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MARKT/2100: Gibt es ein Leben nach der Quote? (idw)


Leibniz-Gemeinschaft - 27.03.2015

Gibt es ein Leben nach der Quote?

Leibniz-Wissenschaftler zu den Folgen des Wegfalls der Milchquote


Zum 1. April 2015 wird in der Europäischen Union die seit 1984 bestehende Milchquote abgeschafft. Mit dem Wegfall dieser Produktionsbeschränkung in den EU-Mitgliedstaaten dürfte sich der Milchpreis auf dem niedriger liegenden Weltmarktniveau einpendeln. Welche Folgen das für die Landwirtschaft unter ökonomischen und tierwissenschaftlichen Perspektiven haben wird und welche Handlungsspielräume sich für die Landwirte ergeben, beurteilen Experten des Leibniz-Forschungsverbundes "Lebensmittel und Ernährung" aus verschiedener fachlicher Perspektive.


Ökonomische Folgen:

Prof. Dr. Thomas Herzfeld
- Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien:
"Angesichts der starken Überlieferung der vorgesehenen Milchmenge in einigen EU-Mitgliedstaaten im zu Ende gehenden Milchwirtschaftsjahr ist es sehr wahrscheinlich, dass die Milchproduktion nach Wegfall der Quote kurzfristig auf hohem Niveau bleibt oder sogar ausgedehnt wird. Die langfristige Entwicklung der Produktion hängt stark von der zukünftigen Entwicklung des Weltmarktes, und hier insbesondere dem Zugang zu wichtigen Märkten für EU-Milchprodukte wie Russland oder dem Nahen Osten, ab.

Hinsichtlich des Strukturwandels wird die schon länger zu beobachtende Tendenz der Verlagerung der Milchproduktion vor allem nach Nordwestdeutschland sicher andauern. Dazu kommt das momentan sehr investitionsfreundliche Zinsniveau, das die Vergrößerung von Kapazitäten auf Gunststandorten sicher zusätzlich unterstützt. Begrenzend könnte eine zunehmende Restriktion der Gülleausbringung zur Reduzierung des Stickstoffüberschusses wirken."


Tierwissenschaftliche Folgen:

Prof. Dr. Manfred Schwerin
- Leibniz-Institut für Nutztierbiologie:
"Die Milchviehhaltung in Deutschland ist Teil eines weltweit vernetzten Wirtschaftssektors, welcher durch einen rasanten Strukturwandel gekennzeichnet ist. Seit Jahrzehnten läuft der Strukturwandel weltweit relativ gleichmäßig mit sich verstetigenden Trends ab: steigende tierische Leistungen, Spezialisierung, Ausscheiden kleinerer und Vergrößerung verbleibender Betriebe, zunehmende vertikale Integration und regionale Konzentration. Der Strukturwandel wird dabei offenbar von den agrarpolitischen Ereignissen kaum beeinflusst. So zum Beispiel sank die Anzahl der Betriebe mit Milchviehhaltung bei annähernd gleicher Milchproduktion (2012: ca. 30 Mio. Liter/Jahr) trotz Einführung der Gemeinsamen Agrarpolitik in der EU in den 1950er Jahren und der Milchquote in den 1980er Jahren kontinuierlich von 1.365.000 Betrieben im Jahre 1955 auf 85.000 Betriebe im Jahre 2012. Entsprechend ist zu erwarten, dass mit dem Wegfall der Milchquote sich an diesen Trends nichts ändern wird. Die wesentliche Triebkraft dieser Entwicklung ist die Einbindung der Tierhaltung in das marktwirtschaftliche System. Durch den zunehmenden wirtschaftlichen Druck zu Intensivierung und Produktivitätssteigerung (steigende Nachfrage, abnehmende Ressourcen), aber auch durch das überwiegend preisorientierte Kaufverhalten der Verbraucher laufen die bestehenden Trends weiter.

Der züchterische Fortschritt und das bessere Wissen über den Nährstoffbedarf der Tiere haben die Milchleistung der Kühe im vergangenen Jahrhundert um ein Mehrfaches ansteigen lassen. Kühe, die täglich mehr als 50 Kilogramm Milch produzieren sind heute keine Seltenheit mehr. Die Selektion auf hohe Milchleistung muss jedoch nicht im Widerspruch zur Haltung gesunder Kühe stehen. So wurde in epidemiologischen Studien gezeigt, dass mehr als zwei Drittel aller hochleistenden Milchkühe eine normale Gesundheit und Fruchtbarkeit aufweisen. Aber, mit steigender Milchleistung und zunehmender metabolischer "Beanspruchung" muss auch das Wissen des Tierhalters wachsen. Die Gesundheit der Milchkühe ist im stärkeren Maße vom Management, zum Beispiel einer leistungs-/bedarfsgerechten Fütterung oder eines dem Wohlgefühl der Tiere adäquaten Melkens, als vom genetisch determinierten Leistungspotenzial abhängig.

Die zwischenzeitliche Aufgabe der Milchproduktion mit anschließender Wiederaufnahme der Produktion ist wirtschaftlich unrentabel, da die Differenz zwischen dem Erlös für eine Schlachtkuh und den Kosten für eine neu aufzustallende Färse bis zu 1.500 Euro beträgt. Kurzfristige Betriebsstillegungen durch Schlachtung sind darüber hinaus aus Gründen des Tierschutzes fragwürdig, da dies die Schlachtung trächtiger Muttertiere zur Folge hätte."


Folgen für Milchproduzenten:

Prof. Dr. Reiner Brunsch
- Leibniz-Institut für Agrartechnik Potsdam-Bornim:
"Weitermachen, aufhören oder die Produktion ausbauen mit diesen Möglichkeiten sehen sich die Milchproduzenten derzeit konfrontiert. Aus meiner Sicht eine sehr komplexe Frage.

Eine Handlungsoption besteht darin, die absehbaren Preisschwankungen mithilfe von Rücklagen und Eigenkapital zu überbrücken. Wegen der konstant hohen Fixkosten für den laufenden Betrieb, also für Futtermittel, Wasser, Strom etc., die bei gleich bleibender Produktion unabhängig von den erzielbaren Erlösen gedeckt werden müssen, birgt diese Option für die Landwirte jedoch unabsehbare Risiken.

Insbesondere für viele kleine und mittlere Milchbetriebe könnte die Fortführung der Produktion unter dem Einfluss sinkender Milchpreise nicht länger rentabel sein. Aber auch eine vollständige Produktionsaufgabe ist für die Landwirte mit finanziellen Risiken verbunden. Die Milchwirtschaft ist sehr kapitalintensiv. Hohe Investitionen werden häufig mit Krediten gestemmt. Im Fall, dass viele Milchbetriebe aufgegeben werden sollten und Melktechnik und Ausstattung wegen sinkender Nachfrage nur schwer wieder verkäuflich sind, könnten sich ehemals kostspielige Investitionen wie der Bau des Kuhstalls oder die Anschaffung von Melkmaschinen und anderen teuren Geräten leicht zu sogenannten "versenkten, irreversiblen Kosten" wandeln. Auch die langen Aufzuchtzeiten wirken negativ. Ein Kuhbestand wird über einen entsprechend langen Zeitraum aufgebaut: Erst mit der ersten Kalbung im Alter von zwei bis drei Jahren gibt die Kuh Milch. Damit amortisieren sich die Investitionen in den Tierbestand erst mit zeitlicher Verzögerung. Ein vorübergehender Ausstieg aus der Produktion und Wiedereinstieg bei besserer Marktsituation ist daher nicht lukrativ.

Die dritte Alternative besteht darin, Arbeitskosten durch einen erhöhten Einsatz von Maschinen zu senken - und in produktivere Technik zu investieren. Das Leibniz-Institut für Agrartechnik Potsdam-Bornim (ATB) widmet sich seit Jahren der standortangepassten Optimierung von Techniken und Verfahren im Sinne einer ressourceneffizienten, umweltfreundlichen, tiergerechten und rentablen landwirtschaftlichen Produktion, unter anderem durch die Entwicklung von euterschonenden Melkverfahren, ergonomischen Arbeitsplätzen, emissionsarmen Lüftungssystemen und umweltschonender Gülleverwertung.

Den Wachstumsabsichten und der Investitionsbereitschaft bei den Landwirten stehen aber nicht nur finanzielle Herausforderungen und eine insgesamt als unsicher einzuschätzende Marktsituation gegenüber. Ein zunehmendes Problem für die Betriebe besteht darin, zum einen ethische Grundsätze wie Tierschutz und die Reduzierung von Umweltbelastungen bedienen zu wollen und gleichzeitig die gesellschaftlichen Erwartungen an ein niedrigpreisiges Lebensmittelangebot erfüllen zu müssen. Premiumprodukte, die unter den Bedingungen hoher Tierschutz- und Umweltschutzstandards hergestellt werden, können jedoch nicht zu Niedrigpreisen auf den Markt gebracht werden. Wir besitzen in Deutschland das Know-how für eine tiergerechte und umweltverträgliche Milchproduktion, dessen Anwendung aber die Gesellschaft durch adäquate Zahlungsbereitschaft unterstützen muss. Sonst laufen wir Gefahr, dass die Chance, die deutsche Milchproduktion zu einem nachhaltigem Wirtschaftszweig zu entwickeln, verstreicht."


Kurz-Information zum Leibniz-Forschungsverbund "Lebensmittel und Ernährung":

Wie kann die Weltbevölkerung sicher, nachhaltig und gesund ernährt werden? Wie kann die gesunde Ernährung der Gesellschaft aus der Wissenschaft heraus gefördert werden? Wie beeinflussen sich nachhaltige Lebensmittelproduktion und Gesundheit? Diesen komplexen Fragen widmet sich der interdisziplinäre Forschungsverbund "Lebensmittel und Ernährung" aus 14 Leibniz-Instituten von der molekularen Ebene bis hin zur Makroökonomie.

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Die Leibniz-Gemeinschaft

Die Leibniz-Gemeinschaft verbindet 89 selbständige Forschungseinrichtungen. Deren Ausrichtung reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute bearbeiten gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch relevante Fragestellungen. Sie betreiben erkenntnis- und anwendungsorientierte Grundlagenforschung. Sie unterhalten wissenschaftliche Infrastrukturen und bieten forschungsbasierte Dienstleistungen an. Die Leibniz-Gemeinschaft setzt Schwerpunkte im Wissenstransfer in Richtung Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Leibniz-Institute pflegen intensive Kooperationen mit den Hochschulen - u. a. in Form der WissenschaftsCampi -, mit der Industrie und anderen Partnern im In- und Ausland. Sie unterliegen einem maßstabsetzenden transparenten und unabhängigen Begutachtungsverfahren. Aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung fördern Bund und Länder die Institute der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam. Die Leibniz-Institute beschäftigen rund 18.100 Personen, darunter 9.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der Gesamtetat der Institute liegt bei 1,64 Milliarden Euro.



Weitere Informationen unter:
http://www.leibniz-lebensmittel-und-ernaehrung.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution390

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Leibniz-Gemeinschaft, Christoph Herbort-von Loeper M.A., 27.03.2015
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. März 2015

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