelfen und es vorzieht, den Kolonialismus in neuem Gewande aufrechtzuerhalten und die Feudalstrukturen im befreundeten Königreich Marokko zu stabilisieren. Die Menschen haben gelernt, dass sie auf sich gestellt sind.

Die Kolonialmacht reagiert mit unangemessener Härte und Brutalität: "Die Verletzung der territorialen Integrität" des "erweiterten" Königreichs wird zum Schwerstverbrechen. Diese Terrorgesetzgebung richtet sich ausschließlich gegen all jene, die "der Marokkanität" der Westsahara widersprechen; denn die Grenzen des Königreichs von 1975 werden von niemandem in Zweifel gezogen. Die Kolonialmacht versucht zunächst mit drakonischen Haftstrafen die saharauische Intifada zu brechen, was ihr aber nicht gelingt. Trotz Nachrichtensperre erreicht die massive Repression in der Westsahara die Weltöffentlichkeit: Das Königreich droht seinen Glanz und der junge König seinen Ruf als "moderater Reformer" zu verlieren. Der Druck der internationalen Zivilgesellschaft - nicht etwa der von Regierungen - bewirkt, dass das Strafmaß zumeist deutlich gesenkt werden muss (6), aber die Repression bleibt den Saharauis bis heute nicht erspart.

Nicht nur wegen seiner brutalen Kolonialpraktiken gerät Marokko zunehmend in die Kritik. Auch in den Verhandlungen mit den Vereinten Nationen kann das Königreich seine destruktive Rolle immer schwieriger verbergen, nachdem es 2003 den "Baker Plan II" (S/2003/565, Annex II), der weitest gehende Konzessionen gegenüber dem Königreich beinhaltet, brüsk abgelehnt hat. (7) Um zu verhindern, dass sich auch noch bei seinen Freunden und Geschäftspartnern in der Welt das Image des "bad guys" festsetzt, muss Marokko politische Initiative ergreifen. Dank tatkräftiger Hilfe vor allem Frankreichs ist der eigentliche Charakter dieses Konfliktes, nämlich die Kolonisierung der Westsahara durch das Königreich Marokko, aus den Resolutionen des Sicherheitsrates stets herausgehalten worden.

Wie im Falle der Rolle von Siedlern (s. o.) zeichnet sich auch hier eine weitere Parallele zwischen dem Palästina- und den Westsahara-Konflikt ab: Sowohl Israel als auch Marokko können ungestraft gegen Resolutionen der Vereinten Nationen verstoßen, weil jeweils eine Vetomacht schützend ihre Hände über sie hält: Was für Marokko Frankreich ist, ist für Israel die USA. Für Israel kommt auch noch die EU mit ihren beiden Vetomächten Vereinigtes Königreich und Frankreich hinzu.

Nachdem Marokko alle Schritte zu einem ernsthaften Referendum erfolgreich vereiteln konnte, sollen seit 2006 nun "die Konfliktparteien" - das ist einerseits das Königreich Marokko als Kolonialmacht und die Frente Polisario (8) als Vertretung der kolonisierten Bevölkerung andererseits - in direkten Verhandlungen unter der Schirmherrschaft des Generalsekretärs der Vereinten Nationen "eine gerechte, dauerhafte und von beiden Seiten akzeptierte politische Lösung" finden. (9) Statt die Dekolonisierung gegenüber einer Kolonialmacht durchzusetzen, verlangt der Sicherheitsrat von den Unterdrückten und Kolonisierten, selber an einer "politischen Lösung" mitzuwirken, die aber bitteschön auch die Zustimmung ihrer Unterdrücker und Kolonisatoren finden muss!

Da Marokko eine völkerrechtskonforme Lösung nie akzeptiert hat, weil es wohl zu Recht fürchtet, dass ein freies Referendum niemals den Anschluss der Westsahara ans Königreich zum Ergebnis hätte, müssen andere Vorschläge her, über die man dann gerne "verhandeln" kann: Und so kündigt Marokko "eine Autonomielösung auf höchstem Niveau und bestem internationalen Standard" an. (10)

Geblieben sind die Intifada und die Repression. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Errichtung von "Lagern der Würde", Zeltstädte in der Wüste, ab Mitte Oktober vorherigen Jahres. (11) Hierzu bemerkte kürzlich kein geringerer als Noam Chomsky: "Tatsächlich nahm die momentane Protestwelle ihren Anfang letzten November in der Westsahara, die seit einer brutalen Invasion und Okkupation von Marokko beherrscht wird. Die marokkanischen Kräfte kamen und zerstörten Zeltstädte, töteten und verletzten viele Menschen ... Und dann sprang der Funke über" (Übersetzung: -ag). (12)

Diplomaten haben schon vor mehr als zehn Jahren hinter vorgehaltener Hand versichert, dass ein Referendum niemals stattfinden werde. Aber diese Diplomaten haben sich vielleicht auch nicht träumen lassen, dass ein Ben Alí und Mubarak die Koffer packen müssen, weil ihre Völker sie dazu gezwungen haben. Am Ende des Monats hat die große Politik mal wieder Gelegenheit unter Beweis zu stellen, ob ihr die Menschenrechte mehr bedeuten als rhetorisches Beiwerk in Sonntagsreden.


Axel Goldau ist Redakteur/Herausgeber der Kritischen Ökologie: www.ifak-goettingen.de


Anmerkungen:

(1) Ruiz Miguel, Carlos (2010): The Peace Process in Western Sahara: A Failure of Formulas or a Failure of Implementation; Western Sahara's unresolved issues; Internat. Symp., Ljubljana 15th Febr. 2010.

(2) Freedom House Report:
http://www.freedomhouse.org/uploads/WoW/2006/Morocco2006.pdf

(3) Eine internationale Kampagne wird von Western Sahara Campaign, UK. koordiniert: http://wsahara.org.uk

(4) Waffenexporte im Zwielicht; Wiener Zeitung online vom 21.02.11: www.wienerzeitung.at

(5) CSFR Comité pour la Sauvegarde de Fessenheim et de la Plaine du Rhin und der Bund für Umwelt und Naturschutz - Regionalverband Südlicher Oberrhein in einer Pressemitteilung vom 22.02.2011.

(6) s. z.B.: Delius, U.: Eine Chronik des Jahres 2006: Schwere Menschenrechtsverletzungen in der Westsahara: http://www.gfbv.de/report.php?id=22

(7) Goldau, A. & Ruf, W. (2006): Die UN-Generalsekretäre kommen und gehen - doch der Dekolonisierungskonflikt um die Westsahara bleibt bestehen; Kritische Ökologie Nr. 66 (Spezial: Westsahara-Zeitung); Göttingen / Berlin; online unter: www.arso.org/WSZ0106.pdf

(8) Frente Popular para la Liberación de Saguía el Hamra y Río de Oro (Volksbefreiungsfront von Saguía el Hamra und Río de Oro).

(9) Resolution des Sicherheitsrats vom 30. April 2010: S/RES/1920.

(10) Nähere Einzelheiten s. INAMO Nr. 50, 49ff. 2007.

(11) Mehr hierzu s. INAMO Nr. 64, 55. 2010.

(12) Noam Chomsky, 17 Feb, Democracy Now: http://www.democracynow.org



Veranstaltungshinweis

Filmvorführung und Podiumsdiskussion
Saharauische Frauen - Leben und Überleben im Exil

• Mo, 20. Juni um 18:00 - Robert-Havemann-Saal
Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin
Telefon 030 - 2043506
http://www.hausderdemokratie.de

• Mi, 22. Juni um 21:00 in der Z-BAR
Bergstr. 2, 10115 Berlin
Telefon 030 - 283 89 121
http://www.z-bar.de/

Weitere Informationen zu den beiden Veranstaltungen finden Sie unter:
http://www.ifak-goettingen.de/ifak/index.php?option=com_content&task=view&id=95&Itemid=120


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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 65, Frühjahr 2011

Gastkommentar
- Wie gefährdet ist die Revolution in Ägypten? Von Mamdouh Habashi

Ägypten
Die Institutionalisierung der Revolution: Regimewandel in Ägypten, von Holger Albrecht
Das jähe Ende von Mubaraks Corny Capitalists - Großunternehmer und die Revolution, von Torsten Matzke
Das Referendum, von Ivesa Lübben

Bahrain
- Abriss oder Renovierung? Opposition in Bahrain, von Sabine Damir-Geilsdorf

Irak
- Auch im Irak wächst eine Protestbewegung, von Joachim Guilliard

Jemen
- ... ein letzter Tanz auf den Köpfen der Schlangen, von Mareike Transfeld

Libyen
- Omar Mukhtar, von Jörg Tiedjen
- Libyen auf Messers Schneide, von Nicolas Pelham
- Über Prinzipien und Risiken, von MERIP
- Libysche Entwicklungen, von Gilbert Achcar
- Der NATO-Eunsatz in Libyen ist (Öl-)interessengeleitet, von Andreas Buro und Clemens Ronnefeldt
- "Odysee-Morgendämmerung" oder "Trojanisches Pferd", von Djamel Labidi
- Bomben für die Menschenrechte? Daniel Mermet im Gespräch mit Rony Brauman

Syrien
- Asads verpasste Gelegenheiten, von Carsten Wieland

Tunesien
- Die Demokratie nimmt Gestalt an, von Werner Ruf

Sudan
- Der neue Nordsudan - kommt nach der Landesspaltung der Volksaufstand? von Roman Deckert und Tobias Simon

Westsahara
- Die MINURSO wird 20 Jahre, von Axel Goldau

Kultur
- Cinema Jenin und kein Frieden, von Irit Neidhardt

Wirtschaftskommentar
- Irak: Mangelversorgung trotz Ölreichtum, von Joachim Guilliard

Zeitensprung:
- Besetzung des Golan 1967: "Wir träumen von Freiheit", von Taiseer Maray

ex mediis
Abdullah Öcalan: Verteidigungsschriften /
Holger Albrecht (Hg.): Contentious Politics in the Middle East /
Christopher A. Preble: The Power Problem /
David Hirst: Beware of Small States /
Race & Class: "Foreign Prisoners" in Europe /
Moshe Zuckermann: "Antisemit"
von Werner Ruf, Thomas Demmelhuber, Malcolm Sylvers, Dagmar Schatz, Tamar Amar-Dahl

Nachrichten/Ticker


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Quelle:
INAMO Nr. 65, Jahrgang 17, Frühjahr 2011, Seite 61-62
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2011