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HUNGER/375: Hunger wird gemacht (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 15. Oktober 2021
german-foreign-policy.com

Hunger wird gemacht

Die Zahl der Menschen, die hungern, ist laut dem Welthungerindex wieder gestiegen - auf mehr als 800 Millionen. Die westlichen Staaten, auch Deutschland, tragen eine Mitschuld daran.


BERLIN - Die westlichen Staaten, darunter Deutschland, tragen eine Mitschuld an der dramatischen Zunahme des Hungers in der Welt. Wie aus dem gestern offiziell vorgestellten Welthungerindex hervorgeht, ist die Zahl der Menschen, die hungern müssen, von annähernd 650 Millionen im Jahr 2019 auf 811 Millionen Ende 2020 in die Höhe geschnellt. Hauptursache ist die Covid-19-Pandemie, gegen die sich vor allem die ärmeren Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas immer noch nicht schützen können, weil die wohlhabenden westlichen Staaten die vorhandenen Impfstoffe überwiegend für sich reservieren. Auch anderweitig tragen die westlichen Staaten zum Anstieg des Hungers bei - mit Kriegen oder mit der wirtschaftlichen Ausplünderung ärmerer Länder etwa durch Landraub ("land grabbing") oder Dumpingexporte. Der Trend zum Anstieg der Zahl der Hungernden hat - nach einer Phase des Rückgangs - bereits 2015 begonnen. Der damalige Rückgang des Hungers ging zum größeren Teil nicht auf westliche Aktivitäten, sondern auf erfolgreiche Hungerbekämpfung in der Volksrepublik China zurück.

Chronischer Hunger

Wie der gestern offiziell vorgestellte Welthungerindex bestätigt, nimmt die Zahl der Menschen, die hungern müssen, weltweit zu. Demnach litten Ende 2020 "bis zu 811 Millionen Menschen unter chronischem Hunger"; weitere 155 Millionen waren "von einer akuten Ernährungskrise betroffen".[1] Eine Zeitlang war es gelungen, die globale Unterernährung zumindest etwas zurückzudrängen; so ging nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) die Zahl der Unterernährten weltweit, die 1990 bei annähernd einer Milliarde gelegen hatte, über rund 811 Millionen im Jahr 2005 auf knapp 607 Millionen im Jahr 2014 zurück. Seitdem nimmt sie jedoch wieder zu; 2019 lag sie bereits bei 650 Millionen, um nun erneut in die Höhe zu schnellen.[2] Die Perspektiven sind düster. Hatte die UN-Generalversammlung im Jahr 2015 das Ziel formuliert, bis zum Jahr 2030 den Hunger auszurotten, so steht nun eine weitere Zunahme zu befürchten. So geht der Welthungerindex davon aus, dass bis 2030 47 Länder "noch nicht einmal ein niedriges Hungerniveau erreichen" werden. Als hauptsächliche Hungertreiber werden die Covid-19-Pandemie, der globale Klimawandel sowie bewaffnete Konflikte genannt.

Hunger als Kriegsfolge

Zu allen drei der im Welthungerindex genannten hungertreibenden Faktoren haben die westlichen Mächte maßgeblich beigetragen. Dies gilt zunächst für den Klimawandel, der vor allem durch die über viele Jahrzehnte aufgelaufenen Emissionen der westlichen Industriestaaten - es sind mit Abstand die historisch längsten - verursacht worden ist. Noch heute geht auch im Westen der Kampf gegen den Klimawandel nur allzu schleppend voran.[3] Bewaffnete Konflikte haben die westlichen Mächte, darunter Deutschland, in zahlreichen Ländern Afrikas und Asiens angezettelt oder befeuert. Das gilt etwa für den Irak, Libyen und Mali, wo der Welthungerindex die Situation als "ernst" einstuft; in Syrien, wo die Lage demnach "sehr ernst" ist, hat der Westen nicht nur den bewaffneten Aufstand unterstützt, sondern zudem Sanktionen verhängt. Vor allem die US-Sanktionen, die von europäischen Unternehmen in der Regel beachtet werden, treiben Syrien seit geraumer Zeit in Richtung einer Hungersnot.[4] Hungerverschärfend wirken auch die Sanktionen gegen Iran sowie vor allem die Blockade, die Saudi-Arabien, ein enger Verbündeter des Westens, gegen den Jemen verhängt hat. Auch im Jemen wird die Lage als "sehr ernst" eingestuft. Nicht zuletzt haben die westlichen Mächte Afghanistan nach knapp 20 Jahren Besatzung in einem Zustand zurückgelassen, der eine verheerende Hungersnot befürchten lässt.

Hunger als Pandemiefolge

Eine Mitschuld tragen die westlichen Mächte zudem daran, dass die Covid-19-Pandemie immer noch neuen Hunger verursacht; sie hat bereits weit mehr als 100 Millionen Menschen in Armut und Hunger getrieben. Während die reichen westlichen Staaten ihre Bevölkerung inzwischen weitestgehend geimpft haben und zur Immunisierung von Kindern und Jugendlichen sowie zu Auffrischungsimpfungen übergegangen sind, herrscht in der Mehrzahl der Länder Asiens sowie Lateinamerikas und in fast allen Ländern Afrikas immer noch krasser Mangel an Vakzinen. Hinzu kommt, dass die westeuropäischen Staaten, insbesondere die Bundesrepublik, eine zeitweilige Freigabe von Impfstoffpatenten zwecks rascher Ausweitung der globalen Produktion verweigern - gegen heftige Proteste vor allem aus der ärmeren Welt (german-foreign-policy.com berichtete [5]). Erst kürzlich hat der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, das Horten von Impfstoffen durch die westlichen Staaten scharf kritisiert: Die Welt stehe "am Abgrund des Scheiterns, wenn Impfstoffe nicht sofort weithin verfügbar werden".[6] Geändert hat sich seither nichts. Der einzige Staat, der die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas mit großen Mengen an Impfstoffen versorgt und damit Chancen auf ein Ende der hungerfördernden Pandemie öffnet, ist China: Es hat inzwischen fast eine Milliarde Impfdosen dorthin exportiert.[7]

Hunger durch Landraub

Hunger verursachen darüber hinaus allerlei Praktiken westlicher, darunter deutscher, Unternehmen. So haben deutsche Großschlachtereien mit Dumpingexporten von Geflügel und Geflügelteilen die einheimische Hühnerfleischproduktion in mehreren Ländern Westafrikas schwer geschädigt und Zehntausende in Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger getrieben (german-foreign-policy.com berichtete [8]). Fischfangflotten der EU haben die Gewässer vor der westafrikanischen Küste lange Zeit so leergefischt, dass dies zahlreiche einheimische Fischer ruinierte - ebenfalls mit schädlichen Auswirkungen auf ihre Ernährungssituation. Dasselbe trifft auf Landraub ("land grabbing") in Entwicklungsländern zu, an dem sich auch deutsche Investoren beteiligen - teils mit Unterstützung der deutschen Entwicklungshilfe. So berichtet beispielsweise das Aktionsnetzwerk FIAN aus Sambia, dort würden Kleinbauern - traditionell das "Rückgrat des sambischen Ernährungssystems" - immer häufiger entschädigungslos von ihrem Land vertrieben, um "industriellen Megafarmen" Platz zu machen; dabei spielten insbesondere deutsche Investoren eine "problematische Rolle".[9] Die vertriebenen oder umgesiedelten Kleinbauern hätten mit mangelhaften Böden oder schlechten Bewässerungsmöglichkeiten zu kämpfen; das verschlechtere die Ernährungslage stark. Die Beispiele ließen sich vermehren.

Hunger erfolgreich bekämpft

Entsprechend geht auch die zeitweilige Reduzierung des globalen Hungers nur zum geringeren Teil auf Aktivitäten westlicher Staaten zurück. So lag der Anteil der Unterernährten in China laut Daten des Welthungerindex im Jahr 2000 bei zehn Prozent; das waren damals knapp 130 Millionen Menschen. Heute wird der Anteil mit "weniger als 2,5 Prozent" beziffert - dieselbe Angabe, die die FAO standardmäßig auch für die wohlhabenden westlichen Staaten macht. In Indien wiederum, einem Land mit ähnlich großer Bevölkerung wie China - beide befanden sich in den 1970er Jahren auch noch auf ähnlichem Entwicklungsniveau -, liegt der Anteil der Unterernährten an der Bevölkerung laut FAO-Statistik bei 15,3 Prozent; er ist seit 2012 (15,0 Prozent) sogar wieder leicht gestiegen.[10] Die Volksrepublik, die zudem laut Angaben der Weltbank in den vergangenen Jahrzehnten über 800 Millionen Chinesen aus extremer Armut befreien und bis zum Jahreswechsel 2020/21 die extreme Armut im Land vollständig beseitigen konnte, wird vom Westen allerdings nicht unterstützt, sondern inzwischen erbittert bekämpft.


Anmerkungen:

[1] Welthunger-Index. welthungerhilfe.de.

[2] The State of Food Security and Nutrition in the World. The world is at a critical juncture. fao.org.

[3] S. dazu Klimapolitische Worthülsen.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8249/

[4] S. dazu Hoffen auf die Hungerrevolte.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8307/

[5] S. dazu Die Pandemieprofiteure
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8678/
und Die Pandemie als Chance (II).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8710/

[6] Guterres: Horten von Impfstoffen ist Dummheit. n-tv.de 08.10.2021.

[7] China COVID-19 Vaccine Tracker. bridgebeijing.com 11.10.2021.
S. auch Die Welt impfen (III)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8619/
und Impfstoffe für Afrika.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8629/

[8] S. dazu Wie man Fluchtursachen schafft.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7705/

[9] Tag der Landlosen: Deutsche Akteure schüren Landknappheit in Sambia. fian.de 16.04.2021.
S. dazu Entwicklungshilfe beim Landraub.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8596/

[10] Indien. globalhungerindex.org.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 26. Oktober 2021

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