Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 17. November 2023
german-foreign-policy.com
Erdoğan in Berlin
Scholz empfängt Erdoğan in Berlin. Hauptthema: der Flüchtlingsabwehrpakt. Keine Rolle spielen die türkische Okkupation kurdischer Gebiete in Nordsyrien sowie Massenvertreibung und Drohnenmorde dort.
BERLIN/ANKARA - Beim heutigen Besuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Berlin werden die jahrelange Okkupation von Teilen Nordsyriens, die Vertreibung hunderttausender Kurden und die jüngste Zerstörung ziviler Infrastruktur in den kurdisch-syrischen Gebieten durch die Streitkräfte der Türkei keine Rolle spielen. Wie Regierungskreise bestätigen, steht beim Gespräch von Bundeskanzler Olaf Scholz mit Erdoğan am heutigen Freitag vor allem der Flüchtlingsabwehrpakt mit der Türkei auf dem Programm. Zudem will Scholz Erdoğan auf seine Äußerung ansprechen, die Hamas sei eine "Befreiungsorganisation". Keine Rede war bislang von der türkischen Invasion nach Nordsyrien, die bereits im August 2016 startete und zur Besetzung großer Territorien wie auch zur faktischen Unterstellung einiger von ihnen unter türkische Verwaltung geführt hat. Experten warfen Ankara schon vor Jahren die "Türkisierung" der okkupierten Gebiete in Nordsyrien vor. Zudem führt das NATO-Mitglied Türkei seit Jahren einen Drohnenkrieg gegen die kurdischsprachigen Syrer, bei dem immer mehr Zivilisten getötet werden. Zuletzt haben die türkischen Streitkräfte große Teile der Energie- und Wasserversorgung zerstört.
Die Türkei ist bereits vor mehr als sieben Jahren dazu übergegangen, syrisches Territorium völkerrechtswidrig zu besetzen und dabei vor allem gegen die kurdischsprachige Minderheit mit brutaler Gewalt vorzugehen. Zunächst okkupierten die türkischen Streitkräfte im Rahmen ihrer Operation Euphrates Shield (August 2016 bis März 2017) weite Gebiete westlich des Euphrats von Jarabulus über Al Bab bis nach Azaz. Hintergrund war das Bestreben, die kurdischsprachige Minderheit aus der Region abzudrängen und jede Verbindung zwischen den großen kurdischsprachigen Gebieten im Nordwesten (Afrîn) sowie im Nordosten Syriens (Hasakah) unmöglich zu machen.[1] Ankara begann umgehend, in dem besetzten Territorium ein Kontrollregime zu errichten, das sich auf örtliche Amtsträger stützte, aber praktisch von türkischen Stellen überwacht wurde. Wiederaufbaumaßnahmen wurden von türkischen Unternehmen umgesetzt; die Versorgung mit Waren erfolgte aus der Türkei, was türkischen Firmen einen neuen Absatzmarkt eröffnete. Zunehmend wurde in türkischer Lira bezahlt. Die türkische Sprache wurde konsequent gefördert und in den Schulen des Gebiets gelehrt. Die niederländische Denkfabrik Clingendael Institute sprach bereits im Juni 2019 von einer gezielten "Türkisierung" der Region.[2]
In einem zweiten Schritt besetzten türkische Truppen im Rahmen ihrer Operation Olive Branch (Januar bis März 2018) das Gebiet Afrîn im Nordwesten Syriens. Ziel war es, die dort in den Jahren zuvor erfolgreich errichteten kurdischen Verwaltungsstrukturen und kurdische Organisationen insgesamt zu zerschlagen. Laut einer Studie, die 2019 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz publiziert wurde, lebten in Afrîn im Jahr 2012 mehr als 520.000 Menschen, darunter, bedingt durch den Krieg in Syrien, 150.000 Flüchtlinge und mindestens 350.000 Kurden.[3] Bei der türkischen Invasion kamen laut Angaben kurdischer Medien mindestens 500 Zivilisten sowie 820 Kämpfer der Syrian Democratic Forces (SDF) zu Tode, die das Gebiet gegen die türkischen Streitkräfte zu verteidigen suchten.[4] Bis Mitte 2019 waren bereits mindestens 150.000 kurdische Einwohner des Gebiets vertrieben worden; 2022 lebten allenfalls noch 25 Prozent der kurdischen Einwohner in der Region, zumeist ältere Personen.[5] Die türkischen Besatzer hatten schon 2018 begonnen, arabischsprachige Syrer nach Afrîn zu holen, kurdischen Besitz systematisch zu enteignen und ihn arabischsprachigen Syrern zu übertragen. Bereits im Mai 2019 hatten sie dort beinahe 90.000 arabische Syrer angesiedelt.[6] Kritiker sprachen von einer "ethnischen Säuberung".
In einem dritten Schritt folgte schließlich im Rahmen der Operation Peace Spring die Besetzung eines weiteren Landstreifens südlich der türkisch-syrischen Grenze von Tal Abyad bis Ras al Ayn (Oktober bis November 2019). Erneut kamen Hunderte zu Tode; Zehntausende mussten fliehen. Ankara hat in den folgenden Monaten und Jahren immer wieder Angriffe auf kurdische Ziele in Nordsyrien durchgeführt, insbesondere auf Truppen wie die YPG/J ("Volksverteidigungseinheiten"), die eine bedeutende Rolle im Krieg gegen die Jihadisten des IS gespielt haben, aber auch auf politische bzw. zivile Ziele. Seit 2020 wird immer häufiger von türkischen Drohnenangriffen berichtet, die in wachsendem Maß auch zivile Todesopfer fordern. Die Angriffe nahmen Berichten zufolge im vergangenen Jahr zu, nachdem die Vereinigten Staaten und Russland eine vierte türkische Bodenoffensive sowie die Okkupation weiterer Territorien in Nordsyrien verhindert hatten.[7] Im August vergangenen Jahres etwa kamen bei 14 Angriffen türkischer Drohnen 19 Angehörige kurdischer Truppenund zehn Zivilisten ums Leben. Zu den Zielen gehörte unter anderem eine Schule, in der Jugendliche, die gegen den IS gekämpft hatten, wieder ins zivile Leben eingegliedert wurden. Dort kamen bei einem Drohnenangriff am 18. August 2022 fünf junge Kurden ums Leben.[8]
Die jüngste umfassende Angriffswelle hat Ankara am 4. Oktober gestartet. Offizieller Auslöser war ein Anschlag in der Nähe des türkischen Innenministeriums am 1. Oktober, bei dem die beiden Attentäter ums Leben kamen und zwei Beamte verletzt wurden. Zu dem Anschlag hat sich die PKK bekannt. Während die türkische Regierung behauptet, hinter dem Attentat steckten kurdische Strukturen in Syrien, weisen deren Vertreter dies strikt zurück. Bei türkischen Angriffen auf syrisches Territorium sind inzwischen Dutzende Kurden getötet worden, darunter zahlreiche Zivilisten, auch Kinder.[9] Zudem wurde die zivile Infrastruktur schwer beschädigt, darunter Kraftwerke, Erdöllager, Stromnetze und Trinkwasserquellen; auch Schulen wurden zerstört. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen bestätigen, dass die gesamte Region schwer getroffen wurde; dort leben mindestens 800.000 Menschen. Wie das gesamte Vorgehen der türkischen Streitkräfte auf syrischem Territorium seit 2016 sind die Bombardements völkerrechtswidrig; besonders für die Angriffe auf zivile Ziele gibt es keinerlei Rechtfertigung im internationalen Recht.
Keine Rolle spielen werden die Okkupation syrischen Territoriums, die Vertreibung hunderttausender kurdischsprachiger Syrer, die zahllosen Drohnenmorde und die Zerstörung ziviler Infrastruktur durch die türkischen Streitkräfte, soweit bekannt, bei dem Gespräch, das Bundeskanzler Olaf Scholz am heutigen Freitag mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan führen wird. Scholz wird mit Erdoğan nach Angaben aus Regierungskreisen vor allem über den Flüchtlingsabwehrpakt mit der Türkei sprechen; Berlin hat ein massives Interesse daran, bei der Abwehr von Kriegsflüchtlingen - möglicherweise auch syrisch-kurdischer - weiterhin eng mit Ankara zu kooperieren. Zudem heißt es, Scholz wolle den türkischen Präsidenten auf seine Äußerungen zu Israels Krieg gegen die Hamas ansprechen. Erdoğan hat Israel wegen der Angriffe auf Zivilisten und auf zivile Infrastruktur scharf kritisiert und die Hamas eine "Befreiungsorganisation" genannt.[10]
[1] Turkey deploys more tanks in Syria, warns Kurdish YPG. aljazeera.com 25.08.2016.
[2] Erwin van Veen, Jan van Leeuwen: Turkey in northwestern Syria. Rebuilding empire at the margins. Clingendael: CRU Policy Brief. Den Haag, June 2019.
[3] Khayrallah al-Hilu: Afrin Under Turkish Control: Political, Economic and Social Transformations. European University Institute Research Project Report 2019/10. San Domenico di Fiesole, 25.07.2019.
[4] Afrin administration: The war has moved to another stage. anfenglishmobile.com 18.03.2018.
[5] Afrin - vier Jahre türkische Besatzung. navend.de 17.03.2022.
[6] Khayrallah al-Hilu: Afrin Under Turkish Control: Political, Economic and Social Transformations. European University Institute Research Project Report 2019/10. San Domenico di Fiesole, 25.07.2019.
[7] Hélène Sallon: La guerre à bas bruit de la Turquie contre le Kurdistan syrien. lemonde.fr 25.09.2022.
[8] Hélène Sallon: Au Kurdistan syrien, la guerre des drones turcs. lemonde.fr 04.10.2023.
[9] Amberin Zaman: Syrian Kurds accuse Turkey of war crimes as Erdogan vows escalation. al-monitor.com 11.10.2023.
[10] Scholz will Erdogan in Berlin auf dessen Israel-Äußerungen ansprechen. tagesschau.de 16.11.2023.
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Quelle:
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 17. November 2023
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