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BERICHT/012: Bürgervertrauen ist parteiisch (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 124/Juni 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Bürgervertrauen ist parteiisch
Von einer Krise der Repräsentation kann in Deutschland keine Rede sein

Von Bernhard Weßels


Es wird viel gewählt in diesem Jahr: Kommunalwahlen in acht Bundesländern, Landtagswahlen in Hessen, Brandenburg, dem Saarland, Sachsen und Thüringen, Europawahlen im Juni und Bundestagswahlen im September. Dennoch ist es kein gutes Jahr für Politiker. Laut dem Allensbacher Institut für Demoskopie ist das Politikerimage 2009 so schlecht wie noch nie. Anlass genug zu fragen, wie es um Wahlen, Parteien, Politiker und vor allem um politische Repräsentation in Deutschland steht.

Demokratie, wie wir sie in modernen Massengesellschaften kennen, ist ja nicht die unmittelbare Demokratie Athens, sondern eine repräsentative Demokratie. Wahlen dienen dazu, diejenigen auszuwählen, die regieren und allgemeinverbindliche Entscheidungen für alle treffen. Politiker, die in Ämter gewählt werden, sollen Entscheidungen zum besten Wohl der Bürger fällen, sie sollen den Volkswillen repräsentieren - so lautet die normative Grundvorstellung von Demokratie. Wahlen dienen gleichzeitig dazu, eine Richtungsauswahl für die künftige Politik und über das politische Personal zu treffen. Dazu bieten die politischen Parteien mit ihren Wahlprogrammen und ihrer Kandidatenauswahl entsprechende Angebote an.

Die politischen Parteien entscheiden in Deutschland wie in anderen Parteiendemokratien darüber, wer für die politischen Ämter kandidieren darf, wie die Kandidierenden auf den Listen platziert werden und wer als Spitzenkandidatin oder Spitzenkandidat für die jeweilige Partei antritt. Die Bürger entscheiden also nicht direkt über das politische Personal; eine direkte Wahl von Personen bei Bundestagswahlen ist nur mit der Erststimme für die Wahlkreiskandidaten möglich. Welche Personen allerdings im Wahlkreis kandidieren, ist eine Entscheidung der Parteien.

Politische Repräsentation in Parteiendemokratien ist damit vor allem kollektive Repräsentation. Die Wähler geben ihre Stimme einer Partei entsprechend ihrer Präferenzen für Programm und Personal, die Parteien binden mit ihrer Macht zur Kandidatenaufstellung ihr Personal an den Parteiwillen. Da Parteien selbst nicht unmittelbar, sondern nur mittels ihres Personals handeln können, hat Repräsentation damit eine doppelte Struktur. Die Parteien verkörpern die Gesamtverantwortung für den politischen Kurs, die Personen stehen für die politische Umsetzung in den Parteien, im Bundestag und in der Bundesregierung. Sie handeln, sind unmittelbar sichtbar für die Wähler, egal, ob sie die Partei verkörpern, den Bundestag oder die Bundesregierung.

Aus dieser Perspektive ist es bedenklich, dass das Image der Politiker aktuell so schlecht ausfällt. Die Diskussionen um Politik-, Parteien- und Politikerverdrossenheit werden aber nicht nur durch dieses schlechte Image immer wieder befeuert, sondern auch durch die Tatsache, dass Bürger weder den Politikern noch den Parteien noch dem Bundestag und der Bundesregierung in besonderem Maße vertrauen. Vertrauen in Personen und Institutionen bedeutet, dass ein Vorschuss auf die Zukunft gegeben wird. Bürger gehen davon aus, dass die Politiker und Institutionen ihre Aufgaben auch in der Zukunft zufriedenstellend bewältigen werden. Die Wahlentscheidung ist ein vertrauensbehafteter Vorgang. Der Wähler wählt eine Partei oder mit der Erststimme eine Person, weil sie retrospektiv betrachtet das Richtige oder zumindest nichts gänzlich Falsches getan hat und prospektiv die Erwartung besteht, dass diese Art des Handelns fortgesetzt wird. Das ist im soziologischen Sinne ein Vorschuss auf die Zukunft, der ohne Vertrauen nicht zu gewähren wäre.

Die Umfragewerte zum Vertrauen scheinen auf ein katastrophales Verhältnis der Wähler zu Parteien und Politikern hinzuweisen. Nach Zahlen des Instituts TNS Emnid hatten 2005 nur 17 Prozent der Bürger Vertrauen in die politischen Parteien, 34 Prozent in den Deutschen Bundestag und lediglich 26 Prozent in die Bundesregierung. Nach Zahlen von Infratest dimap hatte sich 2007 die Situation zwar für den Bundestag (37 Prozent Vertrauen) und die Bundesregierung (36 Prozent) etwas verbessert, nicht aber für die Parteien. Im Frühjahr 2009 sah die Situation nach Zahlen von Infratest dimap auch für die Parteien besser aus (23 Prozent Vertrauen), und in den Bundestag und die Bundesregierung vertrauten nunmehr 48 bzw. 45 Prozent. Gegenüber 2005 sind das zwar deutliche Verbesserungen, aber das Niveau wird von den Sozialwissenschaften dennoch nicht als befriedigend angesehen, insbesondere nicht vor dem Hintergrund, dass andere Institutionen sehr wohl ein gutes Image haben: Über drei Viertel der Bürger vertrauen dem Verfassungsgericht.

Bedeutet das nun eine Krise der Repräsentation oder gar eine Krise der Demokratie, wie nicht selten von der wissenschaftlichen Publizistik und auch der Politikwissenschaft diagnostiziert wird? Zwei WZB-Nachwahlstudien zu den Bundestagswahlen 2002 und 2005 geben hier Aufschluss und erlauben einen Vergleich mit mehreren europäischen Ländern. Antworten auf zwei Fragen sollen hier näher betrachtet werden. Zu den Parteien wurden die Bürger gefragt: "Sind Sie der Meinung, dass irgendeine der Parteien in Deutschland Ihre persönlichen politischen Ansichten gut vertritt?" Die Frage über die Spitzenkandidaten lautete: "Und unabhängig davon, wie Sie die Parteien einschätzen, sind Sie der Ansicht, dass irgendeiner der Spitzenkandidaten, die bei den Bundestagswahlen am xx.xx.xxxx angetreten sind, Ihre politischen Ansichten gut vertritt?" Geantwortet werden konnte mit "ja", "nein" oder "weiß nicht".


Repräsentation durch Parteien und Spitzenkandidaten in 
 Deutschland nach den Bundestagswahlen 2002 und 2005
Prozent der Befragten sehen sich
präsentiert durch ...
2002

2005

eine Partei
eine/n Spitzen-Kandidatin/en
Partei und Kandidatin/en
Repräsentierte insgesamt
58
60
46
73
58
62
47
72

Quelle: Nachwahlstudien des WZB zu den Bundestagswahlen 2002 und 2005; eigene Berechnungen


Die Verteilung der Antworten fällt im Vergleich der beiden Bundestagswahlen 2002 und 2005 nahezu identisch aus (siehe Grafik). Die großen Veränderungen, die sich in der Vertrauensfrage feststellen lassen, sind hier nicht zu vermerken. Erstes Ergebnis ist damit, dass die Auffassung der Bürger in Bezug darauf, ob sie durch Parteien oder Spitzenkandidaten repräsentiert werden, sich weder positiv noch negativ verändert hat, sondern stabil ist. Zweitens sehen sich etwa genauso viele Bürger von den Parteien wie von ihren Spitzenkandidaten vertreten: jeweils um die 60 Prozent aller Befragten. Der Anteil derjenigen, die sich sowohl durch eine Partei als auch durch eine Person vertreten sehen, liegt bei etwas weniger als der Hälfte der Bürger. Nicht in jedem Fall gelingt es den Parteien also, Spitzenkandidaten aufzustellen, von denen sich diejenigen ebenfalls vertreten sehen, die sich bereits durch die Partei repräsentiert fühlen. Umgekehrt stellen Parteien Spitzenkandidaten auf, von denen sich mehr Bürger vertreten sehen als von der Partei. Ein repräsentierendes Tandem aus Partei und Person aufzustellen gelingt also nicht immer.

Es fällt auf, dass diese Zahlen über das Gefühl, gut vertreten zu sein, sehr viel höher sind als die Werte für das Vertrauen in die Parteien, in den Bundestag und in die Bundesregierung. Der Unterschied ist noch größer, wenn die Summe derjenigen betrachtet wird, die sich mindestens auf eine Weise vertreten sehen: Fast drei Viertel der Wähler gehen davon aus, dass eine Partei oder eine Person die persönlichen politischen Ansichten gut vertritt.

Dieses Ergebnis steht in deutlichem Kontrast zum Vertrauen, das den Parteien entgegengebracht wird. Ein Blick in andere Länder Europas zeigt, dass Deutschland mit einem Anteil von knapp drei Vierteln der Bürger, die sich durch eine Partei oder eine Person in der Politik vertreten fühlen, etwas unter dem Durchschnitt liegt. Nur in vier der betrachteten Länder sehen sich mehr als 90 Prozent der Bürger durch Parteien oder Personen repräsentiert: in Dänemark, der Schweiz, Irland und Ungarn. Unter den deutschen Bürgern fühlen sich mehr repräsentiert als beispielsweise in Portugal, Polen oder Italien. Kein echter Grund zur Beunruhigung, wohl aber auch kein Grund für volle Zufriedenheit. Was aber deutlich wird: Von einer Krise der Repräsentation kann in Deutschland nicht gesprochen werden.

Wie nun sind die stark im Kontrast zum Vertrauen in die politischen Parteien stehenden Ergebnisse zu interpretieren? Hoffen die Wähler trotz mangelnden Vertrauens darauf, vom politischen Personal gut vertreten zu werden? Wohl kaum. Eine mögliche Erklärung wäre, dass die Parteien wie auch der Bundestag oder die Bundesregierung weniger als Institutionen denn als Akteure angesehen werden. Sie sind - anders als beispielsweise das Bundesverfassungsgericht - nicht unparteiisch. Im Bundestag streiten Regierung und Opposition um die richtige Politik, außerhalb des Bundestages die Parteien. Parteilichkeit ist hier nicht negativ, sondern gewünscht - sonst gäbe es keine politischen Alternativen, zwischen denen die Wähler entscheiden können. Es ist aufgrund der Parteilichkeit von Parteien durchaus vernünftig, wenn ein allgemeines Urteil über die Parteien ihnen nicht insgesamt das Vertrauen ausspricht, sondern der "eigenen" Partei und nicht den politischen Konkurrenten. Freier politischer Wettbewerb und politischer Konflikt sind gerade die Bestandteile, die für eine Demokratie zentral sind. Warum also allen Parteien vertrauen, wenn sie nicht die eigenen Interessen vertreten? Warum einer Regierung als Akteur vertrauen, die man nicht gewählt hat? Warum dem Akteur Bundestag vertrauen, der eine Versammlung von Parteien ist? Diese Fragen sind provokant, könnten aber darauf hinweisen, warum insbesondere den politischen Parteien insgesamt nicht besonders viel Vertrauen geschenkt wird. Dann wäre das geringe Vertrauen in die Parteien im Grundsatz ein Kennzeichen von Unterscheidbarkeit und politischer Differenz zwischen den Parteien, was wiederum ein gutes Zeichen für die Demokratie und politische Repräsentation wäre.

Dass dies der Hintergrund für das geringe Vertrauen in die politischen Parteien sein könnte, lässt sich an den "Sympathie-Skalometern" für die politischen Parteien ablesen. Befragte werden dabei gebeten, auf einer 11er-Skala anzugeben, ob sie eine Partei gar nicht (1) oder sehr (11) mögen. Im internationalen Vergleich über alle an der CSES-Studie beteiligten Länder hinweg zeigt sich, dass diejenigen, die eine Partei sympathisch finden (mindestens der Wert 8), im Durchschnitt 1,9 Parteien nennen, die sie nicht mögen oder die ihnen unsympathisch sind (Werte 1 - 4). Dabei geht es nur um die sechs relevantesten Parteien, also nicht um Splitterparteien. Die Ergebnisse der WZB-Nachwahlstudie zur Bundestagswahl 2005 ergeben unter denjenigen, die eine Partei sympathisch finden, einen Wert von 2,8 Parteien, die als unsympathisch eingestuft werden. Selbst im Durchschnitt aller Wähler liegt der Wert mit 2,3 Parteien über dem des internationalen Durchschnitts. Diese Ergebnisse verweisen darauf, dass es so etwas wie politische Gegnerschaft in den Wahrnehmungen der Bürger gibt, insbesondere bei denjenigen, die eine Partei für sich als sympathisch ansehen.

Es ist wahrscheinlich, dass Parteien, die von Wählerinnen und Wählern anderer Parteien nicht gemocht werden, von diesen auch nicht das Vertrauen ausgesprochen wird. Repräsentation ist parteiisch, Vertrauen auch - zumindest im politischen Wettbewerb. Festzuhalten bleibt, dass trotz des geringen Vertrauens in politische Parteien und die Regierung Deutschland hinsichtlich der Vertretung der Bürger durch Parteien und Politiker im internationalen Vergleich nicht schlecht dasteht. Eine Krise der Repräsentation ist aus der Perspektive der Bürger nicht auszumachen und das mangelnde Vertrauen vermutlich ein Ergebnis von Parteilichkeit.


Bernhard Weßels, geboren 1955 in Berlin, Studium der Soziologie, Volkswirtschaftslehre, Statistik und Politikwissenschaft an der FU Berlin, Dipl.-Soz., Dr. phil., Privatdozent. 1982-1989 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der FU Berlin, seit 1989 wissenschaftlicher Angestellter am WZB. Seit 1998 Mitglied des Planning Committee der Comparative Study of Electoral Systems (CSES). Außerdem Mitglied des Präsidiums der Deutschen Gesellschaft für Wahlforschung, Principal Investigator der German Longitudinal Election Study 2009-2017 sowie Project Director für den European Election Candidate Survey der PIREDEU - European Election Study.
wessels@wzb.eu


Kurz gefasst

Das Vertrauen in Regierung, Parlament und insbesondere in die politischen Parteien war in Deutschland zuletzt sehr schwach. In öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten wird dies häufig als Zeichen einer Krise der Repräsentation oder gar als Krise der Demokratie angesehen. Vergleichende Auswertungen von Nachwahlbefragungen zeigen jedoch, dass die Demokratie in Deutschland - die alles andere als perfekt ist - keineswegs in einer Krise der Repräsentation steckt. Eine wahrscheinliche Erklärung der fehlenden Übereinstimmung zwischen Vertrauen und Repräsentation: Das Gefühl, gut vertreten zu werden, ist ebenso "parteiisch" wie das Vertrauen in Politik.


Literatur

Bernhard Weßels, "Parteien und Kanzlerkandidaten bei den Bundestagswahlen 2002 und 2005 - Was, wenn sie zueinander passen, was, wenn nicht?", in: Oscar W. Gabriel, Bernhard Weßels, Jürgen W. Falter (Hg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2005, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 356-377


Die Daten der WZB-Nachwahlstudie wurden im Rahmen der Comparative Study of Electoral Systems (CSES) erhoben, einem weltweiten Verbund nationaler Wahlstudien. Teams aus mehr als 40 angeschlossenen Ländern setzen ein gemeinsames Fragenprogramm in ihren Nachwahlstudien um, allesamt repräsentative Befragungen der wahlberechtigten Bevölkerung. An der CSES ist das WZB seit 1998 beteiligt, die Fragenprogramme variieren. 2002 und 2005 war politische Repräsentation einer der Schwerpunkte. Die beiden Nachwahlstudien zu den Bundestagswahlen 2002 (gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft) und 2005 (in Kooperation mit der WZB-Abteilung "Ungleichheit und soziale Integration") enthalten auch das Fragenprogramm von CSES.


Wahlforschung am WZB: ein neues Großprojekt

Das WZB hat den Zuschlag für die Mitarbeit am bisher umfassendsten Projekt der deutschen Wahlforschung erhalten: Mit der German Longitudinal Election Study 2009-2017 (GLES) sollen das Wählerverhalten sowie der politisch-gesellschaftliche Kontext, in dem Wahlentscheidungen getroffen werden, untersucht werden. Mit Blick auf die nächsten drei Bundestagswahlen (2009, 2013, 2017) wird die Wahlstudie beobachten und analysieren, wie die mobile Wählerschaft auf neue Konstellationen der auf Wahlen ausgerichteten Politik reagiert. Das Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Beteiligt sind neben dem WZB das Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften (GESIS), die Universität Frankfurt a.M. und die Universität Mannheim. Das WZB ist für zwei Studienkomponenten verantwortlich: die Nachwahlstudie und die Kandidatenstudie. Bei der Nachwahlstudie geht es insbesondere um die Frage, inwieweit sich traditionelle "Wählermärkte" aufgelöst und neue Typen von Wählern entwickelt haben. Die Kandidatenstudie ist komplementär zur Wählerbefragung angelegt und vergleicht Politikziele von Wählern, Kandidaten und Gewählten.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 124, Juni 2009, Seite 9 - 12
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2009