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ASYL/676: Zahlen und Fakten 2009 (Der Schlepper/Pro Asyl)


Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL

Zahlen und Fakten 2009

Von Dirk Morlok


Höhere Asylantragszahlen

Im Jahr 2009 wurden laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 27.649 Asylerstanträge in Deutschland gestellt. Damit stiegen die Asylgesuche im Vergleich zum Vorjahr (mit 22.085 Asylanträgen) um 25,2 % an. Da die Asylantragszahlen während der letzten zehn Jahre insgesamt allerdings um 65 % zurückgingen, liegt die Antragszahl 2009 trotz des Anstiegs immer noch wenig über dem historischen Tiefstand.

Als Ursache für die Zunahme der Asylanträge im Jahr 2009 kann vor allem die dramatische Situation in den Herkunftsländern gesehen werden.

Unter den Hauptherkunftsstaaten befinden sich hauptsächlich Kriegsgebiete und Krisenregionen: der Irak, Afghanistan, die Türkei, das Kosovo und der Iran. Signifikant nahm die Zahl der afghanischen Asylantragsteller zu, nämlich um 413,7 %. Diese Vervierfachung ist auf die verschlechterte Sicherheitslage in Afghanistan zurückzuführen. Laut Angaben der UN kamen 2009 die meisten Zivilisten seit dem Sturz des Talibanregimes ums Leben.

Die größte Gruppe von Asylsuchenden waren auch in diesem Jahr mit Abstand Irakerinnen und Iraker. Mit 6.583 ist allerdings auch diese Zahl - verglichen mit der Situation in der Herkunftsregion - gering. Schätzungen gehen davon aus, dass sich allein ca. 1,1 Million irakische Flüchtlinge in Syrien und rund 600.000 in Jordanien aufhalten.


Sinkende Anerkennungsquoten

Wenn man Asylfolgeanträge einbezieht, hat das Bundesamt 2009 genau 28.816 Entscheidungen getroffen. Davon erhielten 8.115 Menschen den Flüchtlingsstatus (Asylberechtigung gemäß Art. 16a GG und Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG). Die Chancen, in Deutschland Schutz zu erhalten, sanken damit im Vergleich zu 2008 deutlich. Bekamen im Vorjahr noch 35 % der Antragsteller asylrechtlichen Schutz, betrug die Quote 2009 28,2 %. Gemessen an der Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge ist dies eine in keinerlei Hinsicht nachvollziehbare Entwicklung. Im Irak, in Afghanistan und in den anderen Hauptherkunftsländern bleibt die Sicherheitslage nach wie vor prekär.

Leicht angestiegen ist die Gewährung von subsidiärem Schutz (Abschiebungsverbote zum Beispiel wegen Gefahr für Leib und Leben). Im Jahr 2008 wurden bei 562 (2,7 %) Asylanträgen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 festgestellt, im Jahr 2009 bei 1.611 Personen. Dies entspricht einer Quote von 5,6 %.

Insgesamt ist jedoch die Schutzquote (Asylberechtigungen, Flüchtlingsstatus und subsidiärer Schutz) mit 33,8 % im Vergleich zum Vorjahr um knapp 4 % zurückgegangen. Das Bundesamt setzte diesen Negativtrend in den ersten zwei Monaten des Jahres 2010 drastisch fort: Obwohl die Hauptherkunftsländer weiterhin Krisenstaaten wie Irak, Afghanistan und Iran waren, wurde nur noch rund 25 % der Asylantragstellerinnen und Asylantragsteller Schutz gewährt.


Hohe Zahl von Widerrufen gegen irakische Flüchtlinge

Stark angestiegen ist die Zahl der Fälle, in denen das Bundesamt entschied, dass irakischen Flüchtlingen der Schutzstatus mittels eines Widerrufs entzogen werden sollte. In über 60 % (2.300 Mal) führte eine entsprechende Prüfung von erfolgten Irak-Anerkennungen tatsächlich zum Widerruf. Zum Vergleich: Im Jahr 2008 wurde der Status in weniger als 7 % der geprüften Fälle widerrufen.

Das Bundesamt gibt an, es handele sich überwiegend um Personen, die unbekannt verzogen seien. Es wird unterstellt, dass in solchen Fällen kein Schutz mehr benötigt würde. Dies ist ein Widerruf auf Verdacht. Ob die betroffenen Flüchtlinge tatsächlich nicht mehr gefährdet sind, wurde nicht überprüft.

Ebenfalls im Visier des Bundesamts standen - wie bereits 2008 - Flüchtlinge aus der Türkei. Mehr als 5.500 Mal wurde der Schutzstatus überprüft und in fast 26 % der Fälle auch tatsächlich entzogen. Noch im Vorjahr waren in den meisten Fällen Klagen gegen Widerrufe erfolgreich, da die Verwaltungsgerichte feststellten, dass trotz der Reformprozesse weiterhin Verfolgungsgefahr drohte. Da Folter und Willkürhandlungen bei Polizei, Soldaten und Sicherheitsbeamten immer noch vorkommen, ist die hohe Zahl von Widerrufsverfahren 2009 nicht nachvollziehbar.

Insgesamt wurden 2009 fast 4.800 Asyl- und Flüchtlingsanerkennungen zurückgenommen.


Erneuter Anstieg der Dublinverfahren

Etwa ein Drittel aller Asylanträge sind sogenannte Dublin-Fälle. In diesen Fällen versucht das Bundesamt über die Europäische Zuständigkeitsregelung für Asylverfahren einen anderen EU-Staat zur Durchführung des Asylverfahrens zu verpflichten. In 9.129 Fällen stellte Deutschland Übernahmeersuchen an andere EU-Staaten.

Das Gros der betroffenen Flüchtlinge, vor allem aus Irak und Afghanistan, sollte nach Griechenland überstellt werden. Die Zahl der Übernahmeersuchen Deutschlands an Griechenland hat sich mit 2.288 im Vergleich zu 2008 fast verdreifacht.

Überstellungen nach Griechenland bedeuten, wie PRO ASYL und andere Menschenrechtsorganisationen in Berichten nachgewiesen haben, dass die Betroffenen in die Obdachlosigkeit und die Rechtlosigkeit eines faktisch nicht vorhandenen Asylsystems geschickt werden. Obwohl das Bundesverfassungsgericht im letzten Jahr Dublin-Überstellungen nach Griechenland in einer ganzen Reihe von Eilentscheidungen vorläufig ausgesetzt hat, blieben Bundesamt und Bundesinnenministerium bei ihrer Linie und versuchten weiter, Abschiebungen in Richtung Griechenland durchzusetzen - so weit zum Respekt der Behörden vor Karlsruhe.

Aus Sicht der Verantwortlichen »profitiert« Deutschland mittlerweile erheblich vom Dublin-System. Umgeben von EU-Nachbarn ist Deutschland immer seltener Ersteinreisestaat für Flüchtlinge. Reist ein Flüchtling über einen anderen EU-Staat ein, ist dieser in der Regel für die Durchführung des Verfahrens zuständig. Der Übernahme von 1.514 Asylsuchenden aus anderen EU-Staaten steht die Überstellung doppelt so vieler Asylsuchender gegenüber: 3.027 Menschen hat Deutschland im Jahr 2009 in den zuständigen Dublin-Staat abgeschoben. Hauptbetroffene der Dublin-Überstellungen waren irakische Flüchtlinge (546) sowie Flüchtlinge aus der Russischen Föderation (333). Dass bei 9.000 Überstellungsersuchen nur 3.000 tatsächliche Überstellungen erfolgten, zeigt, dass Deutschland einen enormen Druck auf andere Mitgliedstaaten ausübt, die Asylsuchenden zu übernehmen. Auch wenn humanitäre Gründe gegen eine Abschiebung sprechen oder der andere Mitgliedstaat überfordert ist, wird der Druck mit Übernahmeersuchen aufrecht erhalten. EU-Randstaaten werden mit der Flüchtlingsaufnahme weitgehend allein gelassen. Eine faire, solidarische und humane europäische Flüchtlingsaufnahme sieht anders aus.


Abschottung mit System

Im Jahr 2009 wurden über 13.000 Menschen von der Bundespolizei an der Einreise nach Deutschland gehindert bzw. unmittelbar nach der Einreise zurückgeschoben. Gleichzeitig gab es über 7.800 Abschiebungen. Immer häufiger finden Abschiebungen zusammen mit anderen europäischen Staaten und unter Beteiligung der EU-Grenzagentur FRONTEX statt. Diese Charterabschiebungen erfolgen mit einem massiven Polizeiaufgebot, oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Damit gibt es keinerlei unabhängige Informationen über etwaige Menschenrechtsverletzungen.

Alles in allem fällt die Asylbilanz 2009 überwiegend negativ aus: Einer zwar im EU-Vergleich relativ ansehnlichen Schutzquote steht das stete Bemühen gegenüber, anerkannten Flüchtlingen durch Widerrufsentscheidungen den Boden unter den Füßen wegzuziehen und sich Schutzsuchender durch Abschiebungen zu entledigen, etwa indem man im Rahmen des Dublin-Systems in die EU-Randstaaten abschiebt.


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Quelle:
Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52, S. 34-35
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL
http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2010__ab_April_/TdF2010_Homepageversion.pdf
Herausgeber: PRO ASYL - Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
Postfach 160624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: 069/23 06 88, Telefax: 069/23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. November 2010