Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → FAKTEN


AUSSEN/607: Der Gipfel von Istanbul (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 29. Oktober 2018
german-foreign-policy.com

Der Gipfel von Istanbul


ISTANBUL/BERLIN (Eigener Bericht) - Die Bundesregierung hat den Syrien-Gipfel in Istanbul am Samstag genutzt, um sich mit ihrer Nah- und Mittelostpolitik gegen die Vereinigten Staaten in Stellung zu bringen. Das zeigt eine Passage der Gipfelerklärung, die verlangt, die "Souveränität" und die "territoriale Unversehrtheit" Syriens zu wahren. Die Realisierung dieser Forderung setzte voraus, dass Washington Truppen, die es in Syrien stationiert hat, umgehend abzieht. Die Trump-Administration hat das zur Zeit nicht vor. Gegen die US-Mittelostpolitik ist auch das scharfe Vorgehen Berlins gegen Riad gerichtet, das mit dem Mord an dem Exil-Oppositionellen Jamal Khashoggi begründet wird. Experten weisen darauf hin, dass beispielsweise die saudische Kriegführung im Jemen ein scharfes Vorgehen schon längst erfordert hätte. Tatsächlich bietet die heftige internationale Kritik am saudischen Kronprinzen in Reaktion auf den Mord an Khashoggi Berlin die Chance, den engen Schulterschluss des US-Präsidenten mit dem Kronprinzen zu attackieren und damit der US-Mittelostpolitik die Spitze zu nehmen.


Erstmals ohne die USA

Das Gipfeltreffen vom Samstag in Istanbul ist für Berlin in doppelter Hinsicht eine Premiere gewesen. Zum einen hat die Bundesregierung zum ersten Mal seit sechs Jahren eine herausragende Stellung in Verhandlungen zur Beendigung des Kriegs in Syrien eingenommen. Im Jahr 2012 hatte sie - in enger Zusammenarbeit insbesondere mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien - gemeinsam mit einer Gruppe syrischer Exiloppositioneller Pläne zur Umformung des syrischen Staates nach dem erhofften Sturz der Regierung von Bashar al Assad erarbeitet und sie im August 2012 sogar öffentlich vorstellen lassen.[1] Außerdem hatte sie - im Rahmen einer Staatengruppe mit dem Namen "Freunde Syriens" - weitere Vorbereitungen für die Gestaltung eines Post-Assad-Staates getroffen.[2] Beides ist wirkungslos verpufft. Stattdessen arbeiten die in Sachen Syrien heute entscheidenden äußeren Mächte - Russland, Iran, die Türkei - im Rahmen des "Astana-Formats" ohne westliche Beteiligung zusammen. Eines ihrer Hauptprobleme besteht darin, dass Syriens Wiederaufbau mehr Geld kosten wird, als sie aufbringen können; vor allem Russland ist deshalb darauf angewiesen, einzelne westliche Länder einzubinden.[3] Ausgewählt wurden für die Verhandlungen in Istanbul Deutschland und Frankreich. Neu ist für Berlin dabei nicht nur die exklusive Einflussposition, sondern zum zweiten auch, dass die Vereinigten Staaten nicht beteiligt sind. Die Bundesregierung hat also die Chance, sich in der Nah- und Mittelostpolitik weiter von den USA abzusetzen - zusätzlich zum transatlantischen Streit um die Iranpolitik.


Syriens territoriale Integrität

In Istanbul hat Berlin nun diese Chance zu nutzen versucht. Deutlich geworden ist dies unter anderem in zwei Passagen der Gipfelerklärung von Istanbul, die unmissverständlich fordern, die territoriale Integrität und die Souveränität Syriens zu wahren. In dem Dokument heißt es, die Präsidenten der Türkei, Russlands und Frankreichs sowie die Bundeskanzlerin "bekräftigten ihr nachdrückliches Bekenntnis zur Souveränität, Unabhängigkeit, Einheit und territorialen Unversehrtheit der Arabischen Republik Syrien".[4] Darüber hinaus "bekundeten" sie "ihre Entschlossenheit", sämtliche "separatistische[n] Pläne, die darauf abzielen, die Souveränität und territoriale Unversehrtheit Syriens sowie die nationale Sicherheit von Nachbarländern zu untergraben, abzulehnen". Die Festlegung richtet sich zunächst gegen kurdischsprachige Einheiten, denen es im Norden Syriens gelungen war, nicht nur den IS aufzuhalten, sondern auch inmitten des Krieges eine funktionierende Selbstverwaltung aufzubauen. Die Türkei beschuldigt sie, einen eigenen Staat gründen zu wollen, führt deshalb gegen sie Krieg und hat dabei selbst Teile Syriens besetzt.[5] Die Festlegung des Istanbuler Gipfels hat Ankara prompt zum Freibrief genommen, "Separatisten" zu bekämpfen, und gestern Angriffe auf kurdischsprachige Einheiten gestartet.


Syriens Souveränität

Allerdings richtet sich die Forderung der Gipfelerklärung, die "Souveränität" und die "territoriale Unversehrtheit" Syriens zu wahren, nicht nur gegen die kurdischsprachigen Einheiten im Norden des Landes. Sie betrifft auch US-Truppen, die - unter dem Vorwand, gegen den IS Krieg führen zu müssen - auf syrischem Territorium stationiert sind. US-Regierungsmitarbeiter wurden erst kürzlich wieder mit der Aussage zitiert, die Truppen würden dort bleiben, bis iranische Einheiten Syrien verlassen hätten; Washington werde sich nicht aus Syrien zurückziehen, "bis wir eine Sicherheitslage haben, die unserem Bedarf und dem Bedarf unserer Verbündeten entspricht".[6] Dies läuft auf eine langfristige Präsenz von US-Truppen in Syrien hinaus, der nun allerdings die von Berlin mitformulierte Gipfelerklärung aus Istanbul widerspricht.


Sechseinhalb Jahre später

In anderer Hinsicht hat Berlin in Istanbul konsequent westliche Positionen vertreten. Das bezieht sich auf das Bestreben, Bashar al Assad aus dem Präsidentenamt zu entfernen. Dieses Ziel soll nun, nachdem es per Aufstand nicht erreicht wurde, mit Hilfe von Wahlen umgesetzt werden, an denen, wie es in der Gipfelerklärung vom Samstag heißt, "alle wahlberechtigten Syrer - auch die Syrer in der Diaspora - teilnehmen dürfen".[7] Bis dahin soll ein möglichst bald einzusetzendes Verfassungskomitte alles Notwendige für den Übergang in ein befriedetes Syrien klären. Der Abgleich aller bedeutenden Interessen, der in den Verhandlungen darüber nötig wird, wäre wohl schon Anfang 2012 möglich gewesen. Wie der ehemalige finnische Präsident Martti Ahtisaari berichtet hat, erklärte im Februar 2012 der damalige Botschafter Russlands bei der UNO, Witali Tschurkin, Moskau sei bereit, "einen eleganten Weg für Assad zum Rückzug zu finden", wenn dafür die weitere Bewaffnung der syrischen Opposition unterbleibe. Ahtisaari übermittelte den Vorschlag den UN-Botschaftern der USA, Großbritanniens und Frankreichs - ohne Erfolg: Die westlichen Mächte seien "überzeugt" gewesen, Assad werde "in wenigen Wochen" ohnehin gestürzt; sie hätten es nicht für nötig gehalten, sich auf den Abgleich einzulassen.[8] Hätten sie dies damals getan, dann hätte die Eskalation des Krieges in Syrien wohl verhindert werden können. Jetzt ist der Abgleich womöglich unumgänglich.


Der Mord an Khashoggi

Während die Positionen der Istanbuler Gipfelerklärung, die Berlin mitverantwortet, teilweise US-Interessen offen zuwiderlaufen, nutzt die Bundesregierung nun auch den Skandal um den Mord an dem saudischen Exil-Oppositionellen Jamal Khashoggi, um die Mittelostpolitik der Trump-Administration zu schwächen. US-Präsident Trump hatte dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman im gemeinsamen Kampf gegen Iran weitestsgehend freie Hand gelassen. Berlin hatte zwar versucht, das Atomabkommen mit Teheran gegen Washingtons Sanktionspolitik zu retten, sich aber auch bemüht, die zwischenzeitlich beschädigten Beziehungen zu Riad wieder zu glätten, um lukrative Geschäfte und Einfluss beim saudischen Herrscherclan nicht zu verlieren (german-foreign-policy.com berichtete [9]). Der Mord an Khashoggi hat die Lage insofern geändert, als Trumps überaus enger Schulterschluss mit Mohammed bin Salman international scharf attackiert wird; dies bietet der Bundesregierung die Chance, in dieselbe Kerbe zu schlagen, um den Kronprinzen zu beschädigen, Washingtons Mittelostpolitik damit die Spitze zu nehmen und zugleich die eigene Position zu stärken. So erklärt sich, weshalb die Bundesregierung erst jetzt offen gegen Riad Position bezieht, zuvor aber noch, wie der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Volker Perthes, bestätigt, die Kriegführung Saudi-Arabiens im Jemen "weitgehend toleriert" hat, obwohl diese "die größte humanitäre Katastrophe" der Gegenwart ausgelöst hat.[10]


"Kaltgestellt oder ersetzt"

Perthes resümiert, es gebe Staaten in Nah- und Mittelost "und darüber hinaus, die sicherlich hoffen, dass die derzeitige Krise, in die der Mord Saudi-Arabien befördert hat, ... dazu führen wird, dass der Kronprinz kaltgestellt oder vielleicht ersetzt wird".[11] Geschähe dies, dann hätte Berlin gegenüber der US-Mittelostpolitik einen machtpolitisch wichtigen Erfolg erzielt.


Anmerkungen:

[1] S. dazu The Day After
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/5663/
und The Day After (III).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/5691/

[2] S. dazu Marktwirtschaft für Syrien.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/5599/

[3] S. dazu Wiederaufbau in Syrien (II)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7693/
und Wiederaufbau in Syrien (III).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/?L=0&tx_news_pi1%5Bnews%5D=7701&cHash=5e48518ac7c8505922a8303e6102328e

[4] Gemeinsame Erklärung der Präsidenten der Republik Türkei, der Französischen Republik, der Russischen Föderation und der Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Istanbul, 27.10.2018.

[5] S. dazu Ankaras Krieg
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7538/
und Ankaras Krieg (II).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7568/

[6] Missy Ryan: Tiny U.S. base assumes outsize role in Trump's Syria strategy. washingtonpost.com 22.10.2018.

[7] Gemeinsame Erklärung der Präsidenten der Republik Türkei, der Französischen Republik, der Russischen Föderation und der Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Istanbul, 27.10.2018.

[8] S. dazu Zynische Optionen.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/6764/

[9] S. dazu Man schießt deutsch (II).
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7740/

[10], [11] Perthes: Fall Khashoggi ist zum Wendepunkt geworden. deutschlandfunk.de 24.10.2018.

*

Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Oktober 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang