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AUSSEN/556: Vernichtungskrieg in Namibia 1904-08 - Deutschland bekennt sich zu Völkermord (afrika süd)


afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
Nr. 4, Juli/August 2015

"Steter Tropfen..."

von Andreas Bohne


100 Jahre nach dem Ende der Kolonialherrschaft über "Deutsch-Südwestafrika" gibt die Bundesregierung dem wachsenden Druck aus der Zivilgesellschaft in Namibia und Deutschland nach. Sie gesteht so überraschend wie kleinlaut endlich ein, "dass der Vernichtungskrieg in Namibia 1904-08 Vernichtungskrieg in Namibia 1904-08 ein Kriegsverbrechen und Völkermord war". Dabei hatte es zu Beginn des ausschlaggebenden Berlin-Besuches einer hochrangigen OvaHerero- und Nama-Delegation Anfang Juli 2015 kaum danach ausgesehen: Eine Rück- und Ausschau.


Freitag, 10.7.2015, Regierungspressekonferenz. Frage: "Herr Schäfer, ich habe es noch nicht ganz verstanden. Die Haltung, die Meinung der Bundesregierung ist: Ja, das war Völkermord."

Sprecher des Auswärtigen Amtes: "Ich habe es Ihnen doch gerade so vorgelesen; in der Tat."

Zusatzfrage: "Die Bundesregierung sagt: Das war Völkermord. - Das wäre ja jetzt eine Meldung."

Sprecher des AA: "Dann melden Sie es."

Frage: "Ist eine Entschuldigung geplant?"

Was führte zu diesem Dialog einer überfälligen Anerkennung zwischen einer Journalistin und Dr. Martin Schäfer, Sprecher des Auswärtigen Amt? Dazu einige Schritte zurück.


"Völkermord ist Völkermord!"

Am Mittag des 5. Juli 2015 landete eine kleine, aber hochkarätige, OvaHerero und Nama-Delegation in Berlin. Auf dem Weg nach London legte sie einen Zwischenstopp in Deutschland ein: Anlass war die geplante Übergabe des Appells "Völkermord ist Völkermord!" - initiiert durch das NRO-Bündnis "Völkermord verjährt nicht!" und von mehr als 150 Prominenten aus Politik und Wissenschaft, Kunst und Kultur erstunterzeichnet - an den Bundespräsidenten. Innerhalb eines Monats haben sich über 50 NRO und Initiativen sowie mehr als 2.500 Einzelpersonen dem Appell angeschlossen. 100 Jahre nach dem Ende des deutschen Kolonialregimes fordern sie die Anerkennung des Genozids, eine offizielle Entschuldigung, die Rückgabe aller aus Afrika geraubten menschlichen Gebeine und direkte Verhandlungen der deutschen Regierung mit den vom Völkermord bis heute betroffenen Nachfahren.

Bei der Übergabe des Appells spielt das Bundespräsidialamt keine glückliche Rolle: Statt Mitglieder der deutsch-namibischen Delegation hereinzubitten, nimmt es die Unterschriftenlisten auf der Straße vor dem Tor entgegen. Als OvaHerero Paramount Chief Rukoro und die Nama-Vertreterin Ida Hoffmann, Mitglied des namibischen Parlaments, eine kurze Ansprache an den abgesandten Mitarbeiter halten wollen, geht dieser so wortlos wie er gekommen war. Die Nachfahren der Genozidopfer empfanden dies als Affront, zumal der online-Kalender des Bundespräsidenten und die Deutschlandfahne auf dem Schloss Bellevue darauf schließen ließen, dass sich Bundespräsident Gauck im Hause befand. Die Anwesenden fühlten sich an den Eklat im September 2011 erinnert, als die Staatssekretärin des Auswärtigen Amtes, Cornelia Pieper, bei der zeremoniellen Übergabe menschlicher Überreste von Genozidopfern an die OvaHerero- und Nama-Nachfahren in der Berliner Charité nach ihrer enttäuschenden Rede fluchtartig den Raum verließ.

Am nächsten Tag versammelten sich die Delegierten, Sympathisanten und Bundestagsabgeordnete von Linken, Grünen und SPD am sogenannten Namibia-Stein auf dem Garnisonsfriedhof in Berlin-Neukölln. Paramount Chief Rukoro hielt eine Ansprache, in der er die Entschlossenheit der OvaHerero und Nama zur Intensivierung ihres Kampfes um Anerkennung und Wiedergutmachung für den Genozid betonte. Eine Diskussionsveranstaltung in der Werkstatt der Kulturen schloss den Besuch ab, hier wurde abermals die Entschlossenheit betont.


Kehrtwende in der Regierungspolitik?

Am 9. Juli 2015 - nach Abreise der namibischen Delegation - schrieb Bundestagspräsident Lammert (CDU) überraschenderweise in einem Artikel in "Die Zeit": "An den heutigen Maßstäben des Völkerrechts gemessen war die Niederschlagung des Herero-Aufstands ein Völkermord." Ebenso nannte er den Völkermord einen "Rassenkrieg". Erreichte Lammerts Aussage noch größeres mediales Interesse, ging die Meldung über die neue offizielle Sichtweise von Bundesaußenminister Steinmeier und der Bundesregierung am folgenden Tag deutlich unter und wurde nur beiläufig wahrgenommen. Auf der eingangs geschilderten Regierungspressekonferenz wurde auf Nachfrage erläutert, dass für den Außenminister der im März 2012 gemeinsam mit Bündnis 90/ Grüne eingebrachte Antrag "Leitlinie" und "Haltung" sei. Darin ist von einem "Kriegsverbrechen und Völkermord" die Rede.

Was letztlich der entscheidende Faktor für diese Aussagen war, kann schwerlich beantwortet werden. Sicherlich spielte die Debatte um den Völkermord an den Armenierinnen und Armeniern eine nicht zu unterschätzende Rolle, um das Thema wieder in das Bewusstsein von Politikern und Journalisten zu holen. Zudem haben politischer und zivilgesellschaftlicher Druck - aus dem Globalen Süden und Norden - in den letzten Jahren in Form von Kampagnen, Veranstaltungen und Protest die Bundesregierung immer wieder zu leichten diskursiven Schritten vorwärts gedrängt. So sprach Berlin in jüngsten Äußerungen von einem "grausamen Kolonialkrieg". Jetzt wurde endlich das Kind beim Namen genannt. Viele Kommentare in den Medien haben die jüngsten Aussagen als Kehrtwende und Durchbruch begrüßt, zugleich aber auch überwiegend als längst überfällig kritisiert und eingefordert.

In dem Zusammenhang ist sicherlich auch die Äußerung von Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, interessant. In einem Interview sprach er sich für die Rückführung unrechtmäßig erworbener Gebeine aus Kolonialgebieten aus.


Reparationen als neue Gretchenfrage?

Mit den Äußerungen sind die Stimmen nicht verstummt, welche die juristische bzw. völkerrechtliche Dimension des Völkermordes diskutieren. Werden diese Meinungen oftmals sachlich ausgetauscht, tauchen insbesondere bei Fragen der Reparationen und Wiedergutmachung immer wieder Stereotype und Vorurteile auf, oftmals mittels Leserbriefen und Kommentaren zu Artikeln. Die Reparationsforderung enthülle solchen Äußerungen zufolge den einzig wahren Grund des Engagements der Opfergruppen - es gehe nämlich mehr um deutsches Geld und weniger um Moral oder Vergebung. Hier wird mit Klischees und Eurozentrismus gespielt und es werden Opferverbände entmündigt. Dem gilt es, aus den Reihen der Zivilgesellschaft gegenzuhalten.

Im gleichen (eurozentristischen) Atemzug wird vor "Tribalismus" gewarnt, der spaltend statt versöhnlich wirken würde. Ester Muinjangue, Vorsitzende der Ovaherero and Ovambanderu Genocide Foundation, sagte in Berlin bezugnehmend auf diese Kritiken: "Außerdem denken diese Stimmen nur an Geld. Wir sagen aber: Lasst uns zusammensitzen und diskutieren. In bestimmten namibischen Gegenden leben jeweilige namibische Ethnien, wie im Süden von Namibia die Nama. Dort könnte man eine Universität bauen oder Gesundheitszentren errichten. Denken die Kritiker etwa, dass diese nur für die Nama und nicht für alle Namibianer wären?"


Erst 30 von 100 Metern geschafft!

Zwar ist die Anerkennung des Völkermordes durch Bundestagspräsident Lammert und Außenminister Steinmeier zu begrüßen. Aber sie geht nicht weit genug. Eine formelle Entschuldigung durch den deutschen Bundestag gegenüber dem namibischen Staat und den Opfergruppen steht immer noch aus. Hier hält sich die deutsche Regierung weiterhin bedeckt und verweist auf laufende regierungsseitige Diskussionen. Zumindest die Aussage von Lammert kann ebenso wie die der damaligen Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Heidemarie Wieczorek-Zeul als Privatmeinung abgetan werden. Dass jedoch eine Entschuldigung nicht von einzelnen Politikern erwartet wird, das machten Vertreterinnen und Vertreter von Opferverbänden in der Vergangenheit mehrfach deutlich. Daher dürfte die angekündigte gemeinsame Erklärung nach Abschluss der namibisch-deutschen Gespräche interessant sein.

Die offizielle deutsche Seite hat bisher auch noch keine Stellung genommen zur geforderten Bestandsaufnahme aller Gebeine, die während der Kolonialzeit für rassistische Untersuchung nach Deutschland gesendet wurden und deren würdevolle Rückführung noch aussteht. Ebenso unklar ist die geforderte Einrichtung einer gemeinsamen Schulbuchkommission und die Darstellung des Völkermordes in Museen.

Daneben zeigte die Pressekonferenz deutlich: Ein Trialog unter Einbeziehung der namibischen Opferverbände liegt immer noch außerhalb der Vorstellungskraft der deutschen und namibischen Politikvertreter. Die oftmals erwähnte "gemeinsame Bewertung" und der "politische Dialogprozess" sollen allein auf Regierungsebene stattfinden. Diese Ausgrenzung der Opfergruppen würde die gewünschte Überwindung der spürbaren Folgen - die nicht nur wirtschaftlich und sozial, sondern auch politisch sind - ad absurdum führen. Alle Interessengruppen sollten sich an einen Tisch zu setzen und Themen wie (ideelle und finanzielle) Wiedergutmachung als moralische Verpflichtung besprechen.

Die nächsten Zeitpunkte zur Korrektur früherer Aussagen und die längst fällige Entschuldigung durch die Bundesregierung stehen bevor: Sowohl die Fraktion der Linken als auch die Fraktion Bündnis 90/die Grünen haben kürzlich Anträge in den Bundestag eingebracht. Durch die beiden Anfragen und durch das Datum des 2. Oktober 2015, dem 111. Jahrestag des ersten Vernichtungsbefehls, müsste spätestens eine Entschuldigung folgen - oder wird diese im nationalen Überschwang der 25-jährigen deutschen Einheitsfeier untergehen?


APPELL "VÖLKERMORD IST VÖLKERMORD!"

Der Appell wurde am 7. Juni 2015 gestartet. Mehr als 150 Erstunterzeichner - darunter die issa -, 50 weitere NRO und Initiativen sowie mehr als 2.500 Personen unterstützen den Appell bisher. Da zum 7. Juli 2015 die Forderungen nicht erfüllt wurden, hat sich das Bündnis "Völkermord verjährt nicht!" entschlossen, die Kampagne bis zum 2. Oktober 2015 fortzuführen.


Der Autor engagiert sich in dem Kampagnenbündnis "Völkermord verjährt nicht!"

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Quelle:
afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
44. Jahrgang, Nr. 4, Juli/August 2015, S. 8-9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2015

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