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HUNGER/230: Macht zu viel Handel Hunger? (Böll Thema)


Böll THEMA - Das Magazin der Heinrich-Böll-Stiftung - Ausgabe 2/2010
Landwirtschaft und Klimawandel

Macht zu viel Handel Hunger?

Streitgespräch über Welternährung und die Rolle des Agrarhandels bei der Bekämpfung des Hungers zwischen Marita Wiggerthale (Oxfam-Deutschland) und Klaus-Dieter Schumacher (Handelsunternehmen Toepfer-International)
Moderation: Christine Chemnitz


Christine Chemnitz: Wie wichtig ist der Agrarhandel für die Ernährung der Welt?

Klaus-Dieter Schumacher: Die UN-Organisation Landwirtschaft und Ernährung (FAO) hat im Oktober 2009 eine Schätzung vorgelegt, dass die Lebensmittelproduktion bis 2050 um 70 Prozent steigen muss. Aus unserer Sicht scheint die Größenordnung realistisch. Das heißt, dass wir bereits bis 2020 enorme Anstrengungen unternehmen müssen, um der steigenden Nachfrage durch Bevölkerungswachstum, Einkommenssteigerung, Veränderung der Essgewohnheiten und Urbanisierung Rechnung zu tragen. Wir können diese Steigerung schaffen, auch in nachhaltiger Weise. Doch um den Hunger zu verringern, ist die Produktion von Lebensmitteln nicht der einzige Gradmesser, es kommt auch auf die Verteilung an.

Chemnitz: Wie bewerten Sie die Rolle der großen Agrarhandelsunternehmen bei der Ernährungssicherheit der Welt?

Schumacher: Das ist nicht eindeutig zu beantworten. Exporte aus der EU, Argentinien oder Nordamerika etwa nach Nordafrika leisten selbstverständlich einen Beitrag zur Ernährungssicherheit, weil dort sonst weniger Nahrungsmittel auf die Märkte gelangten. Allerdings sollten die Industrieländer nicht wie in der Vergangenheit den Export mit direkten Subventionen unterstützen. Solch eine Politik hat in vielen Gebieten die heimische Produktion nachhaltig geschädigt.

Marita Wiggerthale: Handel ist ja nicht per se problematisch, es gibt natürlich Länder, die ihre Nachfrage nicht komplett mit einheimischer Produktion bedienen können. Doch: Zu viel Handel macht Hunger. Der Freihandel wird von den Handelsunternehmen, der Ernährungsindustrie und den großen Konzernen forciert. Gerade im Getreidehandel haben wir eine hohe Konzentration, fünf Händler kontrollieren rund 70 Prozent weltweit. Die Kontrolle der Konzerne über Ressourcen wie Land und Wasser nimmt zu und sie verdrängen die einheimische Produktion durch ihre Importe.

Schumacher: Zu viel Handel macht Hunger? Nein, im Gegenteil! Der Reismarkt in der ersten Jahreshälfte 2008 war ein Paradebeispiel dafür, wie zu wenig Handel Hunger verursacht. Nehmen Sie die Exportembargos, die Länder wie China, Brasilien, teilweise auch Indien damals für Reis beschlossen hatten. So wurde das Angebot auf dem Weltmarkt künstlich verknappt, obwohl die Nachfrage da war.

Die egoistische Innenpolitik dieser Länder, die Preise bei sich möglichst niedrig zu halten, hat die anderen Entwicklungsländer viel stärker getroffen, als es die Angebotsengpässe auf dem Weltmarkt konnten. Zur Marktmacht generell und zur Liberalisierung: Sie überschätzen den Einfluss der Handelsunternehmen auf die Preisbildung. Es gibt zumindest bei pflanzlichen Produkten kein Unternehmen, das einseitig in der Lage wäre, die Preise von heute auf morgen substanziell zu bewegen. Dagegen spricht die große Transparenz auf diesen Märkten.

Wiggerthale: Wenn Sie eine Liberalisierung in Bereichen forcieren, in denen einheimische Produkte mit den Importen nicht konkurrieren können, wird die einheimische Produktion verdrängt und den Bauern gehen Einnahmen verloren. Das meine ich mit: « zu viel Handel ». Also ein Handel, bei dem die Zölle nicht so ausgestaltet sind, dass sie die kleinbäuerlichen Produzenten effektiv schützten.

Zur Reiskrise: Da kommen längerfristige Faktoren ins Spiel, weil die Regierungen entweder selbst oder gezwungen durch IWF und Weltbank eine Liberalisierung der Märkte durchgesetzt hatten. Nehmen Sie Haiti. Vor 20 Jahren war das Land Selbstversorger. 1995 wurden durch Strukturanpassungsprogramme die Reiszölle von 50 auf drei Prozent gesenkt. Inzwischen werden 80 Prozent importiert und es gibt großen Hunger in den Anbaugebieten. Oder Honduras. Dort wurden nach dem Hurrikan Ende der 1990er-Jahre die Reiszölle gesenkt, da die Nachfrage da war. Letztendlich haben die Importe aber dazu geführt, dass die eigene Produktion um 86 Prozent zurückgegangen ist. Der Sektor ist praktisch kollabiert.

2008 ist es in der Tat so gewesen, dass es Exportbeschränkungen u. a. von Indien gab. Dies war aus nationaler Perspektive nachvollziehbar, weil es einen Inflationsdruck in Indien gab und die Regierung die Exportbeschränkungen als Mittel betrachtete, die Inflation niedrig und die einheimischen Preise stabil zu halten. Dadurch entstand eine Angst vor Verknappung, es kam zu Panikkäufen auf den Philippinen. Spekulanten kamen. Es entstand eine Teuerungswelle. Die Schlussfolgerung ist aber für mich nicht: Exportbeschränkungen sind per se problematisch und deswegen brauchen wir mehr Freihandel. Was wir brauchen ist mehr Koordination.

Schumacher: Es wird zu einem Wachstum der Nachfrage kommen, und weil es in vielen Ländern Ungleichgewichte zwischen Produktion und Nachfrage vor Ort geben wird, brauchen wir Handel. Wie wir ihn gestalten, ist eine zweite Frage. Es sollte nur nicht zu einem Bashing des Handels als Ursache aller Probleme kommen. Es ist zu einseitig, mit dem Finger allein auf die westlichen Industrieländer zu zeigen, die für eine weitere Liberalisierung sind. Das ist nur ein Teil des Problems. Der andere Teil sind die Rahmenbedingungen, wie es sie in vielen Entwicklungsländern gibt. Wie werden Importbestimmungen für Getreide gehandhabt? Wer verdient daran im Inland? Wie wird die Verteilung vorgenommen? Wie hoch ist die Korruption? Dahinein spielen Themen wie Lagerhaltung, Logistik, Distribution - ein Riesenfass, das es aufzumachen gilt.

Wiggerthale: Ich sehe Ihre Unterscheidung zwischen Handel und Freihandel. Trotzdem: Wie hat sich denn die Agrar- und Ernährungsindustrie nach der Nahrungsmittelkrise positioniert? Wir von Oxfam haben dazu eine Studie in Auftrag gegeben. Deutlich wurde, dass die Industrie an zwei Enden Druck macht: Sie will die Handelsbeschränkungen aufheben und die Gunst der Stunde nutzen, Gentechnik als Mittel gegen den Hunger voranzutreiben. In der Tat besteht auch bei den nationalen Rahmenbedingungen Handlungsbedarf: Schutz durch Zölle, Stärkung der lokalen Märkte, Unterstützung der kleinbäuerlichen Produktion, Bereitstellung von Beratungsdienstleistungen, Minimierung von Ernteverlusten, Verbesserung von Infrastruktur, Anschluss der Kleinbauern an die lokalen Märkte ...

Schumacher: Bei der Verbesserung von Infrastruktur, Logistik, Anbindung an lokale und regionale Märkte können und werden die großen Handelsunternehmen aller Voraussicht nach eine wichtige Rolle spielen. Wir können helfen, diese Märkte zu entwickeln, etwa durch Einführung von Marktinformationssystemen. Das muss nicht Aufgabe einer Regierung sein, das kann - vielleicht sogar effizienter - im Rahmen von Public Private Partnership (PPP) passieren. Voraussetzung für Handels- wie Verarbeitungsunternehmen bleibt natürlich die Parallelität: die Entwicklung lokaler und regionaler Märkte und deren Annäherung an die Weltmärkte. Dabei muss die lokale Entwicklung Priorität haben.

Wiggerthale: PPP - da sind wir skeptisch. Das hat mit der starken Position der Unternehmen zu tun. Wenn Sie von Infrastruktur reden, frage ich: Nutzt es den Kleinbauern wirklich, an Märkte angeschlossen zu werden? Oder geht es nur um die großen Routen, die zum Hafen führen, also um Infrastruktur für den Export? Eine Anbindung der Bauern an die lokalen Märkte kann hilfreich sein, aber es gibt bei PPP auch Befürchtungen... Wenn etwa eine Supermarktkette die Fortbildung von Kleinbauern organisiert, ist das für sich genommen positiv. Wenn sich aber herausstellt, dass durch solche Verträge den Bauern die Preise diktiert werden? Unsere Sorge ist, dass es sich bei PPP nur um Leuchtturmprojekte handelt und sich an der Unternehmenspolitik im Sinne gleichrangiger Verfolgung von sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Zielen nichts oder nur wenig ändert.

Schumacher: Ich habe nichts gegen Leuchtturmprojekte, und ich würde mir wünschen, dass Sie weniger negativ an diese Projekte herangehen. Manchmal kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es eine Konkurrenz zwischen NGOs und Unternehmen gibt. Dabei gibt es so viele Ansatzpunkte für Partnerschaften gegen Versorgungsdefizite: Zum Beispiel haben wir südlich der Sahara in der Kette vom Landwirt bis zur Verarbeitung zehn bis 25 Prozent Verluste - das Getreide wird nicht vernünftig gelagert, es gibt keinen guten Vorratsschutz etc.

Chemnitz: Wie wollen Sie die Produktion steigern?

Schumacher: Über Preisanreize. Die Reaktion der Landwirte auf die hohen Preise 2007, 2008 haben gezeigt: Wenn Preisanreize da sind, wird mehr produziert. Es gibt ja Gründe dafür, warum wir 2008 und 2009 die höchsten Getreideernten in der Welt einbrachten. Natürlich hing das auch mit dem Wetter zusammen, aber es wurde in vielen Regionen der Welt auch mehr angebaut. Das wird in diesem Jahr schwieriger, so wie das Preisniveau jetzt ist. Wir müssen differenzieren: «Möglichst billig» ist nicht unsere Philosophie. «Möglichst billig» ist die Philosophie vieler Verbraucher und Supermarktketten in den Industrieländern. Um es ganz deutlich zu sagen: Höheres Preisniveau bedeutet auch für ein Handelsunternehmen eine bessere Marge.

Wiggerthale: Wobei die Bauern über keine Verhandlungsmacht verfügen und die Preise hinnehmen müssen. Und es ist ja auch nicht per se in Ihrem Interesse, die Bauern hoch zu bezahlen.

Schumacher: Die entscheidende Frage ist: Wieweit sind die Preise, die die Bauern erwarten, beim Verbraucher bzw. Lebensmitteleinzelhandel durchzusetzen? Da beginnt die Geschichte: Was will der Verbraucher bezahlen? Ich bin nicht in jeder Beziehung mit dem Deutschen Bauernverband einverstanden, aber eine Sache finde ich wichtig: Lebensmittel sind mehr wert. Diese Diskussion müssen wir führen. Ich komme selber vom Bauernhof und weiß, wie schwierig es ist, mit den Abnehmern von Agrarprodukten zu verhandeln. Ich weiß aber auch, dass der Druck auch auf die anderen Glieder der Kette groß ist. Wo kommt dieser Druck her? Warum haben wir diese Konzentration in der Agrar- und Ernährungsindustrie? Alle Marktteilnehmer stehen unter dem Druck, immer günstigere Nahrungsmittelpreise zu ermöglichen. Das ist die Crux.

Wiggerthale: In einem liberalisierten Kontext kommen die Marktkräfte in der Wertschöpfungskette voll zum Tragen, und wer die stärkste Marktmacht hat, wird seine Konditionen durchsetzen. Die Bauern sind es auf jeden Fall nicht, auch nicht die Arbeiter, sondern die Händler, die verarbeitende Industrie und der Einzelhandel. Und Toepfer-International ist ein starker Akteur. Ich sage es mal plakativ: Hohe Weltmarktpreise werden an die Verbraucher weitergegeben, niedrige Weltmarktpreise an die Erzeuger.

Schumacher: So stimmt das nicht.

Wiggerthale: Die EU hat das für die Milch analysiert. Da stimmt es. Mit dem Vorwurf « Möglichst-Billig » schieben Sie die Verantwortung auf den Verbraucher, was natürlich immer am leichtesten ist. Aber der Verbraucher kann auch nur das einkaufen, was es im Supermarkt gibt.

Schumacher: In Deutschland haben wir eine besondere Situation durch die ausgeprägte Konkurrenz im Lebensmitteleinzelhandel. Vergessen Sie nicht: Wir können nur dann im Geschäft sein, und wir sind es seit 90 Jahren, wenn wir wettbewerbsfähig sind. Und unsere Wettbewerbsfähigkeit wird von unseren Abnehmern diktiert, vom Lebensmitteleinzelhandel und der verarbeitenden Industrie, nicht vom Landwirt. Es gibt gewisse Möglichkeiten, dem Unterbietungswettbewerb gegenzusteuern, etwa über contract farming. Das tun wir, und das geht auch. Das hat zur Folge, dass es in einigen Bereichen der Ernährungsindustrie ein Umdenken gibt, was wir begrüßen.

Wiggerthale: Wenn Sie von Wettbewerbsfähigkeit reden, kommt automatisch das Argument: der Sachzwang! Wir können nicht anders, weil ... Das macht aber nur deutlich, wie problematisch das Modell ist, das dem Ganzen zugrunde liegt. Wenn ich das akzeptiere, bestimmen die Marktprinzipien mein Handeln. Das aber führt strukturell dazu, dass die ökologischen und sozialen Folgekosten ausgeklammert bleiben, weil sie nicht Teil dieses Geschäftsmodells sind. Wenn es eine Gleichrangigkeit von Umwelt-, Sozial- und Wirtschaftsaspekten gäbe, würde die Argumentation mit dem Sachzwang anders ausfallen. Dann hätten wir eine Entwicklung, die gut für die Umwelt wäre, mehr Arbeitsplätze schaffen und Armut bekämpfen würde. So folgen wir nur der Logik: immer billiger einkaufen, um international wettbewerbsfähig zu sein.

Schumacher: Das kann nicht so stehen bleiben! Wir haben wissenschaftliche Studien, die klar zeigen, dass die Einbindung der Entwicklungs- und Schwellenländer, gerade auch der kleineren Bauern - ich spreche nicht von Subsistenzbauern - in die internationale Arbeitsteilung ihnen erhebliche Vorteile gebracht hat. Zweitens: Bei den sozialen und ökologischen Kosten muss es ein Umdenken geben, und da sind wir bereits auf dem Weg. Aber auch hier muss es eine Akzeptanz der Verbraucher geben. Sie müssen bereit sein, das mitzutragen und zu zahlen. Es wird nicht gehen, die Kosten nur den anderen Partnern der Kette aufzubürden. Das muss zu einer gesamtgesellschaftlichen und gesamtwirtschaftlichen Leistung werden.

Wiggerthale: Wer sich nur auf den Verbraucher verlässt, ist verlassen. Wir brauchen politische Rahmenbedingungen, die das sicherstellen.

Chemnitz: Wie muss der Handel gestaltet sein, dass er zur Minderung des Hungers beiträgt?

Wiggerthale: In einem fairen Welthandelssystem darf kein Land einem anderen schaden, sei es durch milliardenschwere Subventionen, Dumping oder durch die Forcierung einer Marktöffnung, die nicht im Interesse des Importlandes ist. Es muss Spielräume gegeben, so dass jedes Land -ich spreche für die Entwicklungsländer - die eigene Ernährungspolitik bestimmen kann. Auch aus demokratischem Interesse ist es wichtig, dass ein politischer Meinungsbildungsprozess stattfindet, an dem alle gesellschaftlichen Akteure beteiligt sind.

Schumacher: Da sind wir nicht weit auseinander. Das Recht jedes Landes, seine Agrar- und Ernährungspolitik selbst zu bestimmen, steht außer Frage. Mir geht es darum, Vielfalt zuzulassen und nicht von vornherein Blockaden einzuführen. Schutzmöglichkeiten muss es geben, das gilt auch heute noch für einen Teil der Agrarproduktion in Deutschland und der EU. Aber das darf nicht dahin führen, dass es keine ausländischen Direktinvestitionen in die Landwirtschaft mehr geben darf und eine Fast-Autarkie-Politik betrieben wird. Ich plädiere für die Vielfalt der Möglichkeiten.

Chemnitz: Die Lage ändert sich gerade, wir kommen in eine Zeit der hohen Lebensmittelpreise, und zwar durch die Konkurrenz von Futtermitteln, Energiepflanzen und Nahrungsmitteln - das wird eine der Zukunftsdebatten sein. Was ist nötig, um bei den perspektivisch hohen Agrarpreisen Nahrungsmittelsicherheit zu gewährleisten?

Wiggerthale: Auch wenn der Zugang zu den Märkten der Industrieländer verbessert werden sollte, bleibt unser Fokus: Wie können wir die Abhängigkeit vom Weltmarkt reduzieren? Welchen Schutz brauchen wir, um die einheimische Nahrungsmittelproduktion zu fördern? Wichtig ist die Regulierung der Investitionen. Das betrifft die zunehmende Kontrolle der Konzerne über Land und Wasser, die Debatten um Landnahme, die Rolle von Supermarktketten. Natürlich brauchen Entwicklungsländer ausländische Direktinvestitionen, weil diese zur Armuts- und Hungerbekämpfung und zur Entwicklung beitragen, aber Investitionen, die Arbeitsplätze schaffen, ohne die Umwelt zu schädigen! Wir brauchen Vorabinformationen über Verträge, Transparenz, die Beteiligung der Zivilgesellschaft. Wir brauchen eine Ausstiegsklausel, damit in einer Hungerkrise die Versorgung vor Ort Priorität hat vor dem Export von Futtermitteln und Agrartreibstoffen. Es muss Regeln geben, die verhindern, dass Umweltregulierungen als entgangene Gewinne vor dem Gerichtshof eingeklagt werden können. Die soziale und ökologische Regulierung muss als Beitrag zur Entwicklung international abgesichert werden. Nicht allein die Rechte der Investoren, auch ihre Pflichten müssen benannt werden.

Chemnitz: Was wäre besser: Internationale Regulierung oder Rechte und Pflichten bei den jeweiligen Regierungen?

Wiggerthale: Die Pflicht liegt bei den Regierungen, immer im Sinne ihrer Bevölkerung zu handeln. Aber gerade im Agrarbereich gibt es einen starken Bedarf nach internationalen Regeln, die über freiwillige Selbstverpflichtungen hinausgehen.

Schumacher: Notwendig sind beide Ebenen. Nur brauchen internationale Rahmenabkommen viel Zeit. Entscheidender ist: Wir haben großen Bedarf bei den Investitionen in die Landwirtschaft. Wir brauchen auch hierfür ein gewisses Gerüst an Regeln, für die Wirtschaft insgesamt. Den Konflikt über die Energiepflanzen müssen wir genau angucken. Wenn viele Staaten Beimischungsverpflichtungen für Biotreibstoffe implementieren, wird eine vollkommen unelastische Nachfrage geschaffen: Es wird das produziert und beigemischt, was das Gesetz vorschreibt. Das ist sicherlich der falsche Weg im Sinn von Ernährungssicherheit. Trotzdem glaube ich, dass man auch den Biosprit-Bereich erhalten und ausreichend Nahrungsmittel produzieren kann.

Wiggerthale: Wenn die Hungerbekämpfung in den nächsten Jahrzehnten vor wesentlich stärkeren Herausforderungen steht und es von der Kaufkraft abhängt, ob die Menschen sich Lebensmittel kaufen können, muss der Staat eine viel stärkere Rolle spielen. Er muss für die ökologischen und sozialen Probleme Rahmenbedingungen setzen. Und dann stellt sich die Frage: Ist die Bedürfnisbefriedigung der Armen und Hungernden wichtiger als die Fleischbefriedigung einer aufstrebenden Mittel- und Oberschicht?

Schumacher: Kein Dissens.

Wiggerthale: Für mich ist die Gretchenfrage: Wie können Konsum- und Produktionsmuster den Herausforderungen gerecht werden, vor die uns Klimawandel, biologische Vielfalt, Armut und Hunger stellen? Ich fürchte, dass die sozialen Ungleichheiten zunehmen und wir die Grenzen der ökologischen Tragfähigkeit der Natur überschreiten, mit negativen Folgen für alle.

Schumacher: Kein großer Widerspruch. Was aus meiner Sicht leider zu kurz kommt, ist, dass Unternehmen sich natürlich auch Gedanken machen, weil sie auf Dauer am Markt bleiben wollen. Das Problembewusstsein ist gar nicht so anders. Es nützt nichts, wenn man auf die Unternehmen einhaut, sondern man muss gucken: Wo sind die Kooperationsmöglichkeiten? Wo die Überschneidungen?

Wiggerthale: Als NGOs sehen wir uns natürlich als diejenigen, die sowohl die Unternehmen als auch die Politik in die Pflicht nehmen, die Weichen zu stellen, um die künftigen Herausforderungen zu bewältigen.


Marita Wiggerthale hat Politik und Wirtschaft studiert. Sie ist seit 2005 bei der Hilfsorganisation Oxfam als Agrar- und Handelsexpertin tätig. Mit der 2006 gegründeten Transparenzinitiative setzte Oxfam die Veröffentlichung der Empfänger von Agrarsubventionen durch. Aktuell setzt sich Oxfam im Rahmen der Supermarktinitiative dafür ein, dass Supermarktketten beim Einkauf soziale und ökologische Mindeststandards einhalten.

Klaus-Dieter Schumacher ist Diplom-Agraringenieur. Er arbeitet seit 25 Jahren beim Handelsunternehmen Toepfer-International und leitet dort die volkswirtschaftliche Abteilung. Das Hamburger Unternehmen ist eines der größten Agrarhandelsunternehmen der Welt und hat weltweit mehr als 40 Niederlassungen. 2009 hat das Unternehmen 40 Mio t Getreide, pflanzliche Öle, Ölsaaten und Futter- und Düngemittel gehandelt.


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Quelle:
Böll THEMA - Ausgabe 2/2010, Seite 26-29
Das Magazin der Heinrich-Böll-Stiftung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2010