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ASYL/1546: Über 150 Organisationen protestieren gegen sozialrechtliche Verschärfungen für Geflüchtete (Pro Asyl)


Pro Asyl - Presseerklärung vom 31. Oktober 2023

Über 150 Organisationen protestieren gegen sozialrechtliche Verschärfungen für Geflüchtete und machen deutlich: Die Menschenwürde gilt für alle!


Vor 30 Jahren - am 1. November 1993 - trat das Asylbewerberleistungsgesetz in Kraft. Zum traurigen Jubiläum kritisiert ein Bündnis von 154 Organisationen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene die aktuell besonders heftige Debatte über immer weitere Einschränkungen bei Sozialleistungen für Geflüchtete. Die Forderungen des Appells [1] lauten: Das Asylbewerberleistungsgesetz muss abgeschafft werden! Die Betroffenen müssen in das reguläre Sozialleistungssystem eingegliedert werden.

30 Jahre lang Diskriminierung, Entmündigung und Kürzungen am Existenzminimum Geflüchteter - das ist die Bilanz, die PRO ASYL und Wohlfahrtsverbände, medizinische Organisationen, Menschenrechtsorganisationen und Antidiskriminierungsvereine ziehen. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: "Mit Bestürzung verfolgen wir die aktuelle politische Debatte über Asylsuchende, die zunehmend von sachfremden und menschenfeindlichen Forderungen dominiert wird. Die Diskussionen über Sozialleistungen sind dafür ein gutes Beispiel. Die im Raum stehenden Forderungen reichen von einer generellen Umstellung von Geld- auf Sachleistungen über diskriminierende Bezahlkarten und eine Kürzung des Existenzminimums bis hin zur Forderung, dass kranken Menschen eine medizinische Grundversorgung vorenthalten werden soll", heißt es in dem heute veröffentlichten Appell.

"Die für alle geltende Menschenwürde scheint in der öffentlichen Debatte kaum noch etwas zu zählen, das ist mehr als erschreckend. Jeder Mensch hat Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Sachleistungen oder Kürzungen am Existenzminimum Geflüchteter sind auch ein Angriff auf unseren demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Schon die jetzige Ausgestaltung des Asylbewerberleistungsgesetzes ist verfassungsrechtlich unhaltbar und noch weitere diskriminierende Leistungskürzungen sind es erst recht. Politische Forderungen müssen sich wieder am Grundgesetz orientieren", sagt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.

Sachleistungen sind diskriminierend, teuer und verfassungsrechtlich mindestens fragwürdig. Das gilt auch für die von einigen Bundesländern und Politiker*innen geforderte und zum Teil schon geplante Bezahlkarte, die die Verfügungsmöglichkeit über Bargeld einschränken soll. "Heute werden wie schon vor 30 Jahren Geflüchtete zum Sündenbock gesellschaftlicher Probleme gemacht. Aber Wohnungsnot, Lehrer*innenmangel und eine desolate Infrastruktur sind ein Ergebnis jahrelanger struktureller Fehler in der Politik. Derlei Probleme dürfen nicht Geflüchteten angelastet werden. Deshalb muss das Asylbewerberleistungsgesetz ersatzlos gestrichen werden", sagt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.

Denn die gesellschaftliche Stimmung war 1992/1993, als das Asylbewerberleistungsgesetz im Zuge der Beschneidung des Grundrechts auf Asyl beschlossen wurde, ähnlich wie heute: Auch damals wurden gestiegene Asylantragszahlen zum Anlass genommen für eine explosive flüchtlingsfeindliche Stimmungsmache. Das Asylbewerberleistungsgesetz war von Anfang an dazu gedacht, über Leistungseinschränkungen und schlechte soziale Bedingungen Menschen von der Flucht nach Deutschland abzuhalten. Dieser Grundgedanke wird auch in den neuen Vorschlägen von Finanzminister Lindner und Justizminister Buschmann zu Leistungskürzungen deutlich.

Doch das funktioniert nicht, wie es auch in dem von 154 Organisationen unterstützen Appell heißt: "Kein Mensch, der aus einem Krieg oder vor politischer Verfolgung flieht, gibt die Flucht auf, weil er oder sie in Deutschland demnächst mit noch mehr Sachleistungen leben muss. Wenn in diesem Jahr 2023 das Bundesamt in über 70 Prozent aller Asylanträge, die bis September inhaltlich entschieden wurden, einen Schutzstatus feststellt, wird nur allzu deutlich, dass die Menschen nicht wegen der Sozialleistungen kommen, sondern hier Schutz suchen."

Ziel muss sein, den Leistungsberechtigten ein Leben zu ermöglichen, dass der Würde des Menschen entspricht. Das sieht auch das Bundesverfassungsgericht so und hat Kürzungen des sozialen Existenzminimums "aus migrationspolitischen Gründen", also aus Gründen der Abschreckung, in einem wegweisenden Urteil bereits 2012 als unzulässig erklärt.


Zum Hintergrund:

Seit 1992/93 haben Fachorganisationen, Wohlfahrtsverbände, Kirchen und zivilgesellschaftliche Organisationen das Asylbewerberleistungsgesetz einhellig abgelehnt und immer wieder seine Abschaffung gefordert. Mehrfach hat das Bundesverfassungsgericht Regelungen des Asylbewerberleistungsgesetzes für verfassungswidrig erklärt.

Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag 2021 angekündigt, das Asylbewerberleistungsgesetz "im Lichte des Bundesverfassungsgerichts" zu überarbeiten. Dies ist bislang nicht geschehen - und wäre der überwältigenden Zahl der einschlägig kompetenten Organisationen und Zivilgesellschaft auch zu wenig: Einen bereits Anfang des Jahres 2023 veröffentlichter Appell fand bis Mitte des Jahres über 200 unterstützende Organisationen, die damit die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und sozialrechtliche Gleichbehandlung fordern.

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Der vollständige Appell:

APPELL: Die Menschenwürde gilt für alle - auch für Geflüchtete! Gegen sozialrechtliche Verschärfungen und für die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes

Seit einigen Wochen werden beharrlich Sachleistungen und Leistungskürzungen für Geflüchtete gefordert. Dabei erhalten die Betroffenen schon jetzt vielfach lediglich die reduzierten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. In der Debatte werden Gruppen gegeneinander ausgespielt, und die Menschenwürde wird offen in Frage gestellt. Wir lehnen sozialrechtliche Verschärfungen ab und fordern: Das Asylbewerberleistungsgesetz muss abgeschafft und die Betroffenen müssen in das reguläre Sozialleistungssystem einbezogen werden.

Mit Bestürzung verfolgen wir die aktuelle politische Debatte über Asylsuchende, die zunehmend von sachfremden und menschenfeindlichen Forderungen dominiert wird. Die Diskussionen über Sozialleistungen sind dafür ein gutes Beispiel. Solange Geflüchtete bedürftig sind, haben sie Anspruch auf das sozialrechtlich definierte Existenzminimum. Nun geht es offenkundig darum, diesen grundlegenden Anspruch Asylsuchender einzuschränken, mit der Begründung, so könne die Zahl der Geflüchteten in Deutschland reduziert werden. Die im Raum stehenden Forderungen reichen von einer generellen Umstellung von Geld- auf Sachleistungen über diskriminierende Bezahlkarten und eine Kürzung des Existenzminimums bis hin zur Forderung, dass kranken Menschen eine medizinische Grundversorgung vorenthalten werden soll.

Diese Debatte suggeriert, Geflüchtete seien die zentrale Ursache für die zweifellos vorhandenen gesellschaftlichen Missstände wie fehlender Wohnraum oder fehlende Schul- und Kitaplätze. Diese haben jedoch andere Ursachen und würden auch bestehen, wenn Deutschland keine Asylsuchenden aufnehmen würde. Geflüchtete werden so zu Sündenböcken für die verfehlte Sozialpolitik der letzten Jahre, ohne dass dadurch die tatsächlich bestehenden Probleme gelöst werden. Wer aber Scheinlösungen präsentiert, verspielt Vertrauen in die politische Handlungsfähigkeit.

Bereits 2012 hat das Verfassungsgericht in einer wegweisenden Entscheidung das Recht jedes Menschen auf ein menschenwürdiges Existenzminimum festgehalten und dafür gesorgt, dass die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zumindest vorübergehend annähernd dem Hartz-IV-Niveau (heute "Bürgergeld") entsprachen. Zugleich erteilte das höchste deutsche Gericht dem Ansinnen, Sozialleistungen zur Abschreckung Asylsuchender einzusetzen, eine deutliche Absage: "Die in Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren." (Beschluss vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10) Mit anderen Worten: Sozialleistungen dürfen nicht gekürzt werden, um Menschen von der Flucht nach Deutschland abzuschrecken. Rund zehn Jahre später, im Jahr 2022, verurteilte das Bundesverfassungsgericht eine zehnprozentige Kürzung der Grundleistungen für alleinstehende Geflüchtete, die in "Gemeinschaftsunterkünften" leben müssen, als verfassungswidrig.

Im Übrigen ist die Behauptung, bessere soziale Bedingungen würden zu mehr Schutzsuchenden führen, seit langer Zeit wissenschaftlich widerlegt. Bereits heute erhalten Geflüchtete vor allem in den Erstaufnahmeeinrichtungen drastisch reduzierte Geldbeträge, neben einem Platz im Mehrbettzimmer, Kantinenessen und Hygienepaketen und einer oft unheilvoll verzögerten Gesundheitsversorgung. Kein Mensch, der aus einem Krieg oder vor politischer Verfolgung flieht, gibt die Flucht auf, weil er oder sie in Deutschland demnächst mit noch mehr Sachleistungen leben muss. Wenn in diesem Jahr 2023 das Bundesamt in über 70 Prozent aller Asylanträge, die bis September inhaltlich entschieden wurden, einen Schutzstatus feststellt, wird nur allzu deutlich, dass die Menschen nicht wegen der Sozialleistungen kommen, sondern hier Schutz suchen. Die Behauptung, von den geringen Asylbewerberleistungen würden relevante Geldbeträge in Herkunftsländer überwiesen oder im Nachhinein an Schlepper ausgehändigt, ist zynisch und realitätsfern.

Die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip garantieren ein menschenwürdiges Existenzminimum - für alle Menschen. Wir sagen: Wer unterschiedliche Gruppen gegeneinander ausspielt und die Menschenwürde, Artikel 1 unserer Verfassung, offen in Frage stellt, wendet sich gegen zentrale Errungenschaften unserer Demokratie und des Sozialstaates. Und wer das durch das Bundesverfassungsgericht bestätigte Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum missachtet, unterminiert den Rechtsstaat. Wir erneuern deshalb den Appell, zu dem sich im laufenden Jahr bereits mehr als 200 Organisationen zusammenfanden: Es kann nicht zweierlei Maß für die Menschenwürde geben. Wir fordern das gleiche Recht auf Sozialleistungen für alle in Deutschland lebenden Menschen, ohne diskriminierende Unterschiede. Das Asylbewerberleistungsgesetz muss abgeschafft werden. Die Betroffenen müssen in das reguläre Sozialleistungssystem einbezogen werden.


Die Liste der Organisationen, die diesen Appell unterzeichnet haben, ist in der PDF-Fassung des Appells zu finden unter:
[1] www.proasyl.de/wp-content/uploads/Appell_AsylbLG_31.10.2023-2.pdf


Mehr Informationen finden Sie auch in diesem Text auf der Homepage von PRO ASYL: Im Auftrag Diskriminierung. Eine kleine Geschichte von Schikanen durch das AsylbLG.
https://www.proasyl.de/news/im-auftrag-diskriminierung-eine-kleine-geschichte-von-schikanen-durch-das-asylblg

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Quelle:
Pro Asyl - Presseerklärung vom 31. Oktober 2023
Postfach 160 624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: +49 069 - 24 23 14-0, Fax: +49 069 - 24 23 14 72
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 4. November 2023

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